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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäisches Gericht
Urteil verkündet am 03.12.2003
Aktenzeichen: T-208/01
Rechtsgebiete: Entscheidung 2001/711/EG der Kommission vom 29. Juni 2001, Art. 2 der Entscheidung 2001/711/EG der Kommission vom 29. Juni 2001, EGV


Vorschriften:

Entscheidung 2001/711/EG der Kommission vom 29. Juni 2001
Art. 2 der Entscheidung 2001/711/EG der Kommission vom 29. Juni 2001 Art. 1
EGV Art. 81
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Urteil des Gerichts erster Instanz (Vierte Kammer) vom 3. Dezember 2003. - Volkswagen AG gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften. - Wettbewerb - Vertrieb von Kraftfahrzeugen - Artikel 81 Absatz 1 EG - Vereinbarung über Preise - Begriff der Vereinbarung - Nachweis für das Vorliegen einer Vereinbarung. - Rechtssache T-208/01.

Parteien:

In der Rechtssache T-208/01

Volkswagen AG mit Sitz in Wolfsburg (Deutschland), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt R. Bechtold,

Klägerin,

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch W. Mölls als Bevollmächtigten, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte,

"wegen Nichtigerklärung der Entscheidung 2001/711/EG der Kommission vom 29. Juni 2001 in einem Verfahren nach Artikel 81 EG-Vertrag (Sache COMP/F-2/36.693 - Volkswagen) (ABl. L 262, S. 14) und, hilfsweise, Herabsetzung der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße

erlässt DAS GERICHT ERSTER INSTANZ

DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN

(Vierte Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin V. Tiili sowie der Richter P. Mengozzi und M. Vilaras,

Kanzler: D. Christensen, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. Juni 2003

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

Sachverhalt

1 Die Volkswagen AG (im Folgenden: Volkswagen oder Klägerin) ist die Dachgesellschaft und das größte Einzelunternehmen des in der Automobilherstellung tätigen Volkswagen-Konzerns. Die von der Klägerin hergestellten Kraftfahrzeuge werden in der Gemeinschaft im Rahmen eines selektiven und exklusiven Vertriebssystems über Händler vertrieben, mit denen die Klägerin Händlerverträge abgeschlossen hat.

2 Gemäß § 4 Absatz 1 des Standard-Händlervertrags in den Fassungen von September 1995 und Januar 1998 überträgt Volkswagen dem Händler für das Lieferprogramm und den Kundendienst ein Vertragsgebiet. Die Verpflichtung, den Absatz und Kundendienst intensiv zu fördern und das Marktpotential optimal auszuschöpfen, übernimmt der Händler hingegen für sein Marktverantwortungsgebiet. Nach § 2 Ziffer 6 (Fassung von Januar 1989) bzw. Ziffer 1 (Fassungen von September 1995 und Januar 1998) des Händlervertrags sind die Händler verpflichtet, "die Interessen [von Volkswagen], der Volkswagen Vertriebsorganisation sowie der Marke Volkswagen zu vertreten und in jeder Weise zu fördern". Ferner ist dort geregelt, dass "der Händler [dabei] allen dem Vertragszweck dienenden Anforderungen hinsichtlich des Vertriebs fabrikneuer Volkswagen Automobile, der Ersatzteilebevorratung, des Kundendienstes, der Absatzförderung, Werbung und Schulung sowie der Sicherung des Leistungsstands für die jeweiligen Bereiche des Volkswagen Geschäfts nachkommen [wird]". Nach § 8 Ziffer 1 des Händlervertrags gibt Volkswagen schließlich "für die Endabnehmerpreise und Preisnachlässe unverbindliche Preisempfehlungen heraus".

3 Am 17. Juli 1997 und 8. Oktober 1998 richtete die Kommission auf die Beschwerde eines Käufers an die Klägerin mehrere Auskunftsersuchen nach Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962 - Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln [81] und [82] des Vertrages (ABl. Nr. 13, S. 204) über ihre Preispolitik und insbesondere die Festlegung des Verkaufspreises des Volkswagen-Fahrzeugmodells Passat in Deutschland. Die Klägerin beantwortete diese Ersuchen am 22. August 1997 bzw. 9. November 1998.

4 Am 22. Juni 1999 übersandte die Kommission der Klägerin auf der Grundlage der übermittelten Informationen eine Mitteilung der Beschwerdepunkte, in der sie ihr einen Verstoß gegen Artikel 81 Absatz 1 EG vorwarf, da sie mit den deutschen Händlern ihres Vertriebsnetzes eine konsequente Preisdisziplin beim Verkauf der Volkswagen Passat-Modelle vereinbart habe.

5 Die Kommission erwähnte darin u. a. drei Rundschreiben, die die Klägerin am 26. September 1996 und am 17. April und 26. Juni 1997 an ihre deutschen Händler gerichtet hatte, sowie fünf an einige dieser Händler gerichtete Schreiben vom 24. September und vom 2. und 16. Oktober 1996, vom 18. April 1997 und vom 13. Oktober 1998 (im Folgenden zusammen: streitige Aufforderungen).

6 Die Klägerin antwortete auf diese Mitteilung der Beschwerdepunkte mit Schreiben vom 10. September 1999 und bemerkte, dass der dort beschriebene Sachverhalt im Wesentlichen richtig sei. Die Klägerin stellte keinen Antrag auf eine mündliche Anhörung.

