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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Beschluss verkündet am 22.04.1994
Aktenzeichen: C-87/94 R
Rechtsgebiete: EGV, Verfahrensordnung


Vorschriften:

EGV Art. 186
Verfahrensordnung Art. 83 § 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Kommission kann als Hüterin der Verträge einen Antrag auf einstweilige Anordnung neben einer Vertragsverletzungsklage im Zusammenhang mit der Beanstandung eines Vergabeverfahrens für einen öffentlichen Auftrag einreichen. Die Nichtbeachtung einer für einen öffentlichen Auftrag geltenden Richtlinie stellt nämlich eine schwerwiegende Verletzung des Gemeinschaftsrechts dar; wird nachträglich ° zumeist erst nach Durchführung des Vertrages ° eine Vertragsverletzung festgestellt, so kann dies den Schaden für die Gemeinschaftsrechtsordnung und für alle Bieter, die in ihren Rechten verletzt worden sind, nicht beseitigen.

Da die einschlägigen Richtlinien auf nationaler Ebene Rechtsbehelfen vor Vergabe des Auftrags den Vorzug geben, hat die Kommission auf Gemeinschaftsebene möglichst vor der Auftragsvergabe einzugreifen oder den betreffenden Mitgliedstaat wenigstens rasch und eindeutig davon in Kenntnis zu setzen, daß sie dabei sei, etwaige Verstösse gegen die für den fraglichen Auftrag geltenden Vorschriften zu prüfen, und daß sie beabsichtige, eine Aussetzung des Vergabeverfahrens oder der Durchführung des vergebenen Auftrags zu beantragen. Setzt der Mitgliedstaat trotz dieser Information das Vergabeverfahren oder die Durchführung des Auftrags selbst fort, so handelt er auf eigene Gefahr.

Indem die Kommission zwischen dem Eingang der Beschwerde, mit der Rechtsverstösse in dem Vergabeverfahren beanstandet wurden, und dem Zeitpunkt, in dem sie dem Mitgliedstaat ihre Absicht mitteilte, eine Aussetzung des Vertrages zu erwirken, mehr als drei Monate verstreichen ließ, hat sie nicht so rasch gehandelt, wie man dies von einer Partei erwarten musste, die später einen Antrag auf einstweilige Anordnung stellen will.

Zwar kann sich der betreffende Mitgliedstaat im übrigen, was die Abwägung der betroffenen Interessen angeht, grundsätzlich nicht auf die Gefahr berufen, die eine Verzögerung der Durchführung des Auftrags für die Benutzer des öffentlichen Dienstes bedeuten würde, wenn er selbst eine derartige Situation durch seine Untätigkeit hat entstehen lassen, doch kann der Richter im Verfahren der einstweiligen Anordnung unter bestimmten Umständen, wenn die angeführte Gefahr schwerwiegend ist, zur Auffassung gelangen, daß er nicht auch noch durch den Erlaß der beantragten Anordnung zu deren Vergrösserung beitragen darf.


BESCHLUSS DES PRAESIDENTEN DES GERICHTSHOFES VOM 22. APRIL 1994. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN KOENIGREICH BELGIEN. - VORLAEUFIGER RECHTSSCHUTZ - EINSTWEILIGE ANORDNUNGEN - DRINGLICHKEIT - INTERESSENABWAEGUNG - OEFFENTLICHE SICHERHEIT - OEFFENTLICHE AUFTRAEGE - BEREICH VERKEHRSVERSORGUNG - RICHTLINIE 90/531/EWG. - RECHTSSACHE C-87/94 R

Entscheidungsgründe:

Darstellung des Rechtsstreits

A - Verfahren

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 11. März 1994 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 90/531/EWG des Rates vom 17. September 1990 betreffend die Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor (ABl. L 297, S. 1) und gegen den jeder Regelung der öffentlichen Auftragsvergabe zugrunde liegenden Gleichbehandlungsgrundsatz verstossen hat, daß es

- im Rahmen eines von der Société régionale wallonne du transport (nachstehend: SRWT) ausgeschriebenen öffentlichen Auftrags Änderungen berücksichtigt hat, die an einem Angebot nach Öffnung der Angebote vorgenommen wurden,

- einen Bieter zum Vergabeverfahren zugelassen hat, der den Auswahlkriterien der Auftragsunterlagen nicht entsprach, und

- ein Angebot angenommen hat, das den Zuschlagskriterien der Auftragsunterlagen nicht entsprach.

