Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäisches Gericht
Urteil verkündet am 29.06.1995
Aktenzeichen: T-30/91
Rechtsgebiete: EWG, VO 17, EG


Vorschriften:

EWG Art. 85
EWG Art. 191
EWG Art. 190
EWG Art. 177
VO 17 Art. 20
EG Art. 214
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Selbst wenn die Kommission für den Erlaß einer Entscheidung nach Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages belastende Schriftstücke verwendet hätte, die einem der beschuldigten Unternehmen im Verwaltungsverfahren nicht übermittelt wurden, und dieses Vorgehen wegen Verletzung der Verteidigungsrechte dieses Unternehmens als rechtswidrig anzusehen wäre, könnte dieser Verfahrensfehler nur dazu führen, daß diese Schriftstücke als Beweismaterial unberücksichtigt blieben. Dies hätte keineswegs die Nichtigerklärung der gesamten Entscheidung zur Folge, sondern wäre nur insoweit von Belang, als der entsprechende Vorwurf der Kommission nur unter Heranziehung dieser Schriftstücke bewiesen werden könnte.

2. Die Akteneinsicht in Wettbewerbssachen soll den Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte in die Lage versetzen, von den in den Akten der Kommission vorhandenen Beweisstücken Kenntnis zu nehmen, um aufgrund dieser Beweisstücke in zweckmässiger Weise zu den Schlußfolgerungen Stellung nehmen zu können, zu denen die Kommission in der Mitteilung ihrer Beschwerdepunkte gelangt ist.

Die Akteneinsicht gehört somit zu den Verfahrensgarantien, die die Rechte der Verteidigung schützen sollen. Die tatsächliche Beachtung dieses allgemeinen Grundsatzes erfordert es, dem betroffenen Unternehmen bereits im Verwaltungsverfahren Gelegenheit zu geben, zum Vorliegen und zur Erheblichkeit der von der Kommission angeführten Tatsachen, Rügen und Umstände gebührend Stellung zu nehmen.

Eine eventuelle Verletzung der Verteidigungsrechte und deren Folgen sind vom Gericht anhand der besonderen Umstände jedes einzelnen Falles zu beurteilen. Es lässt sich nämlich nur anhand der Rügen, an denen die Kommission gegenüber dem betreffenden Unternehmen tatsächlich festhält, und anhand des Verteidigungsvorbringens des Unternehmens entscheiden, ob die nicht übermittelten Unterlagen für diese Verteidigung von Bedeutung sind. Dies gilt sowohl für die Unterlagen, die das Unternehmen eventuell entlasten, als auch für solche, die die behauptete Zuwiderhandlung belegen.

3. Eine abgestimmte Verhaltensweise ist dadurch gekennzeichnet, daß sie an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs eine Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen treten lässt, die die Ungewißheit jedes Unternehmens über das zukünftige Verhalten seiner Wettbewerber verringert.

Ein Parallelverhalten kann nur dann als Beweis für eine Abstimmung angesehen werden, wenn es sich nur durch die Abstimmung einleuchtend erklären lässt. Es ist daher zu prüfen, ob das festgestellte Parallelverhalten sich nicht unter Berücksichtigung der Art der Erzeugnisse, der Grösse und der Anzahl der Unternehmen sowie des Marktvolumens anders als durch eine Abstimmung erklären lässt, mit andern Worten, ob die einzelnen Elemente des Parallelverhaltens ein Bündel von ernsthaften, genauen und übereinstimmenden Indizien für eine vorherige Abstimmung darstellen.

4. Im Rahmen eines nach der Verordnung Nr. 17 durchgeführten kontradiktorischen Verfahrens kann die Kommission nicht allein entscheiden, welche Schriftstücke der Verteidigung dienlich sind. Da es sich um schwierige und komplexe wirtschaftliche Beurteilungen handelt, muß die Kommission den Bevollmächtigten des betreffenden Unternehmens die Möglichkeit einräumen, die Schriftstücke, die möglicherweise erheblich sind, im Hinblick auf ihren Beweiswert für die Verteidigung zu prüfen.

Dies gilt insbesondere in den Fällen eines Parallelverhaltens, das durch eine Reihe zusammenhängender, ursprünglich neutraler Handlungen gekennzeichnet ist, wenn die Schriftstücke sowohl zugunsten als auch zuungunsten der betroffenen Unternehmen ausgelegt werden können. In diesen Fällen muß verhindert werden, daß ein eventueller Irrtum der Beamten der Kommission, wenn sie ein Schriftstück als "neutral" einstufen und als überfluessiges Beweismittel den Unternehmen nicht übermitteln, die Verteidigung dieser Unternehmen beeinträchtigen kann. Ein solcher Irrtum könnte ausser in dem sehr seltenen Fall einer freiwilligen Zusammenarbeit zwischen den betroffenen Unternehmen nicht rechtzeitig vor der Entscheidung der Kommission entdeckt werden, was nicht hinnehmbare Risiken für eine geordnete Rechtspflege beinhalten würde, da die ordnungsgemässe Durchführung eines Wettbewerbsverfahrens Aufgabe der Kommission ist und diese die Durchführung daher nicht den Unternehmen übertragen kann, deren wirtschaftliche und verfahrensrechtliche Interessen oft entgegengesetzt sind.

Angesichts des allgemeinen Grundsatzes der Waffengleichheit, wonach in einer Wettbewerbssache das betroffene Unternehmen die im Verfahren herangezogenen Unterlagen in gleicher Weise kennen muß wie die Kommission, kann nicht akzeptiert werden, daß bei der Entscheidung über die Zuwiderhandlung nur die Kommission im Besitz bestimmter Schriftstücke ist und allein darüber entscheiden kann, ob sie diese gegen das Unternehmen verwendet, während dieses keinen Zugang zu den Schriftstücken hat und somit die entsprechende Entscheidung, ob es von ihnen für seine Verteidigung Gebrauch machen soll, nicht treffen kann. In einem solchen Fall würden die Verteidigungsrechte, die dem Unternehmen im Verwaltungsverfahren zustehen, zu sehr gegenüber den Befugnissen der Kommission eingeschränkt, denn diese würde dann sowohl die Funktion der Mitteilung der Rügen als auch die Entscheidungsfunktion ausüben und dabei eine gründlichere Kenntnis der Unterlagen besitzen als die Verteidigung.

Somit liegt eine Verletzung der Verteidigungsrechte eines Unternehmens vor, wenn die Kommission schon bei der Mitteilung der Beschwerdepunkte in ihrem Besitz befindliche Schriftstücke, die der Verteidigung des Unternehmens eventuell dienlich sein könnten, vom Verfahren ausschließt. Eine solche Verletzung der Verteidigungsrechte stellt einen objektiven Tatbestand dar und hängt nicht von der Gut- oder Bösgläubigkeit der Beamten der Kommission ab.

5. Wenn auch nach einem allgemeinen Grundsatz, der für das Verwaltungsverfahren zur Anwendung der Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft gilt und in Artikel 214 des Vertrages sowie in verschiedenen Bestimmungen der Verordnung Nr. 17 zum Ausdruck kommt, die Unternehmen ein Recht auf Schutz ihrer Geschäftsgeheimnisse haben, muß dieses Recht jedoch mit der Gewährleistung der Verteidigungsrechte in Einklang gebracht werden und kann die Weigerung der Kommission nicht rechtfertigen, die einem Unternehmen zu seiner Verteidigung möglicherweise dienlichen Unterlagen, sei es auch nur in nichtvertraulichen Fassungen oder in Form der Übermittlung eines Verzeichnisses von der Kommission zusammengetragener Schriftstücke, zu übermitteln.

6. Die Verletzung der Verteidigungsrechte eines Unternehmens, dem ein Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft zur Last gelegt wird, im Verwaltungsverfahren kann in dem gerichtlichen Verfahren nicht mehr geheilt werden, das sich auf eine richterliche Kontrolle beschränkt, die nur im Rahmen der geltend gemachten Angriffs- und Verteidigungsmittel erfolgt, und das daher eine vollständige Aufklärung des Falles im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens nicht ersetzen kann.


URTEIL DES GERICHTS ERSTER INSTANZ (ERSTE ERWEITERTE KAMMER) VOM 29. JUNI 1995. - SOLVAY SA GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - WETTBEWERB - ABGESTIMMTE VERHALTENSWEISE - UNSCHULDSVERMUTUNG - VERWALTUNGSVERFAHREN - VERTEIDIGUNGSRECHTE - WAFFENGLEICHHEIT - AKTENEINSICHT. - RECHTSSACHE T-30/91.

Entscheidungsgründe:

Sachverhalt und Verfahren

Wirtschaftlicher Hintergrund

1 Das Erzeugnis, das Gegenstand des Verfahrens ist, ist Soda. Soda wird für die Glasherstellung (schwere Soda) und in der chemischen Industrie sowie in der Metallbearbeitung (leichte Soda) verwendet. Zu unterscheiden ist zwischen Natursoda (schwere Soda), die hauptsächlich in den Vereinigten Staaten von Amerika abgebaut wird, und synthetischer Soda (schwere und leichte Soda), die in Europa in einem von der Klägerin vor 100 Jahren erfundenen Verfahren hergestellt wird; die Produktionskosten sind bei Natursoda sehr viel niedriger als bei synthetischer Soda.

2 Im entscheidungserheblichen Zeitraum gab es in der Gemeinschaft sechs Hersteller von synthetischer Soda:

° die Klägerin, in der Gemeinschaft und weltweit der grösste Hersteller, mit einem Marktanteil innerhalb der Gemeinschaft von fast 60 % (und sogar 70 % innerhalb der Gemeinschaft ohne das Vereinigte Königreich und Irland);

° Imperial Chemical Industries plc (nachstehend: ICI), der zweitgrösste Hersteller in der Gemeinschaft, mit einem Marktanteil im Vereinigten Königrech von mehr als 90 %;

° die "kleinen" Hersteller: Chemische Fabrik Kalk (nachstehend: CFK) sowie Matthes & Weber (Deutschland), Akzo (Niederlande) und Rhône-Poulenc (Frankreich), die zusammen einen Anteil von etwa 26 % halten.

3 Die Klägerin hat Werke in Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Portugal und Österreich und ist in diesen Ländern sowie in der Schweiz, den Niederlanden und Luxemburg mit eigenen Verkaufsorganisationen tätig. Ausserdem ist sie der grösste Salzhersteller in der Gemeinschaft und befindet sich daher in einer sehr günstigen Position für die Lieferung des wichtigsten Rohstoffes für synthetische Soda. ICI besitzt zwei Werke im Vereinigten Königreich, während eine dritte Produktionsanlage 1985 stillgelegt wurde.

4 Auf der Nachfrageseite sind die Glashersteller die wichtigsten Abnehmer in der Gemeinschaft. So werden etwa 70 % des Ausstosses der westeuropäischen Hersteller für die Herstellung von Flachglas und Hohlglas verwendet. Die meisten Glashersteller betreiben Continuum-Anlagen und sind auf eine gesicherte Sodaversorgung angewiesen. In den meisten Fällen hatten sie für den überwiegenden Teil ihres Bedarfs relativ langfristige Verträge mit einem Hauptlieferanten und nahmen als Vorsichtsmaßnahme einen anderen Lieferanten als "Zweitlieferanten" unter Vertrag.

5 Im entscheidungserheblichen Zeitraum war der Gemeinschaftsmarkt durch eine Aufteilung entsprechend den nationalen Grenzen gekennzeichnet, da die Hersteller in der Regel ihren Absatz auf diejenigen Mitgliedstaaten konzentrierten, in denen sie über Produktionsanlagen verfügten. Zwischen der Klägerin und ICI bestand kein Wettbewerb, da beide Unternehmen ihren Absatz in der Gemeinschaft auf ihre angestammten "Einflußsphären" (die Klägerin auf das kontinentale Westeuropa, ICI auf das Vereinigte Königreich und Irland) beschränkten. Diese Aufteilung des Marktes geht auf das Jahr 1870 zurück, als die Klägerin erstmals Lizenzen an Brunner, Mond & Co vergab, eines der Unternehmen, die später ICI gründeten. Im übrigen war die Klägerin einer der Hauptaktionäre von Brunner, Mond & Co, später von ICI, bis sie in den 60er Jahren ihre Anteile verkaufte. Die nacheinander geschlossenen Marktaufteilungsabsprachen, zuletzt in den Jahren 1945 bis 1949, waren nach Aussage der Klägerin und von ICI 1962 hinfällig und wurden 1972 formell aufgehoben.