7 Am 15. Januar und 7. Februar 2001 richtete die Kommission zwei neue Auskunftsersuchen an die Klägerin, die diese am 30. Januar bzw. 21. Februar 2001 beantwortete.

8 Am 6. Juli 2001 stellte die Kommission der Klägerin ihre Entscheidung 2001/711/EG vom 29. Juni 2001 in einem Verfahren nach Artikel 81 EG-Vertrag (Sache COMP/F-2/36.693 - Volkswagen) (ABl. L 262, S. 14, im Folgenden: angefochtene Entscheidung) zu.

9 Im verfügenden Teil der angefochtenen Entscheidung heißt es:

"Artikel 1

[Volkswagen] hat einen Verstoß gegen Artikel 81 Absatz 1 des EG-Vertrags begangen, indem sie die Verkaufspreise für das Modell VW Passat dadurch festgesetzt hat, dass sie ihre deutschen Vertragshändler aufgefordert hat, beim Verkauf dieses Modells keine oder nur beschränkte Preisnachlässe an Kunden zu gewähren.

Artikel 2

Wegen des in Artikel 1 genannten Verstoßes wird gegen [Volkswagen] eine Geldbuße in Höhe von 30,96 Mio. EUR verhängt.

...

Artikel 4

Diese Entscheidung ist an [Volkswagen], D-38436 Wolfsburg, gerichtet...."

Verfahren

10 Die Klägerin hat mit Klageschrift, die am 10. September 2001 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.

11 Am 25. Februar 2002, d. h. vier Tage nach Ablauf der dafür gesetzten Frist, hat die Kommission ihre Gegenerwiderung bei der Kanzlei des Gerichts eingereicht, ohne vorher eine Verlängerung dieser Frist beantragt und erhalten oder Umstände vorgetragen zu haben, die die Nichteinhaltung dieser Frist hätten rechtfertigen können. Das Gericht hat diesen Schriftsatz daher als verspätet zurückgewiesen.

12 Auf den Bericht des Berichterstatters hat das Gericht (Vierte Kammer) beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen.

13 Die Parteien haben in der Sitzung vom 18. Juni 2003 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.

Anträge der Beteiligten

14 Die Klägerin beantragt,

- die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären;

- hilfsweise, die in Artikel 2 der angefochtenen Entscheidung verhängte Geldbuße herabzusetzen;

- der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

15 Die Kommission beantragt, - die Klage abzuweisen;

- der Klägerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Entscheidungsgründe

16 Die Klägerin macht geltend, dass die angefochtene Entscheidung für nichtig erklärt werden müsse, da sie nicht gegen Artikel 81 Absatz 1 EG verstoßen habe. Zum einen sei zwischen ihr und ihren deutschen Händlern keine Vereinbarung im Sinne dieser Vorschrift zustande gekommen. Zum anderen seien die streitigen Aufforderungen, unterstellt, dass sie Gegenstand einer Vereinbarung gewesen seien, nicht geeignet gewesen, den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen, und schon gar nicht in spürbarer Weise, so dass Artikel 81 Absatz 1 EG nicht anwendbar sei. Hilfsweise beantragt die Klägerin eine Herabsetzung der mit der angefochtenen Entscheidung gegen sie verhängten Geldbuße.

17 Zunächst ist der auf die Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung gerichtete Hauptantrag und in diesem Zusammenhang der Klagegrund der Klägerin, dass die streitigen Aufforderungen nicht Gegenstand einer Vereinbarung im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 EG zwischen ihr und ihren deutschen Händlern gewesen seien, zu prüfen.

Vorbringen der Beteiligten

18 Die Klägerin trägt zunächst vor, dass die Willensübereinstimmung zwischen Unternehmen nach ständiger Rechtsprechung das zentrale Merkmal des Vereinbarungsbegriffs in Artikel 81 Absatz 1 EG bilde. Einseitige Maßnahmen, die ohne die Zustimmung des jeweiligen Adressaten ergriffen würden, fielen deshalb grundsätzlich nicht unter diese Vorschrift. Sie fielen nur ausnahmsweise darunter, wenn sie lediglich scheinbar einseitig seien, der Adressat ihnen aber tatsächlich stillschweigend zustimme. Dies gelte auch im Zusammenhang mit einem selektiven Vertrieb (Urteile des Gerichtshofes vom 12. Juli 1979 in den Rechtssachen 32/78 und 36/78 bis 82/78, BMW Belgium/Kommission, Slg. 1979, 2435, im Folgenden: Urteil BMW Belgium, vom 25. Oktober 1983 in der Rechtssache 107/82, AEG/Kommission, Slg. 1983, 3151, im Folgenden: Urteil AEG, vom 11. Januar 1990 in der Rechtssache C-277/87, Sandoz prodotti parmaceutici/Kommission, Slg. 1990, I-45, im Folgenden: Urteil Sandoz, und vom 8. Februar 1990 in der Rechtssache C-279/87, Tipp-Ex/Kommission, Slg. 1990, I-261; Urteil des Gerichts vom 26. Oktober 2000 in der Rechtssache T-41/96, Bayer/Kommission, Slg. 2000, II-3383, Randnrn. 71 ff., 162, 167, 169 und 170, im Folgenden: Urteil Bayer).

