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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 10.07.1991
Aktenzeichen: C-90/90
Rechtsgebiete: EWGV, VO Nr. 857/84/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 177
EWGV Art. 39
EWGV Art. 110
VO Nr. 857/84/EWG Art. 7
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Eine Bestimmung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts ist im Falle ihrer Auslegungsbedürftigkeit möglichst so auszulegen, daß sie mit den Bestimmungen des EWG-Vertrags und den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts vereinbar ist.

2. Artikel 7 Absätze 2 und 3 der Verordnung Nr. 857/84 über die Anwendung der zusätzlichen Abgabe für Milch in der Fassung der Verordnung Nr. 590/85 ist dahin auszulegen, daß er es den Mitgliedstaaten im Rahmen der Formel B nicht erlaubt, einen Teil der individuellen Referenzmenge eines Erzeugers, der auf eigenes Betreiben die Zugehörigkeitsmolkerei wechselt, der nationalen Reserve hinzuzufügen. Eine Kürzung der Referenzmengen der Erzeuger, der sich diese ausgesetzt sähen, wenn den Mitgliedstaaten eine derartige Befugnis zuerkannt würde, könnte Erzeuger nämlich davon abhalten, den Käufer zu wechseln, um sich der Molkerei anzuschließen, die ihnen die günstigsten Konditionen bietet; sie wäre daher mit dem Grundsatz der freien Berufsausübung, der die freie Wahl des Geschäftspartners umfasst, unvereinbar.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (DRITTE KAMMER) VOM 10. JULI 1991. - JEAN NEU UND ANDERE GEGEN SECRETAIRE D'ETAT A L'AGRICULTURE ET A LA VITICULTURE. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: CONSEIL D'ETAT - GROSSHERZOGTUM LUXEMBURG. - ZUSAETZLICHE ABGABE AUF MILCH. - VERBUNDENE RECHTSSACHEN C-90/90 UND C-91/90.

Entscheidungsgründe:

1 Der Conseil d' État (Staatsrat) des Großherzogtums Luxemburg hat mit Urteilen vom 21. März 1990, beim Gerichtshof eingegangen am 27. März 1990, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung des Artikels 7 Absätze 2 und 3 der Verordnung (EWG) Nr. 857/84 des Rates vom 31. März 1984 über Grundregeln für die Anwendung der Abgabe gemäß Artikel 5c der Verordnung (EWG) Nr. 804/68 im Sektor Milch und Milcherzeugnisse (ABl. L 90, S. 13) in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 590/85 des Rates vom 26. Februar 1985 (ABl. L 68, S. 1) einerseits und der Artikel 39 und 110 EWG-Vertrag und der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts andererseits zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in Rechtsstreitigkeiten zwischen dreizehn in Luxemburg ansässigen Erzeugern (Kläger) und dem Secrétaire d' État à l' Agriculture et à la Viticulture (Staatssekretär für Landwirtschaft und Weinbau) des Großherzogtums Luxemburg über die diesen Erzeugern nach der Regelung über die zusätzliche Abgabe für Milch zugeteilten individuellen Referenzmengen.

3 Die Kläger beendeten ihre Geschäftsbeziehungen zu der Molkerei, der sie bisher die in ihrem Betrieb erzeugte Milch geliefert hatten, um sich einer anderen Molkerei anzuschließen. Aufgrund dieses Käuferwechsels beschloß der Staatssekretär für Landwirtschaft und Weinbau gemäß den zur Durchführung der einschlägigen Gemeinschaftsregelung erlassenen luxemburgischen Rechtsvorschriften, 90 % der individuellen Referenzmengen, über die die Kläger im Rahmen der Formel B bei ihrem bisherigen Käufer verfügten, auf die neue Molkerei zu übertragen, 10 % dieser Mengen jedoch der nationalen Reserve zuzuweisen.

4 Daraufhin erhoben die Kläger jeweils Klage vor dem Conseil d' État des Großherzogtums Luxemburg, mit der sie die Aufhebung der obengenannten Entscheidungen begehrten, soweit diese sich dahingehend auswirkten, daß sie die Kläger daran hinderten, ihre jeweilige individuelle Referenzmenge in vollem Umfang auf die neue Molkerei zu übertragen. Zur Begründung ihrer Klage machen die Kläger im wesentlichen geltend, die nationale Regelung, auf die diese Entscheidungen gestützt seien, verstosse gegen Artikel 7 der Verordnung Nr. 857/84 und gegen die Artikel 39 und 110 EWG-Vertrag sowie gegen den Grundsatz der freien Wahl des Geschäftspartners.

