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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 17.05.1990
Aktenzeichen: C-87/89
Rechtsgebiete: EWGV


Vorschriften:

EWGV Art. 169
EWGV Art. 173
EWGV Art. 173 Abs. 2
EWGV Art. 178
EWGV Art. 215 Abs. 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die Nichtigkeitsklage gegen eine Entscheidung der Kommission, kein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, ist unzulässig. Aus Sinn und Zweck des Artikels 169 EWG-Vertrag ergibt sich, daß die Kommission nicht verpflichtet ist, ein Verfahren nach dieser Vorschrift einzuleiten, sondern daß sie insoweit über ein Ermessen verfügt, das ein Recht einzelner, von ihr eine Stellungnahme in einem bestimmten Sinn zu verlangen, und eine Nichtigkeitsklage gegen ihre Weigerung zu handeln ausschließt.

2. Die Nichtigkeitsklage einer natürlichen oder juristischen Person gegen die Weigerung der Kommission, die Höhe der gewährten Beihilfe innerhalb der gemeinsamen Agrarmarktorganisation nachträglich zu berichtigen, ist unzulässig, denn die geforderte nachträgliche Berichtigung hätte in Form einer Verordnung mit allgemeiner Geltung erfolgen müssen, die objektiv alle Wirtschaftsteilnehmer der Gemeinschaft nur in ihrer Eigenschaft als Erzeuger beträfe, die unter diese Beihilferegelung fallen.

3. Die Schadensersatzklage nach den Artikeln 178 und 215 Absatz 2 EWG-Vertrag ist als selbständiger Rechtsbehelf mit eigener Funktion innerhalb des Klagesystems geschaffen worden; sie unterliegt ihren eigenen, ihrem Zweck entsprechenden Zulässigkeitsvoraussetzungen. Sie unterscheidet sich insbesondere von der Nichtigkeitsklage dadurch, daß sie nicht auf Aufhebung einer bestimmten Maßnahme gerichtet ist, sondern auf den Ersatz des von einem Gemeinschaftsorgan verursachten Schadens. Ein Schadensersatzantrag, der auf einem angeblich rechtswidrigen Verhalten eines Organs in Ausübung seiner Rechtsetzungsbefugnisse beruht, ist im Rahmen dieser Klageart zu untersuchen; ist er begründet, muß ihm stattgegeben werden, unabhängig von der Frage, ob der Schaden durch eine Änderung der streitigen Verordnung beseitigt werden könnte.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 17. MAI 1990. - SOCIETE NATIONALE INTERPROFESSIONNELLE DE LA TOMATE (SONITO) UND ANDERE GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - LANDWIRTSCHAFT - BEIHILFE ZUR VERARBEITUNG VON TOMATEN - BESCHWERDE WEGEN BETRUEGEREIEN - NICHTIGKEITSKLAGE UND SCHADENSERSATZKLAGE. - RECHTSSACHE C-87/89.

Entscheidungsgründe:

1 Die Société nationale interprofessionnelle de la tomate ( nachstehend : Sonito ) und 17 ihrer Mitgliedsunternehmen haben mit Klageschrift, die am 16. März 1989 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, Klage erhoben, mit der sie einerseits gemäß Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag die Aufhebung der ihnen am 17. Januar 1989 mitgeteilten Entscheidung der Kommission, mit der diese das Verfahren über eine Beschwerde der Klägerinnen eingestellt hatte, und andererseits gemäß den Artikeln 178 und 215 Absatz 2 EWG-Vertrag Schadensersatz wegen ausservertraglicher Haftung der Gemeinschaft beantragen.

2 In einer Beschwerde vom 17. Oktober 1986 wies die Sonito die Kommission auf betrügerische Handlungen hin, die im Rahmen der Verarbeitungsbeihilferegelung für Tomaten von Verarbeitern in Griechenland und Italien begangen worden seien. Die von diesen beiden Mitgliedstaaten für die Wirtschaftsjahre 1983/84, 1984/85 und 1985/86 gemachten Angaben über die Verarbeitung seien viel zu hoch gewesen, wodurch den französischen Verarbeitern ein Schaden entstanden sei, und zwar sowohl im Wettbewerb als auch durch die Kürzung der Beihilfe für die Wirtschaftsjahre nach dem Wirtschaftsjahr, in dem die gemeinschaftsrechtliche Garantieschwelle überschritten worden sei. Die Kommission könne gegen die fraglichen Mitgliedstaaten gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage auf Feststellung einer Vertragsverletzung erheben; sie sei nach den einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften verpflichtet, die falschen Angaben der Mitgliedstaaten zu berichtigen.