19 Zu Unrecht behaupte die Kommission daher in Randnummer 62 der angefochtenen Entscheidung, dass einseitige Aufforderungen eine Vereinbarung im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 EG begründeten, wenn sie "bezweck[t]en", den Händler bei der Ausführung seines Vertrages "zu beeinflussen", und schließe auf dieser Grundlage auf das Vorliegen einer Vereinbarung im vorliegenden Fall. Damit versuche die Kommission eine neue Rechtsauffassung durchzusetzen, die nicht nur den Vereinbarungsbegriff erweitere, sondern auch die Beweislastverteilung zu ihren Gunsten verschiebe. Diese Auffassung würde dazu führen, dass bereits der Versuch einer Einflussnahme gegen Artikel 81 Absatz 1 EG verstieße. In Wirklichkeit stellten weder das Urteil des Gerichts vom 6. Juli 2000 in der Rechtssache T-62/98 (Volkswagen/Kommission, Slg. 2000, II-2707, im Folgenden: Urteil Volkswagen), auf das sich die Kommission stütze, noch die Urteile des Gerichtshofes vom 17. September 1985 in den Rechtssachen 25/84 und 26/84 (Ford/Kommission, Slg. 1985, 2725, im Folgenden: Urteil Ford) und vom 24. Oktober 1995 in der Rechtssache C-70/93 (Bayrische Motorenwerke, Slg. 1995, I-3439, im Folgenden: Urteil BMW), auf die sich das Urteil Volkswagen bezogen habe, die Rechtsprechung in Frage, wonach es darauf ankomme, ob eine ausdrückliche oder stillschweigende Zustimmung vorliege.

20 Die Klägerin macht anschließend geltend, dass ebenfalls nach ständiger Rechtsprechung scheinbar einseitige Handlungen nur dann unter Artikel 81 Absatz 1 EG fielen, wenn sie sich in vertragliche Beziehungen "einfüg[t]en", also nach der übereinstimmenden Auslegung beider Vertragsparteien mit den bestehenden Vertragsbeziehungen vereinbar seien. Nur dann könne auch die von der Kommission behauptete "Konkretisierung" der vertraglichen Beziehungen vorliegen. Es reiche daher weder aus, dass die Aufforderungen eines Herstellers an eine bestehende Vertragsbeziehung "anknüpfe", noch, dass sich dieser Hersteller in den Aufforderungen auf den Händlervertrag beziehe.

21 Ein Händler, der sich einem Vertriebsnetz anschließe, könne einer Vertriebspolitik nur so weit zustimmen, wie diese bereits festgelegt sei. Spätere Änderungen könnten durch einseitige Handlungen des Herstellers nur bei entsprechendem Vorbehalt im Vertrag und nur in dessen Grenzen vorgenommen werden. Andernfalls bedürften sie einer beidseitigen Vertragsänderung. Die streitigen Aufforderungen, von denen einige im Übrigen nur von einem Vertriebsleiter der Klägerin auf dessen persönlichem Briefbogen stammten, seien nicht nur objektiv mit dem Händlervertrag und insbesondere dessen § 8 Ziffer 1, der nur unverbindliche Preisempfehlungen vorsehe, unvereinbar, sondern, wie sich insbesondere aus den Reaktionen der Händler Binder und Rütz ergebe, von den Händlern auch so wahrgenommen worden. Das Vorbringen der Kommission, diese Vertragsklausel gewährleiste nicht, dass die Klägerin von verbindlichen Preisvorgaben im Rahmen von § 2 Ziffer 1 dieses Vertrages absehen werde, und daraus, dass ein Verhalten gegen Artikel 81 Absatz 1 EG verstoße, könne nicht geschlossen werden, dass dieses Verhalten außerhalb eines allgemeinen vertraglichen Vorbehalts stehe, sei mit den Methoden der Vertragsauslegung nicht zu vereinbaren. Aus denselben Gründen könne die Kommission nicht suggerieren, dass der Händlervertrag einen impliziten Vorbehalt zugunsten einer Preisfestsetzung enthalte. Ferner bedeute der Umstand, dass in einigen der streitigen Aufforderungen mit der Kündigung des Händlervertrags gedroht worden sei, keinesfalls, dass dieser Vertrag die objektive Rechtsgrundlage für diese Aufforderungen dargestellt habe.

22 Die Kommission gehe daher zu Unrecht davon aus, dass es dahin gestellt bleiben könne, ob die Händler ihre Preisgestaltung infolge der streitigen Aufforderungen überhaupt tatsächlich geändert hätten, und dass genauere Feststellungen dazu nicht erforderlich seien. Eine Vereinbarung könne nur angenommen werden, wenn die Händler den Maßnahmen zugestimmt und - zumindest als Beleg für diese Zustimmung - ihr Preisverhalten auch tatsächlich geändert hätten.

23 Schließlich trägt die Klägerin zum Verhalten der Händler infolge der streitigen Aufforderungen vor, dass sie selbst zwar nicht in der Lage sei, exakt nachzuweisen, dass diese das Preisverhalten der Händler nicht beeinflusst hätten, die von der Kommission in der angefochtenen Entscheidung zitierten Zahlen jedoch nicht etwa signifikante Veränderungen aufdeckten, sondern im Gegenteil eine Erhöhung der Preisnachlässe zeigten. Die Klägerin regt an, zu diesem Punkt einen Zeugen zu laden, und beruft sich auf Zahlen, aus denen sich eine Zunahme der von den Händlern gewährten Nachlässe ergebe.

24 Die Kommission macht geltend, die streitigen Aufforderungen seien Teil des Händlervertrags geworden und daher Vereinbarungen im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 EG.