5 Da der Conseil d' État der Ansicht war, die zu erlassende Entscheidung hänge von der Auslegung der obengenannten gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen ab, hat er die Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag folgende in den verbundenen beiden Rechtssachen gleichlautende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1) Ist Artikel 7 der Verordnung (EWG) Nr. 857/84 des Rates dahin auszulegen, daß ein Mitgliedstaat gemäß Artikel 7 Absatz 3 dieser Verordnung für den Fall, daß ein Erzeuger seinen Käufer wechselt (Formel B), in seinem nationalen Recht vorsehen kann, daß ein Teil der Quote dieses Erzeugers auf die nationale Reserve übertragen wird, anstatt auf den alten und den neuen Käufer verteilt oder gemäß Artikel 7 Absatz 2 dieser Verordnung vollständig auf den neuen Käufer übertragen zu werden, wodurch jeder Käuferwechsel seitens eines Milcherzeugers bestraft wird?

2) Lassen die Artikel 39 und 110 des Vertrages von Rom und der Grundsatz der freien Wahl des Geschäftspartners es zu, daß ein Mitgliedstaat die Grunderzeugungsquote eines Erzeugers allein deshalb, weil dieser den Käufer wechselt und einen besseren Verkaufspreis erzielt, womit er sein landwirtschaftliches Einkommen steigert, auf unbestimmte Zeit um 10 % kürzt?

6 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts der Ausgangsverfahren, der einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen und nationalen Bestimmungen, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

7 Die zusammen zu prüfenden Vorlagefragen gehen dahin, ob Artikel 7 Absätze 2 und 3 der Verordnung Nr. 857/84 in der Fassung der Verordnung Nr. 590/85 unter Berücksichtigung des EWG-Vertrags und der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts so auszulegen ist, daß sie es den Mitgliedstaaten im Rahmen der Formel B erlauben, einen Teil der individuellen Referenzmenge eines Erzeugers, der auf eigenes Betreiben die Molkerei wechselt, der er angeschlossen ist, der nationalen Reserve hinzuzufügen.

8 Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung Nr. 857/84 in der Fassung der Verordnung Nr. 590/85 bestimmt: "Im Falle des Verkaufs, der Verpachtung oder der Übertragung eines Betriebs in Erbfolge wird die entsprechende Referenzmenge nach festzulegenden Modalitäten ganz oder teilweise auf den Käufer, Pächter oder Erben übertragen." Artikel 7 Absatz 2 schreibt im wesentlichen vor, daß dann, wenn im Rahmen der Formel B (Käuferformel) "ein Käufer ganz oder teilweise an die Stelle eines oder mehrerer Käufer [tritt]", die Referenzmenge des ursprünglichen Käufers insoweit zum Zeitpunkt der Ersetzung auf den neuen Käufer übergeht. Nach Absatz 3 dieser Vorschrift können die Mitgliedstaaten jedoch "vorsehen, daß ein Teil der betreffenden Mengen auf die in Artikel 5 oder auf die in Artikel 6 Absatz 3 genannte Reserve [die nationale Reserve] übertragen wird".

9 Nach dem Wortlaut der vorgenannten Bestimmungen in den verschiedenen Sprachfassungen sind die Mitgliedstaaten zwar eindeutig ermächtigt, im Rahmen der Formel B einen Teil der Referenzmenge eines Käufers, "an dessen Stelle" aufgrund eines Unternehmensübergangs ganz oder teilweise ein anderer Käufer "tritt", der nationalen Reserve hinzuzufügen, doch lässt diese Formulierung die Frage offen, ob eine solche Zuweisung zur nationalen Reserve auch in bezug auf die individuelle Referenzmenge eines Erzeugers erfolgen kann, der im Rahmen der Formel B seine Geschäftsbeziehungen zu dem Käufer, dem er die in seinem Betrieb erzeugte Milch geliefert hat, beendet, um sich einem anderen Käufer anzuschließen, ohne daß zwischen den Käufern ein Unternehmensübergang stattfindet.

10 Zu dieser Frage vertreten die luxemburgische Regierung und die Kommission die Ansicht, die in Artikel 7 Absatz 3 der Verordnung Nr. 857/84 in seiner geänderten Fassung eingeräumte Möglichkeit, vorzusehen, daß ein Teil der fraglichen Mengen der nationalen Reserve hinzugefügt werde, gelte für alle Fälle der Ersetzung, eine vollständige wie eine teilweise, ohne daß es auf den Grund der Ersetzung ankomme. Diese Bestimmung beziehe sich somit nicht nur auf den Fall einer Übertragung der Referenzmengen des Käufers, die dieser auf eigenes Betreiben hin vornehme, sondern auch auf den Fall der Übertragung der individuellen Mengen eines Erzeugers, die aus seiner Entscheidung, den Käufer zu wechseln, folge. In dieser Weise ausgelegt, seien die genannten Bestimmungen unter Berücksichtigung des dem Gemeinschaftsgesetzgeber auf dem Gebiet der gemeinsamen Marktorganisationen zustehenden weiten Ermessens, dessen Grenzen im vorliegenden Fall nicht überschritten seien, mit den Vorschriften des EWG-Vertrags und den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts vereinbar.