Verwaltungsverfahren

6 Zu Beginn des Jahres 1989 führte die Kommission bei den wichtigsten Sodaherstellern der Gemeinschaft unangemeldet Nachprüfungen durch. Bei Abschluß dieser Nachprüfungen wies die Klägerin die Kommission mit Schreiben vom 27. April 1989 darauf hin, daß die in ihren Geschäftsräumen in Form von Kopien mitgenommenen Schriftstücke vertraulich seien. Die Kommission bestätigte mit Schreiben vom 22. Mai 1989, daß Artikel 20 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages (ABl. 1962, S. 204; nachstehend: Verordnung Nr. 17) auf die während dieser Nachprüfungen aufgefundenen Schriftstücke Anwendung finde. Die Nachprüfungen wurden durch die Einholung von Auskünften ergänzt. Die Klägerin erteilte die erbetenen Auskünfte mit Schreiben vom 18. September 1989, in dem sie an die Vertraulichkeit der übermittelten Unterlagen erinnerte. Anläßlich dieser Nachprüfungen und Auskunftsverlangen wies auch ICI mit Schreiben vom 13. April und 14. September 1989 auf die Vertraulichkeit ihrer Unterlagen hin.

7 Die Kommission übermittelte der Klägerin anschließend mit Schreiben vom 13. März 1990 eine Mitteilung der Beschwerdepunkte, die in mehrere Teile gegliedert war:

° Der erste Teil bezieht sich auf das Verfahren;

° der zweite Teil betrifft eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 85 EWG-Vertrag, die der Klägerin und ICI vorgeworfen wird (an die die entsprechenden Anlagen II.1 bis II.42 gerichtet sind);

° der dritte Teil betrifft eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 85, die der Klägerin (an die die entsprechenden Anlagen III.1 bis III.12 gerichtet sind) und der CFK vorgeworfen wird;

° der vierte Teil betrifft eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 86 EWG-Vertrag, die der Klägerin vorgeworfen wird (an die die entsprechenden Anlagen IV.1 bis IV.180 gerichtet sind);

° ein fünfter Teil (mit Anlagen, die das Aktenzeichen V tragen), der sich auf einen ICI zur Last gelegten Verstoß gegen Artikel 86 bezieht, gehört nicht zu der an die Klägerin gerichteten Mitteilung der Beschwerdepunkte; das Schreiben vom 13. März 1990 enthält dazu folgenden Hinweis: "Der V. Teil betrifft Solvay nicht."

° Der sechste Teil bezieht sich auf die Frage der eventuell festzusetzenden Geldbussen.

8 Unter Hinweis auf die Bedeutung, die der Wahrung der Vertraulichkeit der nach der Verordnung Nr. 17 erlangten Unterlagen zukomme, erklärte die Kommission in diesem Schreiben vom 13. März 1990, daß die Beweismittel in den Anlagen II.1 bis II.42 jedem der betroffenen Unternehmen übersandt worden seien, wobei "die Informationen, die Geschäftsgeheimnisse darstellen können oder absatzstrategisch sensibel sind und sich nicht unmittelbar auf die zur Last gelegte Zuwiderhandlung beziehen, aus diesen Unterlagen entfernt worden sind". Schließlich teilte die Kommission jedem Unternehmen die Antworten des anderen Unternehmens nach Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 mit, wobei sie erklärte, daß "die Informationen, die Geschäftsgeheimnisse darstellen können, (ebenfalls) aus diesen Antworten entfernt worden sind".

9 Am 28. Mai 1990 nahm die Klägerin zu dieser Mitteilung der Beschwerdepunkte schriftlich Stellung. Mit Schreiben vom 29. Mai 1990 lud die Kommission die Klägerin zu einer vom 25. bis 27. Juni 1990 vorgesehenen Anhörung über die der Klägerin und ICI zur Last gelegten Zuwiderhandlungen ein. Die Klägerin teilte mit Schreiben vom 14. Juni 1990 mit, daß sie an dieser Anhörung nicht teilnehmen werde. Die Anhörung fand am 26. und 27. Juni statt, und an ihr nahm nur ICI teil.

10 Die Klägerin erhob mit Schreiben vom 20. September 1990 an die Kommission Einspruch dagegen, daß diese in der Anhörung bestimmte Unterlagen oder Teile davon verwertet habe, die nicht in den der Klägerin übermittelten Akten enthalten gewesen seien, wobei sie andere Unterlagen oder Teile davon, die sie hätte anführen können, unberücksichtigt gelassen habe. In diesem Zusammenhang forderte die Klägerin die Kommission auf, sich so zu verhalten, daß ihre Verteidigungsrechte in vollem Umfang gewahrt blieben.

11 Die Kommission erwiderte mit Schreiben vom 1. Oktober 1990, sie habe in der Anhörung lediglich als Antwort auf ein von ICI dort vorgetragenes Argument etwa 10 bei ICI aufgefundene Schriftstücke mit dem Aktenzeichen "X.1 bis X.11" beigezogen. Auf ausdrücklichen Antrag von ICI seien diese Unterlagen wegen ihres teilweise vertraulichen Charakters der Mitteilung der Beschwerdepunkte nicht beigefügt worden. In dem Glauben, daß ICI der Klägerin inzwischen Kopien der betreffenden Schriftstücke nach Herausnahme der vertraulichen Stellen hatte zugehen lassen, gab die Kommission der Klägerin Gelegenheit, binnen zwei Wochen dazu ergänzend Stellung zu nehmen.

12 Die Klägerin erläuterte in ihrem Schreiben vom 17. Oktober 1990, daß ihr vorangegangenes Schreiben sich nicht auf die Unterlagen mit dem Aktenzeichen X. bezogen habe, die die Kommission in der Anhörung vorgelegt habe und die von nur geringem Interesse für die Klägerin seien. Die erheblichen Dokumente seien diejenigen gewesen, die ICI in der Anhörung zu ihrer Verteidigung verwendet habe und die sie der Klägerin inzwischen übermittelt habe. Es handele sich um sechs Schriftstücke, die von ICI stammten und geeignet seien, die Klägerin zu entlasten. Ausserdem seien zwei weitere Schriftstücke der Mitteilung der Beschwerdepunkte nur in Fassungen beigefügt gewesen, in denen Stellen willkürlich herausgestrichen worden seien (II.25 und II.34). Die Klägerin beanstandete diese Art des Vorgehens und nahm in diesem Zusammenhang Bezug auf die Erklärungen von ICI in der Anhörung.

13 Die Kommission erläuterte dazu in ihrer Antwort vom 30. Oktober 1990, die Schriftstücke enthielten weder neue Informationen für die Klägerin noch Angaben, die zur Stützung der gegen die betroffenen Unternehmen erhobenen Vorwürfe herangezogen worden seien. Die Kommission werde jedoch den von der Klägerin in ihrem Schreiben vom 17. Oktober 1990 vorgetragenen Argumenten Rechnung tragen.

14 Nach den Akten hat das Kollegium der Kommissionsmitglieder nach Beendigung dieses Verfahrens auf seiner 1 040. Sitzung vom 17. und 19. Dezember 1990 die Entscheidung 91/297/EWG in einem Verfahren nach Artikel 85 EWG-Vertrag (IV/33.133-A: Soda ° Solvay, ICI, ABl. 1991, L 152, S. 1, nachstehend: Entscheidung) erlassen. In dieser Entscheidung wird im wesentlichen festgestellt, daß die Klägerin und ICI vom 1. Januar 1973 an bis Anfang 1989 an einer abgestimmten Verhaltensweise hinsichtlich der Aufteilung des westeuropäischen Sodamarktes beteiligt gewesen seien, indem sie das kontinentale Westeuropa der Klägerin und das Vereinigte Königreich sowie Irland ICI vorbehalten hätten. Infolgedessen ist mit dieser Entscheidung gegen jedes Unternehmen eine Geldbusse von 7 Millionen ECU festgesetzt worden.

15 Auf dieser Sitzung erließ die Kommission ausserdem

° die Entscheidung 91/299/EWG in einem Verfahren nach Artikel 86 EWG-Vertrag (IV./33.133-C: Soda ° Solvay, ABl. 1991, L 152, S. 21), mit der sie im wesentlichen feststellte, daß die Klägerin ihre beherrschende Stellung mißbraucht habe, die sie auf dem Markt des kontinentalen Westeuropas innehabe, und mit der sie eine Geldbusse von 20 Millionen ECU gegen sie festsetzte;

° die Entscheidung 91/300/EWG in einem Verfahren nach Artikel 86 EWG-Vertrag (IV/33.133-D: Soda ° ICI, ABl. 1991, L 152, S. 40), mit der sie im wesentlichen feststellte, daß ICI ihre beherrschende Stellung im Vereinigten Königreich mißbraucht habe, und mit der sie eine Geldbusse von 10 Millionen ECU gegen sie festsetzte. Die in der Entscheidung 91/300 festgestellte Zuwiderhandlung ist im wesentlichen dadurch gekennzeichnet, daß ICI ihren Kunden "Spitzenrabatte" angeboten hatte, d. h. ihnen Anreize geboten hatte, nicht nur ihre "Kernmenge", sondern auch die darüber hinausgehende Menge oder "Spitzenmenge" von ICI zu beziehen, die sie andernfalls von einem Zweitlieferanten hätten beziehen können. Wie in der Entscheidung festgestellt wird, hatte ICI in mehreren Fällen Druck auf ihre Kunden ausgeuebt, um deren Zusage zu erwirken, (mehr oder weniger) ihren gesamten Bedarf von ICI zu beziehen, damit sich der Wettbewerbseffekt der anderen Lieferanten auf ein Mindestmaß verringerte und ihr Quasi-Monopol im Vereinigten Königreich erhalten blieb. In diesem Zusammenhang wird unter Nummer 4 der Entscheidung 91/300 darauf hingewiesen, daß ICI bis zum Ende der 70er Jahre ein Monopol für die Belieferung des Vereinigten Königreichs mit Soda besessen habe.

16 Das Gericht hat im Rahmen der vorliegenden Rechtssache von den Entscheidungen 91/299 und 91/300 vom 19. Dezember 1990 Kenntnis genommen. Es hat sie im vorliegenden Verfahren von Amts wegen beigezogen.

17 Die mit der vorliegenden Klage angefochtene Entscheidung wurde der Klägerin mit eingeschriebenem Brief vom 1. März 1991 zugestellt.

18 Es ist unstreitig, daß die zugestellte Entscheidung nicht gemäß dem seinerzeit geltenden Artikel 12 Absatz 1 der Geschäftsordnung 63/41/EWG der Kommission vom 9. Januar 1963 (ABl. 1963, Nr. 17, S. 181), die nach Artikel 1 des Beschlusses 67/426/EWG der Kommission vom 6. Juli 1967 (ABl. 1967, Nr. 147, S. 1) vorläufig weiterhin gilt und zuletzt durch Beschluß 86/61/EWG, Euratom, EGKS der Kommission vom 8. Januar 1986 (ABl. L 72, S. 34) geändert worden ist (im folgenden: Geschäftsordnung), durch die Unterschriften des Präsidenten und des Exekutivsekretärs festgestellt worden ist.

Gerichtliches Verfahren

19 Aufgrund dessen hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben, die am 2. Mai 1991 in das Register der Kanzlei des Gerichts eingetragen worden ist. Die Entscheidung ist ebenfalls Gegenstand einer Klage von ICI (T-36/91).

20 Das schriftliche Verfahren ist ordnungsgemäß abgelaufen. Nach Beendigung des schriftlichen Verfahrens hat die Klägerin am 10. April 1992 einen Schriftsatz zur Erweiterung der Klage eingereicht, mit dem sie ein neues Angriffsmittel geltend macht und beantragt, die angefochtene Entscheidung für inexistent zu erklären. Unter Hinweis auf zwei Zeitungsartikel, die im Wall Street Journal vom 28. Februar 1992 und in der Financial Times vom 2. März 1992 erschienen sind, macht sie u. a. geltend, die Kommission habe öffentlich erklärt, es sei jahrelange Praxis, daß vom Kommissionskollegium angenommene Rechtsakte nicht festgestellt würden, und seit 25 Jahren sei keine Entscheidung mehr Gegenstand einer Feststellung gewesen. Diese Erklärungen der Kommission hätten sich auf seinerzeit beim Gericht anhängige Rechtssachen bezogen, die mehrere Klagen betroffen hätten, die gegen eine andere Entscheidung der Kommission, mit der diese ein Kartell im Polyvinylchloridbereich festgestellt habe, erhoben worden seien und die zum Urteil des Gerichts vom 27. Februar 1992 geführt hätten (Rechtssachen T-79/89, T-84/89, T-85/89, T-86/89, T-89/89, T-91/89, T-92/89, T-94/89, T-96/89, T-98/89, T-102/89 und T-104/89, BASF u. a./Kommission, Slg. 1992, II-315, nachstehend: PVC-Urteil). Die Kommission hat zu der Klageerweiterung innerhalb der Frist, die ihr der Präsident der Ersten Kammer gemäß Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung gesetzt hat, schriftlich Stellung genommen.