2 Mit besonderem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat die Kommission gemäß den Artikeln 186 EG-Vertrag, 36 der Satzung des Gerichtshofes und 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes im Verfahren der einstweiligen Anordnung beantragt, dem Königreich Belgien aufzugeben, alle erforderlichen Maßnahmen zu erlassen, um die Rechtswirkungen der Vergabeentscheidung der SRWT vom 6. Oktober 1993 und des zwischen dieser Gesellschaft und der erfolgreichen Bieterin, der Espace mobile international SA (nachstehend: EMI), geschlossenen Vertrages bis zum Erlaß des Urteils des Gerichtshofes im Verfahren zur Hauptsache auszusetzen.

3 Das Königreich Belgien hat am 30. März 1994 schriftlich Stellung genommen. Die Parteien haben am 14. April 1994 mündlich verhandelt.

B - Vorgeschichte

4 Die in Namur (Belgien) ansässige SRWT schrieb einen öffentlichen Auftrag aus, der sich auf die Lieferung von acht Losen von Omnibussen für den öffentlichen Personenverkehr zu 307 Standardfahrzeugen zum Preis von schätzungsweise 2 022 918 000 BFR (ausschließlich Mehrwertsteuer) über einen Zeitraum von drei Jahren bezog. Eine Bekanntmachung über die Ausschreibung wurde am 22. April 1993 im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht.

5 Bei Ablauf der in der Bekanntmachung angegebenen Frist am 7. Juni 1993 wurde festgestellt, daß fünf Angebote eingegangen waren, die von den Firmen EMI (Aubange), Van Hool (Koningshooikt), Mercedes-B Belgium (Brüssel), Berkhof (Röseläre) und Jonckheere (Röseläre) eingereicht worden waren.

6 Die SRWT prüfte diese Angebote im Laufe des Juni und des Juli. Für die Sitzung des Verwaltungsrats vom 2. September 1993 wurde ein Vermerk erstellt. Darin wurde empfohlen, das Los Nr. 1 (37 Fahrzeuge) an die Firma Jonckheere und die Lose Nrn. 2 bis 6 (insgesamt 280 Fahrzeuge) an die Firma Van Hool zu vergeben.

7 Am 3., 23. und 24. August 1993 übermittelte EMI der Auftraggeberin drei ergänzende Schreiben.

8 In diesen Schreiben ging sie insbesondere auf folgende Punkte ihres Angebots ein:

- Schreiben vom 3. August: Mengenrabatt, Finanzierungsangebot, Nichtanwendung der Preisanpassungsformel bei im Laufe des Jahres 1994 zu liefernden Omnibussen, Kraftstoffverbrauch der Fahrzeuge, bezifferbare und unbezifferbare Gesichtspunkte für die Beurteilung der technischen Qualität des gelieferten Materials;

- Schreiben vom 23. August: vorgesehene Häufigkeit der Auswechslung von Motoren und Getrieben;

- Schreiben vom 24. August: Kraftstoffverbrauch.

9 Die Auftraggeberin kam am 31. August 1993 nach Prüfung der drei zusätzlichen Schreiben in einem internen Vermerk zu dem Ergebnis, daß diese Schreiben Änderungen gegenüber dem ursprünglichen Angebot enthielten. Sie bekräftigte daher die Begründetheit der im erwähnten Vermerk für die Sitzung des Verwaltungsrats vom 2. September 1993 enthaltenen Vergabevorschläge.

10 Da der Verwaltungsrat der SRWT glaubte, nicht über ausreichende Informationen für eine abschließende Entscheidung zu verfügen, beschloß er am 2. September 1993, die Erörterung in einer späteren Sitzung fortzusetzen.

11 Der wallonische Verkehrsminister äusserte sich mit Schreiben vom 14. September 1993 gegenüber dem Generalgeschäftsführer der SRWT zu den Angeboten von Van Hool und von EMI einschließlich der drei genannten Schreiben. Er empfahl dem Verwaltungsrat der SRWT abschließend, die Akten nochmals unter Berücksichtigung seiner Ausführungen zu würdigen.