25 Zunächst brauche in diesem Rahmen nach den Urteilen AEG, Ford, BMW und Volkswagen jedenfalls im Fall selektiver Vertriebssysteme, wie im vorliegenden Fall, die Zustimmung des Händlers zu einer Aufforderung des Herstellers nicht in einem Verhalten gesucht zu werden, das er im Zusammenhang mit der Aufforderung des Herstellers (z. B. im Anschluss an diese) an den Tag lege. Diese Zustimmung sei grundsätzlich schon in seinem Beitritt zu dem Vertriebsnetz zu sehen, gelte also als im Voraus vom Händler erteilt. Dieser Rechtsprechung, auf die sich die angefochtene Entscheidung stütze, stuenden die von der Klägerin zitierten Urteile nicht entgegen, sie bestätigten sie vielmehr.

26 Es bedürfe auch keines ausdrücklichen Vorbehalts im Händlervertrag, damit eine Aufforderung eines Herstellers Vertragsbestandteil werde. Entscheidend sei der Zweck der Aufforderung, die Händler bei der Erfuellung ihres Vertrages mit dem Hersteller zu beeinflussen. So könne eine rechtswidrige Politik eines Herstellers, die dieser hinsichtlich eines rechtmäßigen Händlervertrags ergreife, Bestandteil dieses Vertrages werden, ohne dass es eines ausdrücklichen Vorbehalts im Vertrag bedürfe. Es werde nämlich angenommen, dass die Händler der Vertriebspolitik des Herstellers, die im Zeitpunkt des Beitritts des betreffenden Händlers naturgemäß nicht in allen Einzelheiten vorhersehbar sei, durch den Beitritt zum Vertriebssystem im Voraus zugestimmt hätten. Diese Grundsätze würden auch für die Politik des Herstellers bei den Wiederverkaufspreisen gelten. Die Urteile AEG und Ford bestätigten diese These.

27 Hilfsweise und für den Fall, dass ein ausdrücklicher Vorbehalt für erforderlich gehalten werden sollte, macht die Kommission geltend, dass § 2 Ziffer 1 bzw. Ziffer 6 des Händlervertrags als Vorbehalt anzusehen sei. Die aus § 8 Ziffer 1 des Händlervertrags abgeleiteten Argumente der Klägerin, dass dieser Vertrag keine Klausel über Sanktionen für den Fall enthalte, dass die Empfehlungen des Herstellers nicht befolgt würden, und dass § 2 Ziffer 1 bzw. Ziffer 6 des Vertrages nur in einigen der streitigen Aufforderungen erwähnt werde, stuenden dieser Beurteilung nicht entgegen.

28 Schließlich trägt die Kommission in ihrer Klagebeantwortung vor, dass das tatsächliche Verhalten der Beteiligten infolge der streitigen Aufforderungen zeige, dass die Beteiligten die streitigen Aufforderungen als Teil des Händlervertrags angesehen hätten. Die Argumente der Klägerin hinsichtlich der Deutung der Reaktionen der Händler Binder und Rütz auf die streitigen Aufforderungen und hinsichtlich des Umstands, dass einige der streitigen Aufforderungen von einem Vertriebsleiter der Klägerin stammten, der sie auf seinem persönlichen Briefpapier verfasst habe, stuenden dieser Beurteilung nicht entgegen.

29 Die mit der angefochtenen Entscheidung beanstandete Vereinbarung sei jedoch allein durch die streitigen Aufforderungen begründet worden, da die Händler die Zustimmung dazu bereits im Voraus durch den Beitritt zu dem Vertriebssystem gegeben hätten. Es komme daher nicht darauf an, ob die Händler den streitigen Aufforderungen auch nachträglich durch ihr tatsächliches Verhalten auf dem Gebiet der Preise nochmals zugestimmt hätten. Dies könne dahinstehen (vgl. Randnr. 68 der angefochtenen Entscheidung). Sämtliche Ausführungen der Klägerin zu dieser Frage seien daher unerheblich.

Würdigung durch das Gericht

30 Eine Vereinbarung im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 EG liegt nach ständiger Rechtsprechung schon dann vor, wenn die betreffenden Unternehmen ihren gemeinsamen Willen zum Ausdruck gebracht haben, sich auf dem Markt in einer bestimmten Weise zu verhalten (in diesem Sinne, Urteile des Gerichtshofes vom 15. Juli 1970 in der Rechtssache 41/69, ACF Chemiefarma/Kommission, Slg. 1970, 661, Randnr. 112, und vom 29. Oktober 1980 in den Rechtssachen 209/78 bis 215/78 und 218/78, Van Landewyck u. a./Kommission, Slg. 1980, 3125, Randnr. 86; Urteil des Gerichts vom 17. Dezember 1991 in der Rechtssache T-7/89, Hercules Chemicals/Kommission, Slg. 1991, II-1711, Randnr. 256, und Urteil Bayer, Randnr. 67).

31 Hinsichtlich der Form dieses Ausdrucks eines gemeinsamen Willens genügt es, dass eine Klausel Ausdruck des Willens der Vertragsparteien ist, sich auf dem Markt im Einklang mit ihr zu verhalten (in diesem Sinne, Urteile ACF Chemiefarma/Kommission, Randnr. 112, Van Landewyck u. a./Kommission, Randnr. 86, und Urteil Bayer, Randnr. 68).

32 Folglich ist der Begriff der Vereinbarung im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 EG, wie er in der Rechtsprechung ausgelegt worden ist, durch das Vorliegen einer Willensübereinstimmung zwischen mindestens zwei Parteien gekennzeichnet, deren Ausdrucksform unerheblich ist, sofern sie den Willen der Parteien getreu wiedergibt (Urteil Bayer, Randnr. 69).