21 Mit Beschluß vom 14. Juli 1993 hat der Präsident der Ersten Kammer die vorliegende Rechtssache und die Rechtssache T-36/91 zu gemeinsamem mündlichen Verfahren verbunden.

22 Im März 1993 hat das Gericht (Erste Kammer) ° als prozeßleitende Maßnahme ° beschlossen, den Parteien mehrere Fragen u. a. hinsichtlich der Einsicht der Klägerin in die Akten der Kommission zu stellen. Die Parteien haben auf diese Fragen im Mai 1993 geantwortet. Nachdem der Gerichtshof mit Urteil vom 15. Juni 1994 in der Rechtssache C-137/92 P (Kommission/BASF u. a., Slg. 1994, I-2555) über das Rechtsmittel gegen das PVC-Urteil des Gerichts entschieden hatte, hat das Gericht (Erste erweiterte Kammer) weitere prozeßleitende Maßnahmen erlassen, durch die es die Kommission insbesondere aufgefordert hat, u. a. die Entscheidung, wie sie seinerzeit durch die Unterschriften des Präsidenten und des Generalsekretärs in den verbindlichen Sprachen festgestellt und dem Protokoll beigefügt worden ist, vorzulegen.

23 Die Kommission hat in ihrer Antwort erklärt, daß sie es für angezeigt halte, nicht auf die Begründetheit des Angriffsmittels der fehlenden Feststellung der angefochtenen Entscheidung einzugehen, solange das Gericht nicht über die Zulässigkeit dieses Angriffsmittels entschieden habe.

24 Das Gericht (Erste erweiterte Kammer) hat der Kommission aufgrund dessen mit Beschluß vom 25. Oktober 1994 gemäß Artikel 65 der Verfahrensordnung aufgegeben, den genannten Text vorzulegen.

25 Die Kommission hat gemäß diesem Beschluß am 11. November 1994 u. a. die Entscheidung 91/297 in französischer und in englischer Sprache vorgelegt. Auf dem Deckblatt der Entscheidung ist ein nicht datierter Feststellungsvermerk angebracht, der vom Präsidenten und dem Exekutivsekretär der Kommission unterzeichnet ist. Es ist unstreitig, daß dieser Vermerk erst sechs Monate nach Klageerhebung angebracht worden ist

26 Das Gericht hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen. Die Parteien haben in der Sitzung vom 6. und 7. Dezember 1994 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet. Am Schluß der Sitzung hat der Präsident die mündliche Verhandlung für geschlossen erklärt.

Anträge der Parteien

27 Die Klägerin beantragt,

° die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären,

° hilfsweise, die angefochtene Entscheidung insoweit aufzuheben, als mit ihr eine Geldbusse von 7 Millionen ECU gegen die Klägerin festgesetzt worden ist,

° der Kommission in jedem Fall die Kosten aufzuerlegen.

28 Mit ihrer Klageerweiterung beantragt die Klägerin, die Entscheidung für inexistent oder zumindest für unwirksam zu erklären.

29 Die Kommission beantragt,

° die Klage als unbegründet abzuweisen,

° den mit der Klageerweiterung geltend gemachten Antrag als unzulässig oder zumindest als unbegründet zurückzuweisen,

° der Klägerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

30 Nach der Verkündung des genannten Urteils des Gerichtshofes vom 15. Juni 1994 hat die Klägerin auf eine schriftliche Frage des Gerichts erklärt, sie beantrage nicht mehr, die Entscheidung für inexistent zu erklären, sondern nur noch, sie für nichtig zu erklären. Die Klägerin hat gebeten, ihre Klagegründe nur unter dem Blickwinkel der Nichtigerklärung zu prüfen.

Zu dem Antrag auf Nichtigerklärung der Entscheidung

31 Zur Begründung ihres Antrags auf Nichtigerklärung trägt die Klägerin eine Reihe von Angriffsmitteln vor, die sich in zwei verschiedene Gruppen unterteilen lassen. Im Rahmen der ersten Gruppe von Angriffsmitteln bezueglich der Ordnungsgemäßheit des Verwaltungsverfahrens macht die Klägerin mehrere Verstösse gegen wesentliche Formvorschriften geltend. Mit ihrer Klageerweiterung rügt sie, daß die ihr zugestellte Entscheidung entgegen Artikel 12 der Geschäftsordnung der Kommission weder vom Präsidenten der Kommission unterzeichnet noch rechtzeitig von diesem und dem Generalsekretär festgestellt worden sei. Darüber hinaus liege keine wirksame Zustellung im Sinne des Artikels 191 EWG-Vertrag und des Artikels 16 Absatz 3 der Geschäftsordnung vor. Zudem habe die Kommission gegen den Grundsatz der Unantastbarkeit der von den Gemeinschaftsbehörden beschlossenen Rechtsakte verstossen, indem sie die Entscheidung nach ihrer offiziellen Annahme geändert habe. In ihrer Klageschrift wirft die Klägerin der Kommission einen Verstoß gegen das Kollegialprinzip vor. Entgegen Artikel 4 der Geschäftsordnung der Kommission sei die Erörterung des Entscheidungsentwurfs nicht verschoben worden, obwohl zumindest ein Kommissionsmitglied darum gebeten habe, um die Akten, die ihm verspätet übermittelt worden seien, gebührend prüfen zu können. Schließlich rügt die Klägerin eine Verletzung der Verteidigungsrechte und des Artikels 6 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, da die Kommission zum einen Schriftstücke verwertet habe, die sie der Klägerin nicht oder unvollständig übermittelt habe ° insbesondere die Anlagen II.25 und II.34 der Mitteilung der Beschwerdepunkte, in denen einige Stellen herausgestrichen worden seien °, und ihr zum anderen die Einsicht in bestimmte Unterlagen verwehrt habe, die ihrer Verteidigung dienlich gewesen wären.

32 Im Rahmen der zweiten Gruppe von Angriffsmitteln rügt die Klägerin, daß gegen die Artikel 85 und 190 EWG-Vertrag, gegen die Regeln der Beweisführung und Beweislast sowie gegen den Gleichheitsgrundsatz verstossen worden sei, da die Entscheidung auf unzutreffende tatsächliche und rechtliche Feststellungen gegründet sei. Schließlich sei die festgesetzte Geldbusse unangemessen, da der hohe Betrag in keinem Verhältnis zur Schwere der angeblichen Zuwiderhandlung stehe und die Verhängung der Geldbusse ausserdem nicht ordnungsgemäß begründet sei.

33 Das Gericht hält es für zweckmässig, zunächst das mit der Klageerweiterung geltend gemachte Angriffsmittel zu prüfen, mit dem die Klägerin rügt, in ihren Verteidigungsrechten verletzt worden zu sein, da die Kommission Unterlagen verwertet habe, die der Klägerin nicht übermittelt worden seien, und ihr die Einsicht in verschiedene Schriftstücke verwehrt habe, die ihrer Verteidigung dienlich gewesen wären.

Zu dem Angriffsmittel einer Verletzung der Verteidigungsrechte, mit dem gerügt wird, daß die Kommission Unterlagen verwertet habe, die der Klägerin nicht übermittelt worden seien, und ihr die Einsicht in bestimmte Schriftstücke verwehrt habe, die ihrer Verteidigung dienlich gewesen wären

Vorbringen der Parteien

34 Die Klägerin macht unter Bezugnahme auf ihre Schreiben vom 20. September und 17. Oktober 1990, die sie während des Verwaltungsverfahrens an die Kommission gerichtet hatte und die sie ihrer Klageschrift als Anlage beigefügt hat, geltend, die Kommission habe für den Erlaß der angefochtenen Entscheidung Unterlagen verwendet, die sie ihr nicht mitgeteilt habe. Viele nicht mitgeteilte Schriftstücke oder von der Kommission herausgestrichene Stellen enthielten sachdienliche Angaben für ihre Verteidigung. Gemäß ihrem Schreiben vom 17. Oktober 1990 (vgl. oben, Randnr. 12) handele es sich u. a. um sechs Schriftstücke, die ihr nicht übermittelt worden seien. Selbst wenn diese Schriftstücke vertraulich gewesen wären ° was von ihr bestritten werde °, hätte die Wahrung des Geschäftsgeheimnisses hinter den Erfordernissen der Wahrung der Verteidigungsrechte zurücktreten müssen.

35 In ihrer Erwiderung fügt die Klägerin hinzu, die Kommission habe sich auf Tatsachen gestützt, die sie nur ICI entweder in der Anlage der Mitteilung der Beschwerdepunkte oder in der Anhörung, an der die Klägerin nicht teilgenommen habe, mitgeteilt habe. Ausserdem habe die Kommission in den Akten die Schriftstücke ausgewählt, die ihre Auffassung stützten, während sie die Beweismittel, die dagegen sprächen, für sich behalten habe, wodurch die Klägerin in ihrer Verteidigung behindert worden sei. So seien sämtliche Anlagen mit dem Aktenzeichen V der Mitteilung der Beschwerdepunkte, die die ICI zur Last gelegte mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung beträfen, der Klägerin nicht übermittelt worden. Die von ICI in diesem Gerichtsverfahren übermittelten Unterlagen bestätigten, daß diese Anlagen zahlreiche Schriftstücke enthielten, die die Auffassung der Klägerin stützten. Eine erste Prüfung zeige, daß acht dieser Schriftstücke die Behauptungen der Kommission entkräfteten (Erwiderung S. 12 und Fußnoten 9, 33 und 43). Die Klägerin beanstandet, daß keines der Unternehmen Einsicht in die Unterlagen erhalten habe, die bei dem andern Unternehmen gefunden worden seien, so daß jedes Unternehmen für die Begründung seiner Verteidigung auf den guten Willen des anderen angewiesen gewesen sei.

36 Ausserdem zeige ein Vergleich des Schriftstücks II.34 mit seiner längeren Fassung in dem Dokument V.40, daß die Kommission unter den Schriftstücken die Teile ausgesucht habe, die ihre Auffassung stützten, und auf diese Weise eine Akte "aufgebaut" habe.

37 Hinsichtlich der Schriftstücke X.1 bis X.11, die die Kommission bei der Anhörung in dem Verfahren gegen ICI vorgelegt hatte, räumt die Klägerin in ihrer Erwiderung ein, daß sie in ihrem Schreiben vom 17. Oktober 1990 erklärt habe, daß sie von geringem Interesse seien. Diese Erklärung bedeute jedoch nicht, daß diese Unterlagen ohne jegliches Interesse seien oder daß sie auf die Rüge der fehlenden Übermittlung dieser Unterlagen verzichtet habe.

38 In einem Verfahren nach Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages sei es wichtig, daß jedem der an dem angeblichen Kartell Beteiligten die gleichen Unterlagen übermittelt würden. Es stehe der Kommission nicht zu, zu beurteilen, ob ein Schriftstück für die Verteidigung der einen oder anderen Partei nützlich sei. Die Entscheidung, ob zwischen zwei Unternehmen ein Kartell vorliege, lasse sich nämlich gegenüber den angeblich daran Beteiligten nicht aufspalten. Es sei nicht möglich, daß der eine an dem Kartell beteiligt sei und der andere nicht. Wenn die Kommission daher im vorliegenden Fall gemeint habe, daß einige Schriftstücke vertraulich seien, hätte sie diese entweder beiseite lassen oder jeder der betroffenen Parteien übermitteln müssen.

39 Im Rahmen eines anderen Angriffsmittels wird in der Klageschrift geltend gemacht, die Kommission könne nicht behaupten, daß zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Kontinent ein Handel möglich gewesen sei, wenn sie gleichzeitig feststelle, daß die Klägerin und ICI durch die Verhaltensweisen, die die Kommission nach Artikel 86 des Vertrages verurteilt habe, ihre entsprechenden Märkte abgeschottet hätten (S. 47 der Klageschrift, wo die Klägerin auf die Rechtssachen T-32/91 und T-37/91 verweist).