12 Am 28. September 1993 forderte die SRWT EMI auf, die Angaben über den Kraftstoffverbrauch im Schreiben vom 24. August und die im Schreiben vom 23. August vorgeschlagene maximale Häufigkeit der Auswechslung von Motoren und Getrieben zu bestätigen. EMI bestätigte diese Teile ihres Angebots mit Schreiben vom 29. September 1993.

13 Für die Sitzung des Verwaltungsrats vom 6. Oktober 1993 erstellte die Geschäftsleitung der SRWT in einem weiteren Vermerk einen Vergleich der Angebote vor. In diesem Vermerk wurde unter Berücksichtigung der Angaben in den drei ergänzenden Schreiben von EMI vorgeschlagen, das Los Nr. 1 (37 Fahrzeuge) an die Firma Jonckheere und die Lose Nrn. 2 bis 6 (verringert auf 278 Fahrzeuge) an EMI zu vergeben.

14 Der Verwaltungsrat der SRWT beschloß am 6. Oktober 1993, den Auftrag für 30 Omnibusse bis zum Jahr 1996 aufzuschieben sowie das Los Nr. 1 (37 Fahrzeuge) im Wert von 212 759 250 BFR ausschließlich Mehrwertsteuer an die Firma Jonckheere und die Lose Nrn. 2 bis 6 (278 Fahrzeuge) im Wert von 1 797 719 210 BFR ausschließlich Mehrwertsteuer an EMI zu vergeben.

15 Die Firma Van Hool stellte am selben Tag beim belgischen Conseil d' État im Verfahren bei höchster Dringlichkeit (procédure d' extrême urgence) einen Aussetzungsantrag.

16 Der Präsident der für vorläufigen Rechtsschutz zuständigen Sechsten Kammer des Conseil d' État ordnete mit Urteil vom 7. Oktober 1993 im beschleunigten Verfahren die einstweilige Aussetzung des Vollzugs der Entscheidung des Verwaltungsrats der SRWT vom 6. Oktober 1993 an.

17 Der Conseil d' État bestätigte jedoch diese Anordnung mit seinem Urteil vom 17. November 1993 nicht und wies die Anträge der Firma Van Hool auf Aussetzung und auf Erlaß einstweiliger Anordnungen zurück.

18 Mit Schreiben vom selben Tag erteilte die SRWT EMI den Auftrag für die Lose Nrn. 2 bis 6.

19 Auf eine Beschwerde der Firma Van Hool hin richtete die Kommission am 30. November 1993 ein Aufforderungsschreiben gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag an das Königreich Belgien. Sie rügte, daß Belgien gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 90/531 und gegen den jeder Regelung der öffentlichen Auftragsvergabe zugrunde liegenden Gleichbehandlungsgrundsatz verstossen habe.

20 Das Königreich Belgien führte in seinen der Kommission am 15. Dezember 1993 übermittelten Erklärungen aus, die beanstandete Vertragsverletzung sei nicht bewiesen.

21 Am 8. Februar 1994 übersandte die Kommission dem Königreich Belgien eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie Belgien aufforderte, innerhalb einer Frist von zehn Tagen die erforderlichen Maßnahmen zu ihrer Durchführung zu ergreifen, und zwar insbesondere bei den zuständigen Behörden eine Aussetzung der Rechtswirkungen des Vertrages zwischen der SRWT und EMI zu erwirken.

22 Das Königreich Belgien hielt in seinem Antwortschreiben vom 18. Februar 1994 an seiner Haltung fest.

Gründe des Beschlusses

23 Artikel 186 EG-Vertrag lautet:

"Der Gerichtshof kann in den bei ihm anhängigen Sachen die erforderlichen einstweiligen Anordnungen treffen."

24 Gemäß Artikel 83 § 2 der Verfahrensordnung setzt der Erlaß einstweiliger Anordnungen voraus, daß Umstände vorliegen, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt, und daß die Notwendigkeit der beantragten Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft gemacht wird (fumus boni iuris). Ferner muß nach ständiger Rechtsprechung bei der Abwägung der betroffenen Interessen mehr für als gegen eine solche Maßnahme sprechen.