33 Nach der Rechtsprechung fällt ferner eine Entscheidung eines Herstellers, die ein einseitiges Verhalten des Unternehmens darstellt, nicht unter das Verbot in Artikel 81 Absatz 1 EG (in diesem Sinne Urteil AEG, Randnr. 38, Urteil Ford, Randnr. 21, Urteil des Gerichts vom 7. Juli 1994 in der Rechtssache T-43/92, Dunlop Slazenger/Kommission, Slg. 1994, II-441, Randnr. 56, und Urteil Bayer, Randnr. 66).

34 Unter bestimmten Umständen sind auch Maßnahmen, die ein Hersteller dem Anschein nach einseitig im Rahmen ständiger Geschäftsbeziehungen zu seinen Vertriebshändlern trifft oder durchsetzt, als Vereinbarung im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 EG angesehen worden (Urteil BMW Belgium, Randnrn. 28 bis 30, Urteil AEG, Randnr. 38, Urteil Ford, Randnr. 21, Urteil Sandoz, Randnrn. 7 bis 12, Urteil BMW, Randnrn. 16 und 17, und Urteil Bayer, Randnr. 70).

35 Dieser Rechtsprechung ist zu entnehmen, dass die Fälle, in denen ein Unternehmen eine wirklich einseitige Maßnahme trifft, d. h., ohne ausdrückliche oder stillschweigende Mitwirkung eines anderen Unternehmens tätig wird, von denen zu unterscheiden sind, in denen nur scheinbar Einseitigkeit vorliegt. Während Erstere nicht unter Artikel 81 Absatz 1 EG fallen, sind Letztere als Vereinbarung zwischen Unternehmen anzusehen und können daher in den Anwendungsbereich dieses Artikels gehören. Dies ist u. a. bei wettbewerbsbeschränkenden Verhaltensweisen und Maßnahmen der Fall, die vom Hersteller scheinbar einseitig im Rahmen seiner vertraglichen Beziehungen zu Wiederverkäufern getroffen werden, jedoch deren zumindest stillschweigende Zustimmung finden (Urteil Bayer, Randnr. 71).

36 Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich aber auch, dass die Kommission bei einem anscheinend einseitigen Verhalten eines Herstellers im Rahmen seiner vertraglichen Beziehungen zu Wiederverkäufern nur dann davon ausgehen darf, dass es in Wirklichkeit Grundlage einer Vereinbarung zwischen Unternehmen im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 EG ist, wenn sie das Vorliegen einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Zustimmung der übrigen Partner zum Verhalten des Herstellers nachweist (in diesem Sinne, Urteil BMW Belgium, Randnrn. 28 bis 30, Urteil AEG, Randnr. 38, Urteil Ford, Randnr. 21, Urteil Sandoz, Randnrn. 7 bis 12, und Urteil Bayer, Randnr. 72).

37 Die Frage, ob die Kommission in der angefochtenen Entscheidung eine Vereinbarung im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 EG zwischen der Klägerin und ihren Vertragshändlern über die streitigen Aufforderungen nachgewiesen hat, ist im Licht dieser Rechtsprechung zu prüfen.

38 Hierzu ist zunächst zu bemerken, dass nicht feststeht, dass die streitigen Aufforderungen umgesetzt wurden. Die Kommission räumt dies u. a. in Randnummer 74 der angefochtenen Entscheidung mit folgender Formulierung ein:

"Unter den Umständen des vorliegenden Falles ist es kaum möglich, das genaue Verhalten der Händler festzustellen...."

39 Das Gericht stellt anschließend fest, dass die Kommission das Vorliegen einer Vereinbarung im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 EG, wie sich im Wesentlichen aus Randnummer 60 der angefochtenen Entscheidung ergibt, in erster Linie darauf stützt, dass die Vertragshändler die streitige Vertriebspolitik der Klägerin bei Abschluss des Händlervertrags stillschweigend akzeptiert hätten. Daher kann nach Ansicht der Kommission dahinstehen, "[o]b und in welchem Umfang die deutschen Volkswagen-Händler ihre Preisgestaltung aufgrund der Rundschreiben und Abmahnungen tatsächlich geändert haben" (Randnr. 68 der angefochtenen Entscheidung).

40 Die Kommission bringt ihre Ansicht erneut in Randnummer 8 ihrer Klagebeantwortung zum Ausdruck, wo es heißt, dass "jedenfalls im Falle selektiver Vertriebssysteme, wie im vorliegenden Fall, die Zustimmung des Händlers zu einer Aufforderung des Herstellers nicht in seinem Verhalten gesucht [zu] werden [braucht], das er im Zusammenhang mit der Aufforderung des Herstellers (z. B. im Anschluss an diese) an den Tag legt". Nach der Auffassung der Kommission ist "[d]iese Zustimmung... grundsätzlich schon in seinem Beitritt zu dem Vertriebsnetz des Herstellers zu sehen" und "gilt also als im Voraus erteilt". Wie die Kommission im Wesentlichen weiter ausführt, sei es nicht von Bedeutung, ob der Vertrag einen ausdrücklichen Vorbehalt enthalte, der eine Aufforderung wie die streitigen Aufforderungen ermögliche. Auch ohne einen solchen Vorbehalt könne diese Aufforderung Bestandteil des Vertrages werden, sich in den Vertrag "einfügen". Entscheidend sei der Zweck dieser Aufforderung, die Händler bei der Erfuellung dieses Vertrages zu beeinflussen (Randnrn. 11 und 12 der Klagebeantwortung).