40 Nach Ansicht der Kommission ergibt sich aus dem Schriftwechsel mit der Klägerin während des Verwaltungsverfahrens, daß der Vorwurf der angeblichen Verwendung von Unterlagen, die der Klägerin nicht mitgeteilt worden seien, auch in deren Augen gegenstandslos geworden sei. Jedenfalls sei die angefochtene Entscheidung ° um die es im vorliegenden Fall allein gehe ° auf kein Schriftstück gegründet, das der Klägerin nicht vorher mitgeteilt worden sei.

41 Zu dem Vorwurf, der Verteidigung förderliche Unterlagen nicht übermittelt zu haben, trägt die Kommission vor, die von der Klägerin in diesem Zusammenhang im Verwaltungsverfahren genannten Schriftstücke ° die bei ICI gefunden worden seien ° seien auf Antrag von ICI nicht vorgelegt worden. Die Anlagen der Mitteilung der Beschwerdepunkte mit dem Aktenzeichen V, aus denen die von der Klägerin in diesem Zusammenhang genannten Schriftstücke stammten, beträfen nicht die vorliegende Rechtssache, sondern enthielten Schriftstücke, die die Entscheidung über den ICI angelasteten Mißbrauch einer beherrschenden Stellung rechtfertigten. Die Unterlagen, auf die die vorliegende Entscheidung gestützt sei, seien die Anlagen mit dem Aktenzeichen II; sie seien der Klägerin in völlig gleicher Weise wie ICI übermittelt worden. Wenn ICI jetzt der Auffassung sei, daß einige der bei ihr gefundenen Schriftstücke gegenüber der Klägerin nicht mehr als vertraulich zu behandeln seien, könne die Kommission für diese Meinungsänderung nicht verantwortlich gemacht werden. Das Verhalten von ICI und der Klägerin in diesem Zusammenhang stelle vielmehr tatsächlich einen Versuch dar, die Verfahrensregeln der Verordnung Nr. 17 zu umgehen.

42 Die von der Klägerin in dem Verfahren vor Gericht vorgelegten Unterlagen seien höchstens als Beweismittel anzusehen, die dem Gericht zur Begründung der Klage vorgelegt würden, so daß ihre Beurteilung im Rahmen der Prüfung der Begründetheit der Klage zu erfolgen habe. Da die Kommission im übrigen vor dem Gericht als Beklagte auftrete, sei sie es, die den Schutz ihrer Verteidigungsrechte geltend machen könnte. Zur Wahrung dieser Rechte müssten die Argumente, die die Klägerin auf Unterlagen stütze, die sie erst mit der Erwiderung vorgelegt habe, für unzulässig erklärt werden.

43 Die Kommission hat in ihrer Antwort auf verschiedene schriftliche Fragen des Gerichts erläutert, daß die Unterlagen, die ihre Ermittler im Rahmen der Nachprüfungen bei den Sodaherstellern erlangt hätten, etwa 60 Aktenordner fuellten, die nach Hersteller und Ort, wo die Unterlagen gefunden worden seien, geordnet worden seien; die Ordner 39 bis 49 enthielten die von ICI stammenden Unterlagen. Etwa zehn weitere Ordner enthielten die Unterlagen, die mit den Antworten auf die Auskunftsverlangen vorgelegt worden seien. Angesichts der Zahl der Hersteller und der Vielschichtigkeit der Unterlagen habe die Kommission nicht eine Unterteilung in eine Kategorie "Artikel 85" und in eine Kategorie "Artikel 86" vornehmen können.

44 Im Rahmen der Rechtssache T-36/91, die mit der vorliegenden Rechtssache zu gemeinsamem mündlichen Verfahren verbunden worden ist, hat die Kommission erläutert, daß sie die bei ihren Nachprüfungen gefundenen Schriftstücke wie folgt geordnet habe:

i) Aktenordner 1: interne Schriftstücke wie z. B. Entscheidungsentwürfe,

ii) Aktenordner 2 bis 14: Solvay, Brüssel,

iii) Aktenordner 15 bis 19: Rhône-Poulenc,

iv) Aktenordner 20 bis 23: CFK,

v) Aktenordner 24 bis 27: Deutsche Solvay Werke,

vi) Aktenordner 28 bis 30: Matthes & Weber,

vii) Aktenordner 31 bis 38: Akzo,

viii) Aktenordner 39 bis 49: ICI,

ix) Aktenordner 50 bis 52: Solvay Spanien,

x) Aktenordner 53 bis 58: "Akzo II" (erneuter Kontrollbesuch),

xi) Aktenordner 59: Kontrollbesuch bei spanischen Herstellern und erneuter Kontrollbesuch bei Solvay, Brüssel.

xii) Es gebe etwa 10 weitere Ordner, die den Schriftwechsel im Verfahren nach Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 enthielten.

45 Nach Ansicht der Kommission zeigt ausserdem die Erfahrung, daß die Mehrzahl der Schriftstücke bei genauerem Hinsehen für die Aufklärung eines Falls ohne Interesse seien. Bei einer Nachprüfung hätten die Bediensteten der Kommission nämlich weder die Zeit noch die Mittel, eine strenge Auswahl der ihnen vorgelegten Schriftstücke zu treffen; eine Begrenzung ergebe sich nur daraus, daß die Schriftstücke einen Bezug zum Gegenstand der Nachprüfung haben müssten. Die einzigen Unterlagen von Interesse seien diejenigen, auf die die Beschwerdepunkte gestützt würden.

46 Im vorliegenden Fall seien in der Anlage der Mitteilung der Bechwerdepunkte sämtliche Schriftstücke zusammengefasst, auf die Bechwerdepunkte gestützt seien. In ihrer Gesamtheit stellten sie "die Akte" dar. Diese bestehe aus mehreren Teilen. Der Teil V beziehe sich auf ein Verfahren, das gegen ICI gemäß Artikel 86 des Vertrages eingeleitet worden sei und die Klägerin nicht betreffe. Aus diesem Grunde habe die Klägerin keine Kopie der Anlagen erhalten, die zu dem fünften Teil der Mitteilung der Beschwerdepunkte gehörten; einige interne Schriftstücke von ICI, die zum zweiten Teil gehörten, seien der Klägerin nur teilweise zugänglich gemacht worden. Daraus folge jedoch nicht, daß die Kommission ihr die Akteneinsicht verwehrt habe. Ganz im Gegenteil habe die Akte, die der Klägerin als Anlage der Mitteilung der Beschwerdepunkte übermittelt worden sei, diese unbestreitbar in die Lage versetzt, sich gebührend gegen die sie erhobenen Vorwürfe zu verteidigen.

47 Im übrigen habe die Kägerin nirgendwo in ihrer Klageschrift geltend gemacht, die Kommission hätte ihr die Möglichkeit einräumen müssen, die ICI betreffenden Unterlagen einzusehen. Zudem habe die Klägerin die Kommission im Verwaltungsverfahren zu keinem Zeitpunkt gebeten, die ICI betreffenden Unterlagen allgemein oder insbesondere die den fünften Teil der Mitteilung der Beschwerdepunkte betreffenden Anlagen einsehen zu können. Schließlich habe die Klägerin in ihren Schriftsätzen ihr "passives Geschäftsverhalten" nicht mit einer eventuell beherrschenden Stellung von ICI erklärt.

48 Daraus folge, daß die Kommission der Klägerin Gelegenheit gegeben habe, sämtliche Beweisunterlagen in der Akte zur Kenntnis zu nehmen. Zudem enthielten die Anlagen, die zum zweiten Teil der Mitteilung der Beschwerdepunkte gehörten, mehr Informationen als nur die belastenden Schriftstücke. Zu eventuell entlastenden oder in anderer Weise für die Verteidigung der Klägerin erheblichen Tatsachen trägt die Kommission vor, ihr könne nicht vorgeworfen werden, eine voreingenommene und willkürliche Auswahl getroffen zu haben. Die Klägerin habe weder im Verwaltungsverfahren noch im schriftlichen Verfahren vor dem Gericht irgend etwas vorgetragen, was diesen Verdacht stützen könnte (Urteil des Gerichts vom 1. April 1993, Rechtssache T-65/89, BPB Industries und British Gypsum/Kommission, Slg. 1993, II-389, Randnr. 35). Im übrigen seien sowohl Artikel 20 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 als auch die ausdrücklichen Bitten von ICI, streng auf vertrauliche Behandlung ihrer gesamten Geschäftsunterlagen zu achten, zwei Gründe gewesen, die der Übermittlung dieser Informationen an die Klägerin entgegengestanden hätten.

49 In der Sitzung hat die Klägerin eingeräumt, die Kommission im Verwaltungsverfahren nicht um allgemeine Akteneinsicht gebeten zu haben. Sie hat dazu ausgeführt, sie habe genau gewusst, daß ihr diese Einsicht von der Kommission verwehrt werde, wie sie im übrigen auch ICI verwehrt worden sei, die eine solche Einsicht beantragt habe. Rechtlich gesehen sei die Kommission verpflichtet, von sich aus den Unternehmen Einsicht in die Unterlagen zu gewähren, über die sie verfüge.

Würdigung durch das Gericht

Zulässigkeit und Tragweite des Angriffsmittels

50 Nach Artikel 38 Absatz 1 Buchstabe c der bei Klageerhebung anwendbaren Verfahrensordnung des Gerichtshofes ist zunächst zu prüfen, ob die Klageschrift eine kurze Darstellung des Klagegrunds der Verletzung der Verteidigungsrechte enthält.

51 Die Klägerin hat in ihrer Klageschrift behauptet, die Kommission habe gegen sie Schriftstücke verwendet, die ihr nicht mitgeteilt worden seien, und habe ihr andere Schriftstücke, die Tatsachen enthielten, die zugunsten der Klägerin sprächen, nicht oder nur unvollständig übermittelt. Die Klägerin hat sich dabei auf ihr Schreiben vom 17. Oktober 1990 (Anlage 9 der Klageschrift) bezogen, in dem sie der Kommission vorgeworfen hatte, ihr sechs Schriftstücke, die von ICI stammten, nicht zur Verfügung gestellt zu haben. In diesem Schreiben erklärt die Klägerin, eines der Schriftstücke mit der Nummer 000320 sei auch gegen ICI in dem Verfahren nach Artikel 86 verwendet worden, da es der Seite 3 des Schriftstücks V.9 entspreche. Mit der Vorlage der Fotokopie dieses Schriftstücks mit der Überschrift "Appendix V.9" hat die Klägerin, wenn auch implizit, den Vorwurf erhoben, die Kommission habe verkannt, daß eines der in der Anlage V eingeordneten Schriftstücke für ihre Verteidigung sachdienlich gewesen wäre.

52 Bei anderen in diesem Schreiben vom 17. Oktober 1990 und später in der Klageschrift genannten Schriftstücken handelt es sich um solche von ICI, die die Kommission fotokopiert hat, die sie aber keiner der Mitteilungen der Beschwerdepunkte beigefügt hat. ICI hat darauf unter Nummer 8 ihrer in der Anhörung eingereichten Erklärungen (Anlage 5 der Klageschrift von ICI in der Rechtssache T-36/91, S. 14 bis 19) hingewiesen, und die Klägerin hat sich auf diese Stelle ausdrücklich bezogen (S. 1 des Schreibens vom 17. Oktober 1990). Infolgedessen hat die Klägerin vor dem Gericht auch gerügt, daß die Kommission die Erheblichkeit einiger bei ICI gefundener Schriftstücke für ihre Verteidigung verkannt habe, da diese anschließend nicht in die Ermittlungsakten der einzelnen Fälle aufgenommen worden seien.

53 Diese Hinweise genügen entgegen den Zweifeln der Kommission dem Erfordernis einer kurzen Darstellung des Angriffsmittels. Die Klageschrift enthält eine Darstellung der grundlegenden Vorwürfe gegen die Kommission, deren Tragweite noch deutlicher wird, wenn sie im Zusammenhang mit den Argumenten bezueglich des angeblichen Widerspruchs zwischen dem nach Artikel 85 eingeleiteten Verfahren und dem nach Artikel 86 EWG-Vertrag eingeleiteten Verfahren gesehen werden (vgl. vorstehend, Randnr. 39). In der Klageschrift wird geltend gemacht, daß die Kommission dadurch, daß sie diesen Widerspruch nicht erkannt habe, auch den Beweiswert der Schriftstücke von ICI (mit dem Aktenzeichen V sowie einige andere) für die Verteidigung der Klägerin verkannt habe. Auf diese Weise ist der Rahmen des Angriffsmittels in der Klageschrift hinreichend genau festgelegt worden, auch wenn das der Klageschrift beigefügte Schreiben vom 17. Oktober 1990 nicht erwähnt worden ist. Das Schreiben enthält zusätzliche Argumente, die jedoch für eine kurze Darstellung des Angriffsmittels nicht unerläßlich sind. Deshalb genügt die Klageschrift den Erfordernissen des Artikels 38 Absatz 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung des Gerichtshofes.