25 Diese Voraussetzungen müssen nebeneinander erfuellt sein.

26 Die Dringlichkeit ist danach zu beurteilen, ob eine einstweilige Anordnung erforderlich ist, um zu verhindern, daß der Partei, die sie beantragt, ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden entsteht.

27 Der schwere und nicht wiedergutzumachende Schaden, der das Kriterium für die Dringlichkeit ist, stellt im übrigen das erste Element des Vergleichs dar, der im Rahmen der Interessenabwägung vorgenommen wird.

28 Im vorliegenden Fall ist es angebracht, die Voraussetzungen der Dringlichkeit und der Interessenabwägung gemeinsam zu prüfen.

29 Die Kommission macht geltend, die Dringlichkeit sei offensichtlich gegeben. Die Teillieferungen für 1994 (128 von 278 Omnibussen) könnten im April 1994 beginnen. Somit drohe ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden zu entstehen, da die Auftragsvergabe und vor allem die ersten Lieferungen sie, die als Hüterin der Verträge für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts Sorge zu tragen habe, vor vollendete Tatsachen stellen könnten und die Voraussetzungen für eine schwerwiegende und unmittelbare Verletzung der Gemeinschaftsrechtsordnung schaffen würden. In dem Masse, in dem die Lieferungen fortschritten, wäre der Schaden nicht wiedergutzumachen. Wenn keine einstweiligen Anordnungen erlassen würden, könne ein der Klage stattgegebendes Urteil keine praktische Wirksamkeit entfalten.

30 Nach Auffassung des Königreichs Belgien ist die Voraussetzung der Dringlichkeit nicht erfuellt, wenn der Antragsteller zu spät gehandelt oder selbst die von ihm angeführte Situation der Dringlichkeit hervorgerufen hat. Dies sei bei der Kommission, die nach der Entscheidung über die Auftragsvergabe mit der Einleitung des vorliegenden Verfahrens mehr als fünf Monate gewartet habe, der Fall. Im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens müsse die Kommission zum Nachweis eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens ferner ein besonders zwingendes Bedürfnis für die einstweilige Anordnung dartun, wie etwa die Notwendigkeit, einer Verletzung des Gemeinschaftsrechts vor der Entscheidung über die Auftragsvergabe zuvorzukommen. Sie könne sich nicht lediglich allgemein darauf berufen, daß sie in ihrer Funktion als Hüterin der Verträge einen Schaden erleiden würde, da dieses Vorbringen bei jeder Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch einen Mitgliedstaat begründet wäre.

31 Die Nichtbeachtung einer für einen öffentlichen Auftrag geltenden Richtlinie stellt eine schwerwiegende Verletzung des Gemeinschaftsrechts dar; stellt der Gerichtshof nachträglich - zumeist erst nach Durchführung des Vertrages - gemäß Artikel 169 EG-Vertrag eine Vertragsverletzung fest, so kann dies den Schaden für die Gemeinschaftsrechtsordnung und für alle Bieter, die ausgeschaltet oder daran gehindert worden sind, sich unter Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes wirksam am Wettbewerb zu beteiligen, nicht beseitigen. Die Kommission kann daher als Hüterin der Verträge einen Antrag auf einstweilige Anordnung neben einer Vertragsverletzungsklage im Zusammenhang mit der Beanstandung eines Vergabeverfahrens für einen öffentlichen Auftrag einreichen.

32 In den Richtlinien

- 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (ABl. L 395, S. 33) und

- 92/13/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften über die Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor (ABl. L 76, S. 14)

ist die Verpflichtung niedergelegt, auf nationaler Ebene Rechtsbehelfe zu schaffen, mit denen Entscheidungen, die gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die nationalen Vorschriften zur Umsetzung dieses Rechts, verstossen, wirksam und möglichst rasch überprüft werden können. Im vorliegenden Fall hat die Firma Van Hool einen derartigen Rechtsbehelf beim belgischen Conseil d' État eingelegt, ohne letztlich die beantragte Aussetzung zu erreichen.