41 Derselbe Gedanke findet sich in Randnummer 62 der angefochtenen Entscheidung, wo die Kommission das Urteil Volkswagen (Randnr. 236) zitiert und ausführt, dass "an Vertragshändler gerichtete Aufforderungen des Herstellers schon dann eine Vereinbarung begründen, wenn sie "(bezweckten), die Vertragshändler bei der Erfuellung des Vertrags mit (dem Hersteller oder Importeur) zu beeinflussen"".

42 Das Gericht stellt schließlich fest, dass die Kommission nirgends behauptet, dass die Händlerverträge, insbesondere deren § 2 Ziffer 1 oder 6 und § 8 Ziffer 1, gegen das Wettbewerbsrecht verstießen.

43 Aus den vorstehenden Feststellungen ergibt sich, dass die in Randnummer 15 der Klagebeantwortung wiederholte Ansicht der Kommission darauf hinausläuft, dass von einem Händler, der einen wettbewerbsrechtskonformen Händlervertrag abgeschlossen habe, anzunehmen sei, dass er bei und durch diesen Vertragsabschluss im Voraus einer späteren rechtswidrigen Entwicklung dieses Vertrages zustimme, selbst wenn es dem Händler gerade wegen der Wettbewerbsrechtskonformität des Vertrages nicht möglich sei, eine solche Entwicklung vorzusehen.

44 Dieser Ansicht der Kommission, auf die sich die angefochtene Entscheidung in erster Linie stützt und aufgrund deren die Kommission die Frage als unerheblich betrachtet, ob die Händler der Klägerin den streitigen Aufforderungen tatsächlich nachgekommen seien, als sie davon Kenntnis erhalten hätten, als sie ihnen also zugestellt worden seien, kann nicht gefolgt werden.

45 Zwar kommt eine vorherige Zustimmung zu einer Vertragsentwicklung bei und durch den Abschluss eines rechtmäßigen Händlervertrags in Betracht, wenn es sich um eine rechtmäßige Vertragsentwicklung handelt, die entweder im Vertrag vorgesehen ist oder die der Händler im Hinblick auf die Handelsbräuche oder die Rechtslage nicht verweigern kann. Die Annahme, dass bei und durch den Abschluss eines rechtmäßigen Vertriebsvertrags die Zustimmung zu einer rechtswidrigen Vertragsentwicklung im Voraus erteilt wurde, ist jedoch unzulässig. In diesem Fall kann die Zustimmung zur rechtswidrigen Vertragsentwicklung nämlich erst erfolgen, wenn der Händler von der vom Hersteller gewollten Entwicklung Kenntnis erhält.

46 Die Kommission geht in der vorliegenden Rechtssache daher zu Unrecht davon aus, dass der Abschluss des Händlervertrags durch die Händler der Klägerin deren Zustimmung zu den streitigen Aufforderungen umfasst. Diese Annahme widerspricht Artikel 81 Absatz 1 EG, wie er in der in den Randnummern 30 bis 36 zitierten Rechtsprechung ausgelegt wird, da danach der Nachweis einer Willensübereinstimmung erforderlich ist.

47 Die Kommission mißversteht die von ihr zur Stützung ihrer Ansicht angeführte Rechtsprechung, wenn sie ausführt, dass nach den Urteilen AEG, Ford, BMW und Volkswagen jedenfalls im Fall selektiver Vertriebssysteme, wie im vorliegenden Fall, die Zustimmung des Händlers zu einer Aufforderung des Herstellers nicht in einem Verhalten gesucht zu werden brauche, das er im Zusammenhang mit der Aufforderung des Herstellers (z. B. im Anschluss an diese) an den Tag lege, und dass diese Zustimmung grundsätzlich schon in seinem Beitritt zu dem Vertriebsnetz des Herstellers zu sehen sei und also als im Voraus erteilt gelte.

48 Entgegen dem Vorbringen der Kommission hat der Gerichtshof im Urteil AEG nämlich ausdrücklich die Zustimmung der Händler zum wettbewerbswidrigen Verhalten der AEG festgestellt, indem er ausführt, dass "[sich die Zulassung] im Fall der Aufnahme eines Händlers in die Vertriebsbindung... darauf [gründet], dass die Vertragsparteien die von AEG verfolgte Politik, nach der unter anderem Händler, die die Zulassungsvoraussetzungen erfuellen, aber nicht bereit sind, dieser Politik zuzustimmen, vom Händlernetz ausgeschlossen werden, ausdrücklich oder stillschweigend akzeptieren" (Randnr. 38 des Urteils).

49 Anders gesagt, ging der Gerichtshof im Urteil AEG nicht davon aus, dass die Zustimmung der Händler zur wettbewerbswidrigen Politik der AEG eine bei Vertragsschluss im Voraus erteilte Zustimmung zu einer noch nicht bekannten Politik des Herstellers darstelle.

50 Außerdem stellen die Ausführungen in Randnummer 38 des Urteils AEG, wonach das Verhalten der AEG nicht einseitig sei, sondern "[sich] in die vertraglichen Beziehungen ein[füge], die das Unternehmen mit seinen Wiederverkäufern unterhält", keine voraussetzungslose Aussage dar; sie beruhen vielmehr auf der vom Gerichtshof zuvor getroffenen Feststellung der Zustimmung der Händler zu diesem Verhalten, das definitionsgemäß die Beeinflussung dieser vertraglichen Beziehungen bezweckte.