54 Aus alledem ergibt sich also, daß das Angriffsmittel drei Rügen umfasst: Erstens habe die Kommission eine bestimmte Anzahl von belastenden Schriftstücken (die Schriftstücke X.1 bis X.11) verwendet, die der Klägerin in der Anlage der Mitteilung der Beschwerdepunkte nicht übermittelt worden seien. Zweitens seien der Klägerin nicht die Schriftstücke mit dem Aktenzeichen V übermittelt worden, die der Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügt gewesen seien, die gemäß Artikel 86 des Vertrages an ICI gerichtet gewesen sei, obwohl der Zusammenhang zwischen der nach Artikel 86 zur Last gelegten Zuwiderhandlung und der nach Artikel 85 zur Last gelegten Zuwiderhandlung diesen Schriftstücken für die Verteidigung der Klägerin im vorliegenden Fall Gewicht verliehen habe. Drittens seien andere Schriftstücke von ICI nicht übermittelt worden, die für die Verteidigung der Klägerin hätten nützlich sein können, da sich eine Entscheidung, ob ein Kartell zwischen zwei Parteien vorliege, diesen gegenüber nicht aufspalten lasse.

Begründetheit

i) Zur ersten Rüge des Angriffsmittels: Die Komission habe belastende Schriftstücke verwendet, die der Klägerin nicht übermittelt worden seien.

55 Mit den von der Kommission erstmals während der Anhörung von ICI vorgelegten Schriftstücken (die Schriftstücke X.1 bis X.11) sollte die Begründetheit des gegen die Klägerin und ICI erhobenen Vorwurfs einer abgestimmten Verhaltensweise besser belegt werden, da die Schriftstücke X.8 und X.9 den Erläuterungen nach die vollständigen Fassungen der Schriftstücke II.12 und II.17 sind, aus denen einige Stellen herausgestrichen waren. Die Klägerin hat in ihrem Schreiben vom 17. Oktober 1990, ohne daß die Kommission ihr insoweit widersprochen hätte, behauptet, daß ICI ihr die entsprechenden Schriftstücke im Verwaltungsverfahren nicht übermittelt habe. Allerdings hat die Klägerin in ihrem Schreiben vom 17. Oktober 1990 ausdrücklich erklärt, "daß diese Schriftstücke von geringem Interesse zu sein scheinen", was nach Ansicht der Klägerin aber nicht bedeutet (S. 11 der Erwiderung), daß sie auf die Rüge der fehlenden Übermittlung dieser Schriftstücke verzichtet habe.

56 Einige dieser Schriftstücke beziehen sich ausdrücklich auf das Verhältnis zwischen der Klägerin, die dort genannt wird, und ICI. In dem Schriftstück mit dem Aktenzeichen X.2 heisst es: "They have not grasped our relationship and likely reaction from Solvay... since the takeover of Stauffer" ("Sie haben unser Verhältnis und die mögliche Reaktion von Solvay nicht begriffen... seit der Übernahme von Stauffer"). Ebenso wird in den Schriftstücken mit den Aktenzeichen X.6 und X.7 zu der "relationship" (Beziehung) zwischen ICI und der Klägerin Stellung genommen. Das Schriftstück mit dem Zeichen X.10 enthält einen Satz, der zumindest mehrere Deutungen zulässt: "Solvays reaction to any ICI initiative involving a US partner is uncertain and would need testing through the appropriate channels" ("Die Reaktion von Solvay auf einen Vorschlag von ICI, der einen amerikanischen Partner einbezieht, ist ungewiß und müsste über die entsprechenden Kanäle getestet werden"). Das Schriftstück mit dem Aktenzeichen X.11 enthält einen "vertraulichen" Bericht über eine Sitzung, die am 14. April 1987 zwischen der Klägerin und ICI stattfand und in der bestimmte Preise und die Stillegung von Produktionsanlagen erörtert wurden. Diese kurze Analyse der Schriftstücke zeigt, daß es sich um belastende Schriftstücke handelt, die den Vorwurf einer abgestimmten Verhaltensweise zwischen der Klägerin und ICI belegen könnten.

57 Somit ist zu prüfen, ob die Vorgehensweise der Kommission mit dem Gebot der Wahrung der Verteidigungsrechte der Klägerin vereinbar ist. In dem Glauben, daß die Klägerin zwischenzeitlich von ICI eine bereinigte Kopie der Schriftstücke erhalten hatte, hatte die Kommission ihr mit Schreiben vom 1. Oktober 1990 eine Frist von zwei Wochen für eine eventuelle Stellungnahme gesetzt. Die Klägerin erwiderte in ihrem Schreiben vom 17. Oktober 1990, daß sie die Schriftstücke nicht erhalten habe, daß diese aber ihr "tatsächlich von geringem Interesse zu sein" schienen. Trotz dieser Antwort der Klägerin ist festzustellen, daß diese Schriftstücke ihren Charakter als belastendes Material nicht verloren haben, da der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin sich nicht eindeutig zu der Bedeutung geäussert hat, die die Schriftstücke "zu haben scheinen". Somit lässt sich nicht ausschließen, daß die Kommission gemäß den Artikeln 2 Absatz 3 und 4 der Verordnung Nr. 99/63/EWG der Kommission vom 25. Juli 1963 über die Anhörung nach Artikel 19 Absätze 1 und 2 der Verordnung Nr. 17 des Rates (ABl. 1963, Nr. 127, S. 2268) zu einer förmlichen ergänzenden Mitteilung der Beschwerdepunkte verpflichtet gewesen war.

58 Selbst wenn die Verwendung der betreffenden Schriftstücke wegen Verletzung der Verteidigungsrechte der Klägerin als rechtswidrig anzusehen wäre, könnte dieser Verfahrensfehler im vorliegenden Fall nur dazu führen, daß diese Schriftstücke als Beweismaterial unberücksichtigt blieben. Dies hätte keineswegs die Nichtigerklärung der gesamten Entscheidung zur Folge, sondern wäre nur insoweit von Belang, als der entsprechende Vorwurf der Kommission nur unter Heranziehung dieser Schriftstücke bewiesen werden könnte (Urteil des Gerichtshofes vom 25. Oktober 1983, Rechtssache 107/82, AEG/Kommission, Slg. 1983, 3151, Randnrn. 24 bis 30). Somit ist dieses Problem im Zusammenhang mit anderen Angriffsmitteln zu erörtern, die die Frage betreffen, ob die Tatsachenfeststellungen der Kommission zutreffend sind. Infolgedessen ist die erste Rüge des Angriffsmittels in jedem Fall zurückzuweisen.

Zur zweiten und zur dritten Rüge des Angriffsmittels: Der Klägerin seien die Schriftstücke mit dem Aktenzeichen V und andere Schriftstücke von ICI nicht übermittelt worden

59 Zur Frage der Einsicht in die Schriftstücke mit dem Aktenzeichen V und in andere Unterlagen, die der Verteidigung eventuell dienlich sein können, ist zunächst darauf hinzuweisen, daß in den Wettbewerbssachen die Akteneinsicht den Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte in die Lage versetzen soll, von den in den Akten der Kommission vorhandenen Beweisstücken Kenntnis zu nehmen, um aufgrund dieser Beweisstücke in zweckmässiger Weise zu den Schlußfolgerungen Stellung nehmen zu können, zu denen die Kommission in der Mitteilung ihrer Beschwerdepunkte gelangt ist. Die Akteneinsicht gehört somit zu den Verfahrensgarantien, die die Rechte der Verteidigung schützen sollen (Urteile des Gerichts vom 8. Dezember 1992, Rechtssachen T-10/92, T-11/92, T-12/92 und T-15/92, Cimenteries CBR u. a./Kommission, Slg. 1992, II-2667, Randnr. 38, und vom 1. April 1993, Rechtssache T-65/89, BPB Industries und British Gypsum/Kommission, Slg. 1993, II-389, Randnr. 30). Die Wahrung der Verteidigungsrechte stellt in allen Verfahren, die zu Sanktionen führen können, einen fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dar, der unter allen Umständen, auch in einem Verwaltungsverfahren, beachtet werden muß. Die tatsächliche Beachtung dieses allgemeinen Grundsatzes erfordert es, dem betroffenen Unternehmen bereits im Verwaltungsverfahren Gelegenheit zu geben, zum Vorliegen und zur Erheblichkeit der von der Kommission angeführten Tatsachen, Rügen und Umstände gebührend Stellung zu nehmen (Urteil des Gerichtshofes vom 13. Februar 1979, Hoffmann-La Roche/Kommission, Slg. 1979, 461, Randnrn. 9 und 11).

60 Somit ist anhand der besonderen Umstände jedes einzelnen Falles zu prüfen, ob eine Verletzung der Verteidigungsrechte vorliegt, da dies im wesentlichen von den Rügen abhängt, die die Kommission bei der Feststellung einer dem betroffenen Unternehmen zur Last gelegten Zuwiderhandlung geltend gemacht hat. Um entscheiden zu können, ob das in Rede stehende Angriffsmittel mit seiner zweiten und seiner dritten Rüge Erfolg hat, sind daher die Sachrügen kurz zu prüfen, die die Kommission in der Mitteilung der Beschwerdepunkte und in der angefochtenen Entscheidung geltend gemacht hat.

° Rügen und Beweismittel der Kommission

61 Der in der Mitteilung der Beschwerdepunkte erhobene Vorwurf lässt sich in der Weise zusammenfassen, daß vom 1. Januar 1973 an die Klägerin und ICI an einer abgestimmten Verhaltensweise beteiligt gewesen seien, da sie weiterhin einvernehmlich ein früheres Kartell fortgesetzt hätten, durch das ihre jeweiligen Absatzgebiete für Soda festgelegt worden seien, und dabei auf gegenseitigen Wettbewerb verzichtet hätten. Die Kommission räumt ein, über keine unmittelbaren Beweise für das Vorliegen einer ausdrücklichen Absprache zwischen der Klägerin und ICI zu verfügen, meint aber, daß umfangreiches Beweismaterial für eine geheime Absprache vorliege, dem sich entnehmen lasse, daß das 1949 geschlossene ursprüngliche Kartell, nämlich die sogenannte Vereinbarung "Page 1000", in Form einer abgestimmten Verhaltensweise fortgesetzt worden sei. Das Beweismaterial zeige nämlich,

° daß die Klägerin und ICI weiterhin eine Beziehung der vollständigen Zusammenarbeit gepflegt hätten, die mehr auf eine Partnerschaft als auf ein Wettbewerbsverhalten hingedeutet habe und die dazu gedient habe, ihre globale Strategie im Sodasektor zu koordinieren und untereinander jede Interessenkollision zu vermeiden,

° daß die Grundlage dieser fortgesetzten Partnerschaft die Beibehaltung der aus der Zeit Brunner, Mond & Co stammenden Geschäftspolitik gewesen sei, d. h. der gegenseitigen Anerkennung ausschließlicher Operationsgebiete. Auch wenn das frühere Kartell formell durch den Schriftwechsel vom 12. Oktober 1972 beendet worden sei, seien die Beziehungen fortgesetzt worden, da keine Partei jemals zu der anderen Partei auf deren Markt in der Gemeinschaft in Wettbewerb getreten sei.

62 Die Kommission führt in der Mitteilung der Beschwerdepunkte weiter aus, daß "ein wichtiger Aspekt der engen Geschäftsbeziehungen" zwischen der Klägerin und ICI die "Koproduzenten"-Vereinbarungen oder die Vereinbarungen "Kauf für Wiederverkauf" gewesen seien, die dazu gedient hätten, ICI bei der Einhaltung ihrer Lieferverpflichtungen in der Zeit von 1983 bis 1989 zu unterstützen. Die Kommission hat diese Vereinbarungen jedoch nicht als eigenständige Zuwiderhandlungen angesehen.