33 Wie die belgische Regierung vor dem Gerichtshof ausgeführt hat, zeigen die Materialien und die Vorschriften dieser Richtlinien selbst, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber wegen der Unterschiedlichkeit der nationalen Rechtsordnungen und im Bestreben, dem Grundsatz der Rechtssicherheit möglichst weitgehend Rechnung zu tragen, den Rechtsbehelfen vor Vergabe des Auftrags den Vorzug gegeben hat. Dadurch, daß er festgelegt hat, daß sich die Wirkungen eines Rechtsbehelfs auf einen bereits geschlossenen Vertrag nach nationalem Recht richten, und er es gestattet hat, daß ein Mitgliedstaat diese Wirkungen darauf beschränkt, der geschädigten Person Schadensersatz zuzuerkennen, hat er zugelassen, daß ein Staat auf nationaler Ebene die Aufhebung eines laufenden Vertrages ausschließen kann.

34 In diesem Zusammenhang hat die Kommission selbst auf Gemeinschaftsebene möglichst vor der Auftragsvergabe einzugreifen oder den betreffenden Mitgliedstaat wenigstens rasch und eindeutig davon in Kenntnis zu setzen, daß sie dabei sei, etwaige Verstösse gegen die für den fraglichen Auftrag geltenden Vorschriften zu prüfen, und daß sie beabsichtige, eine Aussetzung des Vergabeverfahrens oder der Durchführung des vergebenen Auftrags zu beantragen. In diesem Fall setzt der Mitgliedstaat das Vergabeverfahren oder die Durchführung des Auftrags selbst auf eigene Gefahr fort.

35 Die Parteien haben bei ihrer Anhörung angegeben, daß der Auftrag nach dem einschlägigen nationalen Recht mit der am 17. November 1993 von der SRWT an EMI gerichteten Auftragsmitteilung vergeben worden sei. Sie haben bei dieser Gelegenheit ferner erklärt, daß das positive belgische Recht entgegen einer Äusserung in den schriftlichen Erklärungen des Antragsgegners nach dem neuesten Stand der Rechtsprechung die Aufhebung einer bereits erfolgten Vergabe eines öffentlichen Auftrags nicht ausschließe.

36 Unstreitig waren die ersten Lieferungen von Omnibussen grundsätzlich für Ende April 1994 geplant.

37 Im Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens der einstweiligen Anordnung betraf also der Antrag einen Vertrag, der nicht nur abgeschlossen war, sondern auch bereits durchgeführt wurde. Die Beschaffung, Herstellung und Montage der Omnibusse setzte nämlich notwendig voraus, daß mehrere Monate vor den ersten Lieferungen ein Programm hierfür aufgestellt wurde.

38 Nachdem die Kommission in ihrer Klage ausgeführt hatte, sie sei bereits am 6. Oktober 1993 durch eine Beschwerde der Firma Van Hool mit der Sache befasst worden, hat sie am 14. April 1994 mündlich und danach am 15. April schriftlich erklärt, daß sie tatsächlich mit dem zu den Akten gegebenen Schreiben vom 29. Oktober 1993 eingeschaltet worden sei. Jedenfalls gab sie ihre Absicht, eine Aussetzung des Vertrages zu erwirken, erst in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 8. Februar 1994 bekannt, also mehr als drei Monate nach Eingang des Schreibens vom 29. Oktober 1993 und mehr als zwei Monate nach ihrem Aufforderungsschreiben vom 30. November 1993, das keinen entsprechenden Hinweis enthielt. Sie hat also nicht so gehandelt, daß die Auftraggeberin so rasch wie möglich erfuhr, daß sie die Durchführung des Vertrages, der in merkwürdiger Eile noch am Tag der Entscheidung des Conseil d' État vom 7. November 1993 geschlossen wurde, auf eigene Gefahr fortsetzte. Die Firma Van Hool hatte jedoch in ihrer Beschwerde vom 29. Oktober 1993 in aufrüttelnden Worten auf die Dringlichkeit eines Eingreifens der Kommission hingewiesen. Unter diesen Umständen hat die Kommission nicht so rasch gehandelt, wie man dies von einer Partei erwarten musste, die später einen Antrag auf einstweilige Anordnung stellen will.