51 Im Urteil Ford betraf der Rechtsstreit nicht die Frage, ob die Händler dem von Ford an sie gerichteten Rundschreiben mit wettbewerbswidriger Zielsetzung zugestimmt hätten. Es stand nämlich fest, dass das Rundschreiben von Ford umgesetzt worden war und dass die Händler sich dem trotz Protesten gebeugt hatten. In dem Rechtsstreit ging es um die Frage, ob dieses von den Beteiligten angewandte Rundschreiben für die Prüfung des Ford-Händlervertrags im Hinblick auf Artikel 81 Absatz 1 EG und auf eine eventuelle Freistellung im Sinne von Artikel 81 Absatz 3 EG mit diesem Vertrag verknüpft werden konnte. Der Gerichtshof hat die Entscheidung, dass die Kommission das streitige Rundschreiben bei ihrer Prüfung des Händlervertrags im Hinblick auf eine eventuelle Freistellung gemäß Artikel 81 Absatz 3 EG berücksichtigen durfte, vor diesem Hintergrund getroffen, nachdem er festgestellt hatte, dass das Rundschreiben mit dem genannten Vertrag verbunden war (Anlage 1 des Vertrages) (Urteil Ford, Randnrn. 20, 21 und 26).

52 Das auf ein Vorabentscheidungsersuchen ergangene Urteil BMW ist im vorliegenden Fall nicht unmittelbar einschlägig. In dieser Rechtssache war die Fragestellung nämlich nicht, ob zwischen BMW und ihren Händlern tatsächlich eine Vereinbarung über den Inhalt des von BMW an die Händler gerichteten Rundschreibens zustande gekommen war, sondern vielmehr, ob diese Aufforderung, unterstellt, dass diese akzeptiert worden war und daher eine Vereinbarung im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 EG darstellte, unter die einschlägige Freistellungsverordnung, nämlich die Verordnung (EWG) Nr. 123/85 der Kommission vom 12. Dezember 1984 über die Anwendung von Artikel [81] Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge (ABl. L 15, S. 16) fiel.

53 In der Rechtssache Volkswagen ergibt sich sowohl aus der Entscheidung der Kommission wie auch aus dem Urteil des Gerichts (vgl. Randnr. 236 des Urteils Volkswagen in Verbindung mit den Randnummern, auf die dort verwiesen wird), vom Gerichtshof mit Urteil vom 18. September 2003 in der Rechtssache C-338/00 P (Volkswagen/Kommission, Slg. 2003, I-0000) bestätigt, eindeutig, dass sich die Maßnahmen des Herstellers tatsächlich ausgewirkt hatten, da die italienischen Händler sich ihnen gefügt und also nicht an ausländische Kunden verkauft hatten. Die Zustimmung der Händler von Volkswagen zu deren wettbewerbswidrigen Maßnahmen stand in dieser Rechtssache daher außer Frage.

54 Das Urteil Volkswagen, in dem der für die Nichtigerklärung der Entscheidung der Kommission vorgebrachte Klagegrund der angeblichen Einseitigkeit der Maßnahmen von Volkswagen zurückgewiesen wurde, beruht somit auf der Feststellung einer Zustimmung, die sich aus der Umsetzung der Maßnahmen des Herstellers ergibt.

55 Nach alledem stützt die Kommission ihre Ansicht, dass der Abschluss eines Vertriebsvertrages grundsätzlich und unwiderlegbar die stillschweigende Zustimmung zu eventuellen rechtwidrigen Entwicklungen dieses Vertrages mit sich bringe, zu Unrecht auf die Urteile AEG, Ford, BMW und Volkswagen.

56 Außerdem stehen der von der Kommission in der vorliegenden Rechtssache vertretenen Ansicht eindeutig die von der Klägerin angeführten Urteile Sandoz, BMW Belgium, Bayer und Tipp-Ex/Kommission entgegen. Alle diese Urteile fordern nämlich für die Feststellung des Vorliegens einer Vereinbarung im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 EG den Nachweis einer Willensübereinstimmung. Zudem muss sich diese Willensübereinstimmung nach den in den Randnummern 30 und 31 angeführten Urteilen auf ein bestimmtes Verhalten beziehen, das den Beteiligten daher bei der Zustimmung bekannt sein muss.

57 Im Übrigen ergibt sich aus der Rechtsprechung entgegen dem Vorbringen der Kommission nicht, dass dafür, dass sich eine Aufforderung in einen Vertrag einfügt, entscheidend ist, dass diese Aufforderung die Beeinflussung des Händlers bei der Durchführung des Vertrages bezweckt. Anderenfalls würde die Übermittlung einer Aufforderung des Herstellers an seine Händler stets zur Feststellung einer Vereinbarung führen, da eine derartige Aufforderung per definitionem die Beeinflussung der Händler bei der Durchführung ihres Vertrages bezweckt.

58 Eine Aufforderung fügt sich hingegen dann in einen bereits bestehenden Vertrag ein, wird also Bestandteil dieses Vertrages, wenn sie zwar auch die Beeinflussung der Händler bei der Durchführung des Vertrages bezweckt, vor allem aber die Händler ihr in irgendeiner Form tatsächlich zustimmen.