3 Mit Schreiben vom 17. Januar 1989 teilte die Kommission mit, sie verfüge nicht über aussagekräftige Informationen, aus denen sich ergebe, daß Italien oder Griechenland die ihnen obliegenden Kontroll - und Überprüfungsaufgaben nicht erfuellt hätten; bei den von ihr durchgeführten Kontrollen hätten keine Unregelmässigkeiten festgestellt werden können.

4 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten Schriftsätze wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur Anfechtungsklage

5 Mit der Anfechtungsklage nach Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag wird die Aufhebung sowohl der Entscheidung der Kommission, das von der Sonito beantragte Vertragsverletzungsverfahren gegen Italien und gegen Griechenland nicht einzuleiten, als auch ihrer Weigerung, die Angaben der Mitgliedstaaten und demgemäß die Beträge der den französischen Verarbeitern gewährten Beihilfen zu berichtigen, begehrt.

6 Was die Entscheidung der Kommission angeht, kein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, ergibt sich aus Sinn und Zweck des Artikels 169 EWG-Vertrag, daß die Kommission nicht verpflichtet ist, ein Verfahren nach dieser Vorschrift einzuleiten, sondern daß sie insoweit über ein Ermessen verfügt, das ein Recht einzelner, von ihr eine Stellungnahme in einem bestimmten Sinn zu verlangen, und eine Anfechtungsklage gegen ihre Weigerung zu handeln ausschließt.

7 Denn nur wenn der fragliche Mitgliedstaat nach Auffassung der Kommission gegen eine Verpflichtung verstossen hat, gibt sie eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab. Kommt der Staat dieser Stellungnahme nicht innerhalb der gesetzten Frist nach, so ist die Kommission darüber hinaus berechtigt, aber nicht verpflichtet, den Gerichtshof anzurufen, um die Vertragsverletzung feststellen zu lassen ( siehe zuletzt das Urteil vom 14. Februar 1989 in der Rechtssache 247/87, Starfruit, Slg. 1989, 291 ).

8 Was die Weigerung der Kommission angeht, die Höhe der gewährten Beihilfen nachträglich zu berichtigen, so können die Klägerinnen nicht geltend machen, durch diese Weigerung im Sinne des Artikels 173 Absatz 2 EWG-Vertrag unmittelbar und individuell betroffen zu sein. Die geforderte nachträgliche Berichtigung hätte nämlich in Form einer Verordnung mit allgemeiner Geltung erfolgen müssen, die objektiv alle Wirtschaftsteilnehmer der Gemeinschaft nur in ihrer Eigenschaft als Tomatenverarbeiter beträfe.

9 Die Anfechtungsklage sowohl gegen die Entscheidung der Kommission, kein Verfahren nach Artikel 169 EWG-Vertrag gegen Italien und gegen Griechenland einzuleiten, als auch gegen die Weigerung, eine rückwirkende Berichtigung der gewährten Beihilfebeträge vorzunehmen, ist demnach als unzulässig abzuweisen.

Zur Klage auf Schadensersatz aus ausservertraglicher Haftung

10 Die Klägerinnen verlangen Ersatz für drei Schäden : für die Differenz zwischen dem tatsächlich für die Wirtschaftsjahre 1984/1985 bis 1987/1988 gewährten Beihilfebetrag und dem Betrag, den sie bei Nichtvornahme der Kürzung hätten erhalten müssen, für den geschäftlichen Schaden und, nur für Sonito, für die Kosten des Verfahrens in Italien.

11 Die Kommission hält den Antrag auf Schadensersatz wegen ausservertraglicher Haftung für unzulässig; sie macht geltend, die Vorwürfe der Klägerinnen richteten sich in Wirklichkeit gegen fehlende Kontroll - und Verfolgungsmaßnahmen allein der nationalen Behörden. Nur die nationalen Gerichte seien jedoch dafür zuständig, den Ersatz von Schäden sicherzustellen, die nationale Behörden verursacht hätten.

12 Die Klägerinnen machen jedoch Schäden geltend, die auf einem rechtswidrigen Verhalten nicht der nationalen Behörden, sondern der Kommission, nämlich der unterbliebenen Berichtigung der Angaben einiger Mitgliedstaaten und folglich der gewährten Beihilfen, beruhen sollen. Diese Einrede der Unzulässigkeit ist demnach zurückzuweisen.