39 Gegenüber dem von der Kommission angeführten schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden beruft sich das Königreich Belgien im Rahmen der Interessenabwägung auf den Zustand des Omnibusfuhrparks der SRWT. Dieser Fuhrpark umfasse viele alte Fahrzeuge, darunter insbesondere 194, die in den Jahren 1976, 1977 und 1978 in Dienst gestellt worden seien. Der Zustand dieser Fahrzeuge habe zu dringenden Ersatzbeschaffungsanträgen einiger örtlicher Direktionen der SRWT geführt. Er könne Zwischenfälle, ja sogar Unfälle verursachen, die gravierende Folgen für das Personal, die Fahrgäste und den Ruf der Gesellschaft im allgemeinen haben könnten. Ein weiblicher Fahrgast habe schon einen Unfall erlitten, der eine Einweisung ins Krankenhaus erforderlich gemacht habe: Sie sei mit dem Fuß durch den Boden eines söben bestiegenen Omnibusses gebrochen. Eine Aussetzung des Vertrages würde seine sofortige Auflösung und sodann die Ausschreibung eines neuen Vergabeverfahrens erforderlich machen, wodurch jede der geplanten Lieferungen um etwa dreizehn Monate verzögert würde.

40 Das Vorbringen des Königreichs Belgien zum Zustand der zu ersetzenden Omnibusse wird durch die vorgelegten Beweisstücke bestätigt. Dieser Zustand verletzt tatsächlich das Gebot der Sicherheit, das bei allen Tätigkeiten der öffentlichen Hand zu beachten ist. Der Gemeinschaftsrichter im Verfahren der einstweiligen Anordnung muß jedoch darauf hinweisen, daß das Königreich Belgien selbst erheblich zur Entstehung dieser Situation beigetragen hat. Obwohl die normale Lebensdauer der zu ersetzenden Omnibusse nach seinen eigenen Angaben zehn bis zwölf Jahre beträgt, hielt es das Königreich Belgien nicht für erforderlich, rechtzeitig für die Erneuerung dieser Fahrzeuge zu sorgen, von denen viele gegenwärtig seit sechzehn bis achtzehn Jahren im Einsatz sind. Vielmehr ließ es zwischen einem Antrag auf Ersatzbeschaffung von 103 Omnibussen, auf deren Überalterung die betreffende örtliche Direktion hinwies, und der Veröffentlichung der Auftragsbekanntmachung vom 22. April 1993 mehr als zwei Jahre verstreichen. Das Königreich Belgien hat es damit unterlassen, darauf hinzuwirken, daß alle Maßnahmen getroffen wurden, um zu verhindern, daß die Sicherheit der Benutzer und des Personals der SRWT sowie anderer Strassenbenutzer gefährdet wird.

41 Eine derartige Unterlassung kann grundsätzlich verhindern, daß die Interessenabwägung zugunsten der pflichtwidrig handelnden Partei ausfällt (Beschluß des Präsidenten des Gerichtshofes vom 27. September 1988 in der Rechtssache 194/88 R, Kommission/Italien, Slg. 1988, 5647, Randnr. 16). Unter den im vorliegenden Fall gegebenen besonderen Umständen darf der Richter im Verfahren der einstweiligen Anordnung angesichts der Schwere der Gefahr jedoch nicht auch noch zu deren Vergrösserung beitragen.

42 Nach alledem hat die Kommission die Verpflichtung zu raschem Handeln verletzt, die einer Partei obliegt, die sich auf die Dringlichkeit von einstweiligen Anordnungen beruft; die Interessenabwägung fällt daher zugunsten des Königreichs Belgien aus.

43 Der Antrag auf einstweilige Anordnung ist daher zurückzuweisen, ohne daß geprüft zu werden braucht, ob es dem Königreich Belgien mit seinen Erklärungen und Beweisstücken gelungen ist, den von der Kommission zum fumus boni iuris vorgetragenen Gründen den Anschein der Begründetheit zu nehmen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER PRÄSIDENT DES GERICHTSHOFES

beschlossen:

1) Der Antrag auf einstweilige Anordnung wird zurückgewiesen.

2) Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Luxemburg, den 22. April 1994.

Ende der Entscheidung

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