63 Die Kommission hat in der Mitteilung der Beschwerdepunkte darauf hingewiesen, daß in Westeuropa die nationalen Sodamärkte im entscheidungserheblichen Zeitraum voneinander abgegrenzt gewesen seien, da die Hersteller in der Regel ihren Absatz auf diejenigen Mitgliedstaaten konzentriert hätten, in denen sie über Produktionsanlagen verfügt hätten. Insbesondere habe es weder Einfuhren der Klägerin noch eines anderen in der Gemeinschaft ansässigen Herstellers gegeben, die ICI im Vereinigten Königreich hätten Konkurrenz machen können. Es handele sich hier um das "Heimatmarktprinzip". So hätten die Beziehungen zwischen der Klägerin und ICI anhand von Schriftstücken beurteilt werden müssen, die eine Reihe anderer Hersteller beträfen oder von diesen stammten und aus denen sich ergebe, daß alle Sodahersteller in der Gemeinschaft über viele Jahre hinweg dieses Prinzip akzeptiert hätten, was im übrigen für die Klägerin und ICI noch im Jahr 1982 gegolten habe. Obwohl es gewisse Hinweise für eine 1982 zwischen der Klägerin und Akzo geschlossene Vereinbarung über die Sodatätigkeiten von Akzo in Deutschland gebe (Anlage II.21 der Mitteilung der Bechwerdepunkte), könnten diese nicht als ausreichend angesehen werden, um die Eröffnung eines Verfahrens nach Artikel 85 des Vertrages gegen die Klägerin und Akzo zu rechtfertigen.

64 Zum Nachweis ihrer Vorwürfe hat die Kommission der an die Klägerin gerichteten Mitteilung der Beschwerdepunkte eine Reihe von Schriftstücken mit dem Aktenzeichen II beigefügt. Nur drei dieser Schriftstücke (II.33, II.34 und II.36) sind zumindest teilweise mit Schriftstücken identisch, die das Aktenzeichen V tragen und in dem gegen ICI gerichteten Verfahren nach Artikel 86 verwendet wurden (V.32, V.40 und V.41). Alle anderen Schriftstücke mit dem Aktenzeichen V sind somit der Klägerin nicht übermittelt worden.

65 Zu den sodann in der angefochtenen Entscheidung erhobenen Vorwürfen ist festzustellen, daß nach Artikel 1 der Entscheidung die abgestimmte Verhaltensweise vom 1. Januar 1973 an zumindest bis zur Einleitung des Verfahrens gedauert hat. Für den Nachweis dieser abgestimmten Verhaltensweise führt die Kommission in Nummer 58 der Entscheidung im wesentlichen sieben Umstände an. Diese Umstände lassen sich entsprechend den Erläuterungen, die die Kommission zu dieser Stelle der Entscheidung in der mündlichen Verhandlung abgegeben hat, in vier Punkten zusammenfassen:

° Es habe als Folge der Politik jedes Herstellers während des gesamten maßgeblichen Zeitraums, also länger als sechzehn Jahre, keinen den Kanal überschreitenden Sodahandel seitens der Klägerin und von ICI gegeben.

° Dieses Fehlen eines Wettbewerbs entspreche genau den Bedingungen der früher zwischen der Klägerin und ICI geschlossenen Vereinbarungen, zuletzt der sogenannten "Page 1000"-Vereinbarung von 1949, deren förmliche Aufhebung in der Praxis zu keiner Änderung der Marktaufteilung geführt habe.

° Es seien Vereinbarungen über den "Kauf für Verkauf" abgeschlossen und durchgeführt worden, nach denen die Klägerin ICI von 1983 bis 1989 Soda geliefert habe und die als Indizien anzusehen seien (vgl. Fußnote 1 zu Nr. 58 der Entscheidung).

° Es hätten zwischen der Klägerin und ICI häufig Kontakte mit dem Ziel stattgefunden, ihre Strategie im Sodasektor zu koordinieren.

° Verteidigung der Klägerin

66 Im Hinblick auf die Prüfung, ob die Verteidigungsmöglichkeiten der Klägerin gegen diese Vorwürfe beeinträchtigt worden sind, ist zunächst darauf hinzuweisen, daß eine abgestimmte Verhaltensweise dadurch gekennzeichnet ist, daß sie an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs eine Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen treten lässt, die die Ungewißheit jedes Unternehmens über das zukünftige Verhalten seiner Wettbewerber verringert. Wird diese Ungewißheit nicht verringert, liegt keine abgestimmte Verhaltensweise vor (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 31. März 1993, Rechtssache C-89/85, C-104/85, C-114/85, C-116/85, C-117/85, C-125/85 bis C-129/85, Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, Slg. 1993, I-1307, Randnrn. 62 bis 65).

67 Die Klägerin macht zu ihrer Verteidigung im wesentlichen geltend, ihr Verhalten erkläre sich aus einer eigenständigen Geschäftspolitik, so daß eine abgestimmte Verhaltensweise nicht bewiesen sei. Die Klägerin habe nämlich kein Interesse daran, in eine Expansionspolitik im Vereinigten Königreich zu investieren, da dies für sie strategisch unsinnig wäre. Diese Verteidigung findet sich bereits in der Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte (vgl. die schriftlichen Erklärungen vom 28. Mai 1990, S. 5 bis 15, vorstehend Randnr. 9). Vor dem Gericht hat die Klägerin dieses Verteidigungsvorbringen im Rahmen der Angriffsmittel gegen die tatsächlichen Feststellungen und gegen die rechtliche Beurteilung der Kommission in der angefochtenen Entscheidung wiederholt (vgl. insbesondere S. 30 der Klageschrift: "Alles spricht dafür..., daß... die kontinentalen Unternehmen kein Interesse daran haben, unter grossem Kraftaufwand auf dem britischen Markt Fuß zu fassen").

68 Somit ist unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofes zum Begriff der abgestimmten Verhaltensweise zu prüfen, ob dieses Verteidigungsvorbringen der Klägerin dadurch beeinträchtigt worden ist, daß ihr die in der zweiten und in der dritten Rüge des betreffenden Angriffsmittels genannten Schriftstücke nicht übermittelt worden sind. Dabei ist es nicht Aufgabe des Gerichts, abschließend über den Beweiswert sämtlicher von der Kommission zur Stützung der angefochtenen Entscheidung herangezogenen Beweismittel zu befinden. Für die Feststellung einer Verletzung der Verteidigungsrechte genügt der Nachweis, daß das Versäumnis der Übermittlung der betreffenden Schriftstücke den Verfahrensablauf und den Inhalt der Entscheidung zuungunsten der Klägerin hat beeinflussen können. Die Möglichkeit eines solchen Einflusses kann somit anhand einer vorläufigen Prüfung bestimmter Beweise nachgewiesen werden, die zeigt, daß die nicht übermittelten Schriftstücke eine Bedeutung ° für diese Beweise ° gehabt haben, die nicht unberücksichtigt bleiben durfte. Wenn die Verteidigungsrechte verletzt worden sind, sind das Verwaltungsverfahren und die Beurteilung des Sachverhalts in der Entscheidung mit Mängeln behaftet.

69 Die Kommission hat dazu in einer Antwort auf eine schriftliche Frage des Gerichts ausgeführt, daß insbesondere die Beweise zu berücksichtigen seien, die der Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügt gewesen seien und aus Zeiten vor 1973 stammten, d. h. die alten Marktaufteilungsabsprachen und insbesondere die sogenannte "Page 1000"-Vereinbarung. Diese Beweise könnten zur Rechtfertigung der Behauptung einer späteren Zuwiderhandlung herangezogen werden. Die Kommission habe die Zeit von 1962 bis 1973 in erster Linie deshalb nicht in ihre Vorwürfe einbezogen, weil das Vereinigte Königreich in dieser Zeit nicht Mitglied der Gemeinschaft gewesen sei und die Feststellung einer Zuwiderhandlung eine eigene Analyse der Wirkungen auf den innergemeinschaftlichen Handel erforderlich gemacht hätte.

70 Somit sind für eine pauschale Beurteilung des Beweiswerts der Beweismittel, die die Kommission für ihre Vorwürfe gegen die Klägerin herangezogen hat, drei getrennte Zeiträume zu unterscheiden. Bis zum Inkrafttreten des EWG-Vertrags und dem der Verordnung Nr. 17 im Jahr 1962 ist das Verhalten der Klägerin und von ICI als rechtmässig anzusehen. In dem folgenden Zeitraum, der am 31. Dezember 1972 endet, ist die Kommission nicht förmlich in einem dafür nach der Verordnung Nr. 17 vorgesehenen kontradiktorischen Verfahren gegen die früheren Marktaufteilungsabsprachen vorgegangen, und zwar ungeachtet ihrer Ziele und Wirkungen und sogar ungeachtet der Tatsache, daß der Widerruf der Absprachen im Jahr 1972 zweifelhaft war. Ein dahin gehender Vorwurf kann ebenfalls nicht als begründet angesehen werden, da er nach den eigenen Feststellungen der Kommission eine besondere wirtschaftliche Analyse in Ergänzung zu der im vorliegenden Fall durchgeführten erforderlich gemacht hätte. Der dritte Zeitraum entspricht der in der Entscheidung festgestellten Dauer der Zuwiderhandlung.

71 Die Kommission hat sich zur Rechtfertigung für die Heranziehung der früheren Absprachen als Beweismittel für das Vorliegen einer späteren Zuwiderhandlung auf das Urteil vom 15. Juli 1976 in der Rechtssache 51/75 (EMI Records, Slg. 1976, 811, Randnr. 30) berufen, in dem der Gerichtshof festgestellt hat, daß in einem Fall, in dem Kartelle ausser Kraft getreten sind, es für die Anwendbarkeit des Artikels 85 EWG-Vertrag ausreicht, daß über das formale Ausserkrafttreten hinaus die Kartellwirkungen fortbestehen. Die Kommission weist ergänzend darauf hin, daß es sich in der Rechtssache EMI Records um eine Vereinbarung gehandelt habe, die zum Zeitpunkt ihres Abschlusses rechtmässig gewesen sei, während es im vorliegenden Fall um von Anfang an rechtswidrige Vereinbarungen gehe. Da die Klägerin und ICI nach der förmlichen Aufhebung ihrer Marktaufteilungsabsprachen weiterhin sich entsprechend den nun aufgehobenen Absprachen verhalten hätten, sei davon auszugehen, daß diese Absprachen weiterhin Wirkungen entfaltet hätten.

72 Die Rechtssache EMI Records, über die der Gerichtshof gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zu befinden hatte, betraf kein Verfahren wie das streitgegenständliche, das die Kommission nach der Verordnung Nr. 17 eingeleitet und mit der Festsetzung einer Geldbusse beendet hat. Zudem gab es in der Rechtssache EMI Records keinen Zeitraum von zehn Jahren, in dem die ansonsten beanstandeten Verhaltensweisen unbeanstandet blieben und für den somit die Vermutung gilt, daß das betroffene Unternehmen unschuldig ist. Es handelte sich vielmehr um einen Rechtsstreit vor einem nationalen Gericht zwischen zwei Warenzeicheninhabern über den Umfang ihrer Rechte unter Berücksichtigung der Wettbewerbsvorschriften, bei dem es nicht um die Festsetzung einer Geldbusse ging. Somit können die dem Urteil EMI Records zugrunde liegenden Erwägungen, die die Kommission angeführt hat, für eine Lösung des vorliegenden Rechtsstreits nicht herangezogen werden.

73 Im vorliegenden Fall muß das Gericht aufgrund der Unschuldsvermutung, die zugunsten der Klägerin besteht, davon ausgehen, daß der Klägerin bis zum 31. Dezember 1972 keine Zuwiderhandlung vorgeworfen werden kann. Somit können die Beweismittel, die aus der Zeit vor 1962 stammen und sich auf ein zu dieser Zeit rechtmässiges Verhalten beziehen, nicht als Nachweis dafür dienen, daß die Klägerin und ICI sich vom 1. Januar 1973 an rechtswidrig abgestimmt haben. Der entgegengesetzte Standpunkt der Kommission lässt die Möglichkeit ausser Betracht, daß die beiden Unternehmen den EWG-Vertrag beachten wollten und auf ihre frühere Zusammenarbeit verzichteten, was nicht ausgechlossen ist, wenn man die "förmliche" Aufhebung der früheren Absprachen im Jahr 1972 berücksichtigt. In Ermangelung anderer Beweise würde der Standpunkt der Kommission auf die Vermutung hinauslaufen, daß die Klägerin und ICI von einem von der Kommission festgelegten Zeitpunkt an durch die Abstimmung ihrer Verhaltensweisen gegen den Vertrag verstossen haben. Diese Art des Nachweises einer Zuwiderhandlung wäre mit der Beachtung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung unvereinbar.