11 Demgegenüber vertreten die Kläger die Auffassung, Artikel 7 Absatz 3 der Verordnung Nr. 857/84 beziehe sich, wenn man ihn im Lichte der Bestimmungen des EWG-Vertrags und der Grundsätze der freien Wahl des Geschäftspartners auslege, nicht auf den Fall des von einem Erzeuger beschlossenen Käuferwechsels.

12 Dieser Ansicht ist zu folgen. Nach gefestigter Rechtsprechung (siehe insbesondere Urteil vom 25. November 1986 in den verbundenen Rechtssachen 201/85 und 202/85, Klensch u. a., Slg. 1986, 3477, Randnr. 21) ist nämlich eine Bestimmung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts im Falle ihrer Auslegungsbedürftigkeit möglichst so auszulegen, daß sie mit den Bestimmungen des EWG-Vertrags und den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts vereinbar ist.

13 Insoweit ist festzustellen, daß die freie Berufsausübung, die nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes (siehe insbesondere Urteile vom 13. Dezember 1979 in der Rechtssache 44/79, Hauer, Slg. 1979, 3727, Randnrn. 31 bis 33, und vom 11. Juli 1989 in der Rechtssache 265/87, Schräder, Slg. 1989, 2237, Randnr. 15) zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört, als einen besonderen Ausdruck die freie Wahl des Geschäftspartners umfasst. Dieses Wahlrecht wäre nicht gewährleistet, wenn der auf Betreiben des Erzeugers eingetretene Wechsel in der Zugehörigkeit zu einer Molkerei vermittels der Zuweisung eines Teils der individuellen Referenzmenge des Erzeugers zur nationalen Reserve zu einer Kürzung dieser Referenzmenge führen könnte, während diese Kürzung nicht vorgenommen werden kann, wenn der Erzeuger der gleichen Molkerei angeschlossen bleibt. Eine Regelung, die diese Wirkung hätte, könnte nämlich Erzeuger davon abhalten, den Käufer zu wechseln, um sich der Molkerei anzuschließen, die ihnen die günstigsten Konditionen bietet.

14 Ausserdem ist eine solche Kürzung der individuellen Referenzmenge eines Erzeugers, die wegen des von diesem beschlossenen Käuferwechsels vorgenommen wird, nicht durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, dafür zu sorgen, daß die auf den Markt gebrachten Milch- und Milcherzeugnismengen nicht die für die Gemeinschaft garantierte Gesamtmenge überschreiten, da der Käuferwechsel nicht dazu führt, daß zusätzliche Mengen dieser Erzeugnisse auf den Markt gebracht werden.

15 Infolgedessen ist Artikel 7 Absatz 3 der Verordnung Nr. 857/84 dahin auszulegen, daß diese Bestimmung nicht den Fall betrifft, daß im Rahmen der Formel B ein Milcherzeuger auf eigenes Betreiben die Zugehörigkeitsmolkerei wechselt.

16 Aus diesen Gründen ist auf die gestellten Fragen zu antworten, daß Artikel 7 Absätze 2 und 3 der Verordnung Nr. 857/84 des Rates vom 31. März 1984 über Grundregeln für die Anwendung der Abgabe gemäß Artikel 5c der Verordnung Nr. 804/68 im Sektor Milch und Milcherzeugnisse in der Fassung der Verordnung Nr. 590/85 des Rates vom 26. Februar 1985 dahin auszulegen ist, daß er es den Mitgliedstaaten im Rahmen der Formel B nicht erlaubt, einen Teil der individuellen Referenzmenge eines Erzeugers, der auf eigenes Betreiben die Zugehörigkeitsmolkerei wechselt, der nationalen Reserve hinzuzufügen.

Kostenentscheidung:

Kosten

17 Die Auslagen der luxemburgischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

auf die ihm vom Conseil d' État des Großherzogtums Luxemburg mit Urteilen vom 21. März 1990 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Artikel 7 Absätze 2 und 3 der Verordnung (EWG) Nr. 857/84 des Rates vom 31. März 1984 über Grundregeln für die Anwendung der Abgabe gemäß Artikel 5c der Verordnung (EWG) Nr. 804/68 im Sektor Milch und Milcherzeugnisse in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 590/85 des Rates vom 26. Februar 1985 ist dahin auszulegen, daß er es den Mitgliedstaaten im Rahmen der Formel B nicht erlaubt, einen Teil der individuellen Referenzmenge eines Erzeugers, der auf eigenes Betreiben die Zugehörigkeitsmolkerei wechselt, der nationalen Reserve hinzuzufügen.

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