59 Im vorliegenden Fall hat die Kommission nur geltend gemacht, dass die streitigen Aufforderungen die Beeinflussung der Händler bei der Durchführung ihres Vertrages bezweckten, was offenkundig ist. Sie hielt es nicht für erforderlich, die tatsächliche Zustimmung der Händler zu diesen Aufforderungen nach Kenntnisnahme nachzuweisen, sondern nahm irrig an, dass der Abschluss eines rechtmäßigen Vertrages die im Voraus erteilte stillschweigende Zustimmung zu den genannten Aufforderungen umfasse. Daher ist festzustellen, dass die Kommission das Vorliegen einer Vereinbarung im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 EG nicht nachgewiesen hat.

60 Hinzu ist festzustellen, dass die Randnummern 66 und 67 der angefochtenen Entscheidung, in denen es um die Beurteilung des Verhaltens, der Schreiben und der Erklärungen der Beteiligten geht, nicht den Nachweis erbringen soll, dass die Händler den streitigen Aufforderungen zugestimmt haben, als sie davon Kenntnis erhalten haben. Mit diesen Randnummern möchte die Kommission lediglich ihre in den Randnummern 63 bis 65 der angefochtenen Entscheidung dargelegte Auslegung des Vertrages begründen, aus der das nachfolgend geprüfte Hilfsvorbringen der Kommission besteht, dass die streitigen Aufforderungen zumindest durch eine in § 2 Ziffer 1 oder 6 des Händlervertrags begründete organische Verbindung mit dem genannten Vertrag verbunden seien. In diesem Sinne ist auch das Vorbringen der Kommission in Randnummer 29 ihrer Klagebeantwortung zu verstehen, dass die Händler die streitigen Aufforderungen als "Teil" des Vertrages angesehen hätten.

61 Die Kommission macht hilfsweise geltend, wenn die Feststellung, dass sich die streitigen Aufforderungen in den Vertrag einfügten, einen Vorbehalt im Händlervertrag voraussetze, müsse § 2 Ziffer 1 oder 6 dieses Vertrages als derartiger Vorbehalt angesehen werden. § 8 Ziffer 1 dieses Vertrages bezwecke nicht die Begrenzung des § 2 Ziffer 1 oder 6, indem er dessen Anwendung auf verbindliche Aufforderungen über Verkaufspreise verhindere.

62 Diesem Hilfsvorbringen kann nicht gefolgt werden.

63 § 2 Ziffer 1 oder 6 des Händlervertrags, wonach die Händler verpflichtet sind, "die Interessen [von Volkswagen], der Volkswagen Vertriebsorganisation sowie der Marke Volkswagen zu vertreten und in jeder Weise zu fördern", kann nur so ausgelegt werden, dass er sich nur auf gesetzmäßige Mittel bezieht. Das Gegenteil zu behaupten, hieße nämlich, aus einer derartigen neutral formulierten Vertragsklausel zu schließen, dass sich die Händler durch einen rechtswidrigen Vertrag gebunden hätten.

64 Auch § 8 Ziffer 1 des Händlervertrags ist neutral formuliert und schließt sogar eher die Befugnis von Volkswagen aus, verbindliche Preisempfehlungen auszusprechen.

65 Dass die Kommission in Randnummer 65 der angefochtenen Entscheidung bemerkt, § 8 Ziffer 1 des Händlervertrags bedeute "keine spezifische Garantie zugunsten der Händler, dass der Hersteller auch in aller Zukunft von verbindlichen Preisvorgaben... absehen" werde, unterstreicht lediglich die Neutralität dieser Klausel und die Tatsache, dass sie keine verbindlichen Maßnahmen ankündigt.

66 Schließlich folgt daraus, dass Volkwagen sich in den streitigen Aufforderungen auf § 2 des Händlervertrags beruft, nicht, dass diese Aufforderungen sich objektiv auf diese Klausel stützen können. Ob eine organische Verbindung zwischen § 2 des Händlervertrags und den streitigen Aufforderungen besteht, lässt sich nämlich nur objektiv durch Prüfung der betreffenden Klauseln und unabhängig von späteren Äußerungen der Vertragsparteien feststellen. Wie jedoch bereits dargelegt wurde, ergibt sich aus dem Wortlaut des § 2, dass diese Vorschrift keine wettbewerbswidrige Entwicklung des Vertrages vorsah.

67 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass das Hilfsvorbringen der Kommission, dass § 2 Ziffer 1 oder 6 des Händlervertrags der einschlägige Vorbehalt sei, der die Zustimmung zu den streitigen Aufforderungen bei Vertragsabschluss bewirke, unzutreffend ist.

68 Nach alledem hat die Kommission in der angefochtenen Entscheidung den Nachweis einer Willensübereinstimmung zwischen der Klägerin und ihren Händlern hinsichtlich der streitigen Aufforderungen nicht erbracht. Daher wurde die angefochtene Entscheidung unter Verstoß gegen Artikel 81 Absatz 1 EG erlassen und ist für nichtig zu erklären, ohne dass der weitere Nichtigkeitsgrund der Klägerin oder der Hilfsantrag auf Herabsetzung der Geldbuße geprüft werden müssten.

Kostenentscheidung:

Kosten

69 Nach Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission unterlegen ist, ist sie entsprechend dem Antrag der Klägerin zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DAS GERICHT

(Vierte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1. Die Entscheidung 2001/711/EG der Kommission vom 29. Juni 2001 in einem Verfahren nach Artikel 81 EG-Vertrag (Sache COMP/F-2/36.693 - Volkswagen) wird für nichtig erklärt.

2. Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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