74 Zu den Beweismitteln, die sich unmittelbar auf die Jahre beziehen, in denen ° nach Meinung der Kommission ° das Verhalten abgestimmt gewesen ist, ist festzustellen, daß ICI zwischen 1983 und 1989 von der Klägerin Soda für den Wiederverkauf kaufte. Nach Ansicht der Klägerin sind diese Verträge kein Beleg für unzulässige Kontakte mit ICI. Es handelte sich nach Aussage der Klägerin um seltene und vereinzelte Lieferungen, die sich auf die Monate zwischen April 1985 und Mai 1986 konzentriert hätten. Die Kommission hat selbst erklärt, daß diese Käufe für den Wiederverkauf an sich keine eigenständigen Zuwiderhandlungen seien (vgl. Fußnote 1 zu Nr. 58 der Entscheidung). Ausserdem belegen Schriftstücke, daß zwischen 1985 und 1988 Sitzungen zwischen der Klägerin und ICI stattgefunden haben (vgl. Nr. 30 der Entscheidung und die Schriftstücke mit den Aktenzeichen II.30 bis II.42). Für den Zeitraum, in dem die Zuwiderhandlung nach Meinung der Kommission begonnen hat, sind Sitzungen nicht belegt. Es ist zumindest fragwürdig, ob in einem solchen Fall Schriftstücke, die aus einer späteren Zeit stammen, den Beweis liefern können, daß die Zuwiderhandlung schon fast zehn Jahre früher begonnen hat, zumal das Schriftstück II.5 vom 10. September 1982 auf das neue Gleichgewicht in den Beziehungen ("new arms length relationship") zwischen der Klägerin und ICI hinweist, was die Annahme einer abgestimmten Verhaltensweise in Frage stellen könnte.

75 Somit zeigt sich, daß ° wie in der Rechtssache Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission ° der Nachweis eines passiven und parallelen Verhaltens seitens der Klägerin und von ICI für den Nachweis einer eventuellen abgestimmten Verhaltensweise von besonderer Bedeutung ist. Hierzu hat der Gerichtshof festgestellt, daß ein Parallelverhalten nur dann als Beweis für eine Abstimmung angesehen werden kann, wenn es sich nur durch die Abstimmung einleuchtend erklären lässt. Für den Gerichtshof ist daher zu prüfen, ob das Parallelverhalten sich nicht unter Berücksichtigung der Art der Erzeugnisse, der Grösse und der Anzahl der Unternehmen sowie des Marktvolumens anders als durch eine Abstimmung erklären lässt, mit andern Worten, ob die einzelnen Elemente des Parallelverhaltens ein Bündel von ernsthaften, genauen und übereinstimmenden Indizien für eine vorherige Abstimmung darstellen (vgl. das vorgenannte Urteil Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, Randnrn. 70 bis 73).

76 Angesichts der Dürftigkeit des diesbezueglichen Beweismaterials, insbesondere für das Jahr 1973 und die ersten Jahre danach, hätte die Kommission, um die der Klägerin zur Last gelegte abgestimmte Verhaltensweise rechtlich beweisen zu können, somit schon zum Zeitpunkt der Mitteilung der Beschwerdepunkte eine gründliche wirtschaftliche Gesamtbeurteilung insbesondere des relevanten Marktes sowie der Bedeutung und des Verhaltens der auf diesem Markt vertretenen Unternehmen ins Auge fassen müssen. Diese Beurteilung müsste, um vollständig, objektiv und ausgewogen zu sein, zumindest auf der einen Seite die starke Stellung der Klägerin bzw. von ICI auf dem jeweiligen geographischen Markt und auf der anderen Seite die Praktiken der Kundenbindung, die ihnen im Rahmen des Verfahrens nach Artikel 86 EWG-Vertrag vorgeworfen werden, berücksichtigen.

° Zur zweiten Rüge des Angriffsmittels: Keine Übermittlung der Schriftstücke mit dem Aktenzeichen V an die Klägerin

77 Was die zweite Rüge des Angriffsmittels betrifft, so ist nach den vorstehenden Feststellungen ein Teil der Schriftstücke mit dem Aktenzeichen V, die der Klägerin nicht mitgeteilt worden sind, geeignet, ihre Verteidigung zu untermauern. Die Schriftstücke, die sich auf den angeblichen Versuch von ICI beziehen, die Kunden an sich zu binden, könnten nämlich eventuell dazu dienen, das passive und parallele Verhalten, das der Klägerin vorgeworfen wird, anders als mit einer unzulässigen Abstimmung zu erklären. Angesichts eines Marktes, dessen Strukturen, insbesondere die Bestimmung der Produktionsstandorte und der angrenzenden Absatzgebiete für Soda, sich seit dem letzten Jahrhundert entwickelt haben und auf dem die Transportkosten offensichtlich eine bedeutsame Rolle spielen, hätten die Schriftstücke, die eine eventuelle Bindung der Kunden an ICI durch ein ausgeklügeltes Rabattsystem belegen, von der Klägerin zur Entkräftung der Behauptung einer abgestimmten Verhaltensweise herangezogen werden können. Anhand dieser Schriftstücke hätte sich nämlich eventuell erklären lassen, daß das der Klägerin vorgeworfene passive Verhalten auf Entscheidungen beruhte, die sie eigenständig aufgrund der Schwierigkeiten getroffen hatte, in einen Markt einzudringen, dessen Zugang durch ein Unternehmen in beherrschender Stellung versperrt war. Dafür spricht auch, daß einige Beweismittel, die von der Kommission angeführt worden sind, eventuell keinen Beweiswert oder jedenfalls keinen so starken Beweiswert haben, wie die Kommission ihnen zuschreibt (vgl. oben, Randnrn. 69 und 71). Auf eine schriftliche Frage des Gerichts, also nach dem Verwaltungsverfahren, hat die Klägerin nämlich erläutert, daß der Vorwurf der Kommission gegenüber ICI, den Markt des Vereinigten Königreichs durch mißbräuchliche Praktiken abgeschottet zu haben, eine zusätzliche Erklärung für die Unmöglichkeit eines Eindringens in diesen Markt liefere. Es handele sich somit um ein entscheidendes Beweismittel gegen die Behauptung, daß eine Marktaufteilungsabsprache bestanden habe.

78 Zwar soll ICI nach den Vorwürfen der Kommission ihre beherrschende Stellung erst von 1983 an mißbräuchlich ausgenutzt haben. Die Kommission ist jedoch selbst der Meinung, daß diese beherrschende Stellung von ICI unmittelbarer Ausfluß der starken Stellung ist, die durch die vor 1973 geschlossenen Marktaufteilungsabsprachen begründet worden war. Zudem bezieht sich die Entscheidung 91/300 ausdrücklich auf Indizien für die wirtschaftliche Stärke von ICI, die auf die Zeit vor 1983 zurückgehen, so z. B. in Nummer 4 der Entscheidung auf die Tatsache, daß ICI für die Lieferung von Soda im Vereinigten Königreich bis Ende der 70er Jahre ein Monopol gehabt habe (vgl. oben, Randnr. 15).

79 Soweit die Kommission auf eine schriftliche Frage des Gerichts vorgetragen hat, daß im Gegenteil gerade die Nichteinmischung jedes der beiden beherrschenden Unternehmen in den Markt des anderen die beherrschende Stellung jedes Unternehmens auf seinem "Heimatmarkt" gewährleistet habe, ist noch einmal darauf hinzuweisen, daß es hier nicht darum geht, diese tatsächliche Frage endgültig zu beantworten, sondern um die Prüfung, ob die Verteidigungsmöglichkeiten der Klägerin durch die Art und Weise, in der die Mitteilung der Beschwerdepunkte der Klägerin übermittelt worden ist, und durch die Art und Weise, in der die Kommission anschließend das Verfahren durchgeführt hat, beeinträchtigt worden sind.

80 Zwar war der Klägerin die starke Stellung von ICI im Vereinigten Königreich bekannt (vgl. die schriftlichen Erklärungen vom 28. Mai 1990, S. 8 und 9: "Die wirtschaftliche Verwurzelung von ICI in Großbritannien macht ihre Stärke auf den britischen Inseln aus... Alle diese Faktoren... führen... zu einer gewissen geographischen Abschottung"). Diese Kenntnis spricht jedoch nicht dagegen, daß zumindest einige der Schriftstücke mit dem Aktenzeichen V für die Verteidigung der Klägerin hätten nützlich sein können.

81 In diesem Zusammenhang hat die Kommission darauf hingewiesen, daß ihre Beamten sämtliche in ihrem Besitz befindliche Unterlagen mehrfach durchgesehen hätten, ohne irgend etwas zu entdecken, was die Klägerin hätte entlasten können, so daß die Übersendung dieser Unterlagen überfluessig gewesen sei. Dazu ist festzustellen, daß im Rahmen eines nach der Verordnung Nr. 17 durchgeführten kontradiktorischen Verfahrens die Kommission nicht allein entscheiden kann, welche Schriftstücke der Verteidigung dienlich sind. Da es sich im vorliegenden Fall um schwierige und komplexe wirtschaftliche Beurteilungen handelt, muß die Kommission den Bevollmächtigten des betreffenden Unternehmens die Möglichkeit einräumen, die Schriftstücke, die möglicherweise erheblich sind, im Hinblick auf ihren Beweiswert für die Verteidigung zu prüfen.

82 Dies gilt insbesondere in den Fällen eines Parallelverhaltens, das durch eine Reihe zusammenhängender, ursprünglich neutraler Handlungen gekennzeichnet ist, wenn die Schriftstücke sowohl zugunsten als auch zuungunsten der betroffenen Unternehmen ausgelegt werden können. In diesen Fällen muß verhindert werden, daß ein eventueller Irrtum der Beamten der Kommission, wenn sie ein Schriftstück als "neutral" einstufen und als überfluessiges Beweismittel den Unternehmen nicht übermitteln, die Verteidigung dieser Unternehmen beeinträchtigen kann. Die entgegengesetzte Ansicht der Kommission würde dazu führen, daß ein solcher Irrtum ausser in dem sehr seltenen Fall einer freiwilligen Zusammenarbeit zwischen den betroffenen Unternehmen nicht rechtzeitig vor der Entscheidung der Kommission entdeckt werden kann, was nicht hinnehmbare Risiken für eine geordnete Rechtspflege beinhalten würde (vgl. nachstehend, Randnr. 85).

83 Angesichts des allgemeinen Grundsatzes der Waffengleichheit, wonach in einer Wettbewerbssache das betroffene Unternehmen die im Verfahren herangezogenen Unterlagen in gleicher Weise kennen muß wie die Kommission, kann die Ansicht der Kommission nicht überzeugen. Es kann nicht akzeptiert werden, daß bei der Entscheidung über die Zuwiderhandlung nur die Kommission im Besitz der Schriftstücke mit dem Aktenzeichen V war und damit allein darüber entscheiden konnte, ob sie diese gegen die Klägerin verwendet, während die Klägerin keinen Zugang zu den Schriftstücken hatte und somit die entsprechende Entscheidung, ob sie von ihnen für ihre Verteidigung Gebrauch machen soll, nicht treffen konnte. In einem solchen Fall würden die Verteidigungsrechte, die der Klägerin im Verwaltungsverfahren zustehen, zu sehr gegenüber den Befugnissen der Kommission eingeschränkt, denn diese würde dann sowohl die Funktion der Mitteilung der Rügen als auch die Entscheidungsfunktion ausüben und dabei eine gründlichere Kenntnis der Unterlagen besitzen als die Verteidigung.

84 Somit durfte die Kommission im vorliegenden Fall in der Mitteilung der Beschwerdepunkte keine Trennung der Beweismittel ° nach dem angeblichen Verstoß gegen Artikel 85 auf der einen Seite und nach dem angeblichen Verstoß gegen Artikel 86 auf der anderen Seite ° vornehmen. Diese Trennung behielt sie im übrigen bei den späteren Ermittlungen und bei den Beratungen des Kollegiums der Kommissionsmitglieder bei, was dazu führte, daß mehrere getrennte Entscheidungen ergingen. Diese Vorgehensweise hinderte die Klägerin daran, die Schriftstücke mit dem Aktenzeichen V zu prüfen, die nur gegen ICI verwandt wurden. Somit hat die Kommission schon bei der Mitteilung der Beschwerdepunkte, sofern die anschließend zu prüfenden Einwände nicht durchgreifen, die Verteidigungsrechte der Klägerin verletzt, indem sie in ihrem Besitz befindliche Schriftstücke, die der Verteidigung der Klägerin eventuell hätten dienlich sein können, von dem Verfahren ausschloß. Eine solche Verletzung der Verteidigungsrechte stellt einen objektiven Tatbestand dar und hängt nicht von der Gut- oder Bösgläubigkeit der Beamten der Kommission ab.