13 Gegen den Klageantrag auf Ersatz des Schadens in Höhe der in der Differenz zwischen der tatsächlich gezahlten und der von den Klägerinnen beanspruchten Beihilfe erhebt die Kommission eine zweite besondere Einrede der Unzulässigkeit : In Wirklichkeit solle mit diesem Antrag die Zahlung des Betrags erreicht werden, der sich aus der Rücknahme oder Aufhebung der einschlägigen Verordnungen der Kommission ergäbe; da aber die Klägerinnen nicht berechtigt seien, dieses Ziel mit einem Antrag nach Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag zu verfolgen, könnten sie dies auch nicht mit einem Schadensersatzantrag nach den Artikeln 178 und 215 Absatz 2 EWG-Vertrag tun.

14 Die Schadensersatzklage nach den Artikeln 178 und 215 Absatz 2 EWG-Vertrag ist jedoch als selbständiger Rechtsbehelf mit eigener Funktion innerhalb des Klagesystems geschaffen worden; sie unterliegt ihren eigenen, ihrem Zweck entsprechenden Zulässigkeitsvoraussetzungen. Sie unterscheidet sich insbesondere von der Nichtigkeitsklage dadurch, daß sie nicht auf die Aufhebung einer bestimmten Maßnahme gerichtet ist, sondern auf den Ersatz des von einem Gemeinschaftsorgan verursachten Schadens ( siehe das Urteil vom 26. Februar 1986 in der Rechtssache 175/84, Krohn, Slg. 1986, 763 ).

15 Der Schadensersatzantrag der Klägerinnen ist im Rahmen dieser Klageart zu untersuchen; ist er begründet, so kann ihm stattgegeben werden, ohne daß die Kommission neue Rechtsvorschriften erlassen müsste ( Urteil vom 4. Oktober 1979 in den verbundenen Rechtssachen 261/78 und 262/78, Interquell, Slg. 1979, 3045 ). Der Antrag ist demnach zulässig.

16 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes ist Voraussetzung der ausservertraglichen Haftung der Gemeinschaft, daß ein Tatbestand erfuellt ist, dessen Merkmale die Rechtswidrigkeit des den Organen zur Last gelegten Verhaltens, das Vorliegen eines Schadens und das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen diesem Verhalten und dem geltend gemachten Schaden sind.

17 Zu dem Antrag auf Ersatz des Schadens in Höhe der Differenz zwischen der vorgesehenen und tatsächlich bezogenen Beihilfe und derjenigen, die hätte gewährt werden müssen, sowie auf Ersatz des geschäftlichen Schadens ist festzustellen, daß die Klägerinnen kein rechtswidriges Verhalten der Kommission nachweisen konnten. Aus den Akten und aus der mündlichen Verhandlung in der Sitzung ergibt sich nämlich, daß die Kommission hinsichtlich der angeblich von Wirtschaftsteilnehmern in Italien und Griechenland begangenen betrügerischen Handlungen nur über einzelne, nicht verbürgte Angaben der nationalen Behörden verfügte. Bei den von den eigenen Dienststellen der Kommission durchgeführten Kontrollen waren betrügerische Handlungen, wie sie die Klägerinnen geltend gemacht hatten, nicht festgestellt worden. Unter diesen Umständen konnte die Kommission eine Berichtigung der mitgeteilten Angaben und folglich eine rückwirkende Anpassung der Höhe der Beihilfe für die Wirtschaftsjahre 1984/85 bis 1987/88 rechtens nicht vornehmen.

18 Was den Antrag auf Erstattung der in Italien entstandenen Verfahrenskosten angeht, hat die Sonito nicht nachweisen können, daß die Kommission verpflichtet war, sie im Rahmen von Verfahren zu unterstützen, die ohnehin nicht zu einem Ersatz des von ihr geltend gemachten Hauptschadens - der Einkommenseinbusse aufgrund der fehlenden Berichtigung der gewährten Beihilfebeträge - hätten führen können.

19 Die Klage auf Schadensersatz wegen ausservertraglicher Haftung muß demnach als unbegründet abgewiesen werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

20 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerinnen mit ihrem Vorbringen unterlegen sind, sind ihnen die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Sechste Kammer )

für Recht erkannt und entschieden :

1 ) Die Anfechtungsklage wird als unzulässig abgewiesen.

2 ) Die Klage auf Schadensersatz aus ausservertraglicher Haftung wird als unbegründet abgewiesen.

3 ) Die Klägerinnen tragen die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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