85 Um die Feststellung einer Verletzung der Verteidigungsrechte zu widerlegen, macht die Kommission zunächst geltend, ICI hätte der Klägerin die von ihr stammenden Schriftstücke, die für ihre eigene Verteidigung nützlich gewesen seien, übermitteln können. Damit wird jedoch verkannt, daß die Verteidigung eines Unternehmens nicht von dem guten Willen eines anderen Unternehmens abhängen kann, das als sein Konkurrent gilt und gegen das die Kommission gleichartige Vorwürfe erhebt. Da die ordnungsgemässe Durchführung eines Wettbewerbsverfahrens Aufgabe der Kommission ist, kann diese die Durchführung nicht den Unternehmen übertragen, deren wirtschaftliche und verfahrensrechtliche Interessen oft entgegengesetzt sind. Im vorliegenden Fall hätte sich nämlich die Klägerin möglicherweise um den Nachweis bemüht, daß ICI eine beherrschende Stellung einnehme, während ICI darin interessiert sein musste, dies zu widerlegen.

86 Deshalb ist es für die Verletzung der Verteidigungsrechte unerheblich, daß die Klägerin und ICI in gewissem Umfang Schriftstücke ausgetauscht haben, und zwar zunächst im Verwaltungsverfahren, als die Klägerin tatsächlich einige Unterlagen von ICI erhielt, und später von dem Zeitpunkt an, von dem an die beiden Unternehmen auf dem relevanten Markt nicht mehr in Wettbewerb zueinander standen, d. h. Ende 1991. Eine solche im übrigen zufallsbedingte Zusammenarbeit zwischen Unternehmen kann die Kommission nicht von ihrer Pflicht entbinden, im Rahmen der Aufklärung eines wettbewerbsrechtlichen Verstosses die Einhaltung der Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen selbst zu gewährleisten.

87 Weiter hat die Kommission auf die Vertraulichkeit verwiesen, zu deren Beachtung sie verpflichtet sei, um die Geschäftsgeheimnisse vor Drittunternehmen zu schützen, insbesondere die von ICI, die sich in ihren Schreiben vom 13. April und 14. September 1989 auf die Vertraulichkeit sämtlicher von ihr stammender Unterlagen, die in den Besitz der Kommission gelangt seien, berufen habe. Ausserdem habe die Klägerin mit Schreiben vom 27. April und 18. September 1989 einen ähnlichen Schutz verlangt.

88 Nach einem allgemeinen Grundsatz, der auf das Verwaltungsverfahren Anwendung findet und in Artikel 214 des Vertrages sowie in verschiedenen Bestimmungen der Verordnung Nr. 17 zum Ausdruck kommt, haben die Unternehmen ein Recht auf Schutz ihrer Geschäftsgeheimnisse (vgl. die Urteile des Gerichtshofes vom 24. Juni 1986, Rechtssache 53/85, Akzo Chemie/Kommission, Slg. 1986, 1965, Randnr. 28, und vom 19. Mai 1994, Rechtssache C-36/92 P, SEP/Kommission, Slg. 1994, I-1911, Randnr. 36). Nach Auffassung des Gerichts muß dieses Recht jedoch mit der Gewährleistung der Verteidigungsrechte in Einklang gebracht werden.

89 Wie die Kommission auf eine Frage des Gerichts in der Rechtssache T-36/91 ausgeführt hat, verfügt sie in einem Fall wie dem vorliegenden über zwei Möglichkeiten. Sie kann entweder der Mitteilung der Beschwerdepunkte sämtliche Schriftstücke beifügen, die sie zum Nachweis ihrer Rügen verwenden will, einschließlich der Unterlagen, die "eindeutig" als für das beschuldigte Unternehmen entlastend angesehen werden können, oder diesem ein Verzeichnis der einschlägigen Schriftstücke übersenden und ihm Einsicht in die "Akte" gewähren, d. h. ihm gestatten, die Schriftstücke in den Räumen der Kommission einzusehen (vgl. auch den Achtzehnten Bericht der Kommission über die Wettbewerbspolitik, veröffentlicht im Jahr 1989, S. 53).

90 Im vorliegenden Fall kann die Kommission ihre vollkommene Ablehnung einer Übermittlung nicht damit begründen, die Klägerin und ICI hätten in den genannten Schreiben selbst eine vertrauliche Behandlung ihrer Schriftstücke beantragt. Diese Schreiben sind nämlich sehr allgemein gehalten und lassen sich dahin verstehen, daß nur die Vertraulichkeit bestimmter sensibler Informationen, die in diesen Unterlagen enthalten sind, z. B. durch die Herausnahme der entsprechenden Stellen, gewährleistet werden musste. Im übrigen hat die Kommission selbst das Schreiben von ICI in diesem Sinne ausgelegt, da sie in ihrem Antwortschreiben vom 24. April 1989 (vgl. Rechtssache T-36/91) ausdrücklich erklärte, daß diese Schriftstücke, wenn sie für die Feststellung einer Zuwiderhandlung von Belang seien, den betroffenen Unternehmen mitgeteilt werden müssten und nur die Informationen weggelassen würden, die wirkliche Geschäftsgeheimnisse beträfen.

91 Zudem hat die Kommission im Rahmen der drei getrennten Verfahren nach den Artikeln 85 und 86 des Vertrages gegen die Klägerin und ICI tatsächlich identische Schriftstücke entweder in ihrer vollständigen oder in einer teilweise unkenntlich gemachten Fassung sowohl in die gemeinsamen Anlagen mit dem Aktenzeichen II als auch in die getrennten Anlagen mit den Aktenzeichen IV und V aufgenommen. Belegt wird dies z. B. durch die teilweise Übereinstimmung der Anlagen IV.19 und V.23, IV.24 und V.34, IV.29 und V.41, IV.28 und II.35, V.40 und II.34 sowie V.32 und II.33. Dies zeigt, daß die Kommission, falls sie es für erforderlich hielt, der angeblich vollständigen Vertraulichkeit der betreffenden Schriftstücke nicht Rechnung getragen hat.

92 Deshalb kann die Kommission den Ausschluß der Schriftstücke mit dem Aktenzeichen V von dem Verfahren gegen die Klägerin auch nicht damit rechtfertigen, die Geschäftsgeheimnisse von ICI hätten geschützt werden müssen. Die Kommission hätte diese Geschäftsgeheimnisse schützen können, indem sie in den Kopien der der Klägerin übermittelten Schriftstücke die sensiblen Stellen weggelassen hätte, was der allgemeinen Praxis der Generaldirektion für Wettbewerb (Generaldirektion IV) in diesen Fällen entsprochen hätte, die in den vorliegenden Rechtssachen auch teilweise befolgt wurde.

93 Wenn der Schutz der Geschäftsgeheimnisse von ICI oder anderer sensibler Informationen durch die Herstellung nichtvertraulicher Fassungen sämtlicher in Betracht kommender Schriftstücke zu schwierig gewesen wäre, hätte die Kommission von der zweiten Möglichkeit Gebrauch machen können, nämlich der Klägerin ein Verzeichnis der Schriftstücke mit dem Aktenzeichen V übermitteln können. In diesem Fall hätte die Klägerin Einsicht in genau bestimmte Schriftstücke in der "Akte" der Kommission beantragen können. Vor der Gewährung der Einsicht in Schriftstücke, die eventuell Geschäftsgeheimnisse enthielten, hätte die Kommission mit ICI Kontakt aufnehmen können, um zu entscheiden, welche Stellen sensible Informationen enthielten und deshalb vor der Klägerin geheimzuhalten waren. Sodann hätte die Klägerin nach der Entfernung der Geschäftsgeheimnisse Einsicht in die Schriftstücke nehmen können.

94 Nach Sinn und Zweck eines solchen Verzeichnisses hätten die dort enthaltenen Angaben für die Klägerin hinreichend klar sein müssen, um sie in die Lage zu versetzen, in Kenntnis der Sachlage zu entscheiden, ob die angeführten Schriftstücke für ihre Verteidigung von Bedeutung sein könnten. Bei Problemen der Vertraulichkeit hätte die Klägerin in der Lage sein müssen, genau das angeblich nicht zugängliche Schriftstück von ICI zu bestimmen, um mit diesem Unternehmen darüber verhandeln zu können, ob es nicht zu einem Verzicht auf die vertrauliche Behandlung bereit wäre.

95 Nach alledem rechtfertigt die eventuell notwendige vertrauliche Behandlung der Schriftstücke und/oder des Verzeichnisses, die der Klägerin hätten übermittelt werden müssen, nicht die vollständige Ablehnung der Übermittlung seitens der Kommission. Somit ist festzustellen, daß die Kommission die Verteidigungsrechte der Klägerin verletzt hat, indem sie bei der Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte nicht die Schriftstücke mit dem Aktenzeichen V entweder als Anlage zu der Mitteilung oder in Form eines Verzeichnisses übermittelt hat.

96 Zu prüfen bleibt, ob diese Verletzung der Verteidigungsrechte unabhängig von dem Verhalten des betroffenen Unternehmens im Verwaltungsverfahren ist und ob dieses Unternehmen bei der Kommission den Antrag hätte stellen müssen, ihm Einsicht in seine Akte zu gewähren oder ihm bestimmte Schriftstücke zugänglich zu machen. Weder die Verordnung Nr. 17 noch die Verordnung Nr. 99/63/EWG vom 25. Juli 1963 sehen vor, daß ein solcher Antrag vorher einzureichen ist oder die Verteidigungsrechte verwirkt sind, wenn ein solcher Antrag unterbleibt. Im vorliegenden Fall hat die Klägerin die Tatsache, daß sie im Verwaltungsverfahren keinen entsprechenden Antrag gestellt hat, in der Verhandlung jedenfalls damit erklärt, daß ein solcher Schritt offenkundig zwecklos gewesen wäre, wie die Ablehnung des Antrags von ICI zeige. Unter diesen besonderen Umständen kann das Versäumnis der Klägerin nicht dazu führen, daß die Geltendmachung eines Verstosses gegen ihre Verteidigungsrechte als verspätet ausgeschlossen ist.

97 Die Würdigung des Gerichts steht nicht im Widerspruch zu dem Urteil AEG/Kommission (a. a. O.). Der Gerichtshof stellte dort fest, daß bestimmte belastende Schriftstücke, die gegen ein Unternehmen verwendet worden waren, der Mitteilung der Beschwerdepunkte hätten beigefügt sein müssen und daß der Verstoß gegen diese Verpflichtung folglich zum Ausschluß der betreffenden Schriftstücke führt. In der Rechtssache AEG/Kommission war die Rüge einer Verletzung des rechtlichen Gehörs in ihrer Tragweite jedoch begrenzt und führte somit nicht zur Rechtswidrigkeit des gesamten Verfahrens. Daher untersuchte der Gerichtshof nach dem Ausschluß der betreffenden Schriftstücke, ob die Vorwürfe noch als bewiesen angesehen werden konnten (Randnr. 30 des genannten Urteils). Im Gegensatz zu der Rechtssache AEG/Kommission ist im vorliegenden Fall die Verteidigung der Klägerin allgemein beeinträchtigt worden, weil bestimmte Schriftstücke rechtswidrigerweise nicht übermittelt wurden, die zwar nicht belastend waren, der Verteidigung aber hätten dienlich sein können.

98 Die Verletzung der Verteidigungsrechte im Verwaltungsverfahren kann in dem gerichtlichen Verfahren nicht mehr geheilt werden, das sich auf eine richterliche Kontrolle beschränkt, die nur im Rahmen der geltend gemachten Angriffs- und Verteidigungsmittel erfolgt, und das daher eine vollständige Aufklärung des Falles im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens nicht ersetzen kann. Wenn die Klägerin im Verwaltungsverfahren sich auf möglicherweise entlastende Schriftstücke hätte berufen können, hätte sie nämlich eventuell die Feststellungen des Kollegiums der Kommissionsmitglieder zumindest insoweit beeinflussen können, als es um den Beweiswert des ihr vorgeworfenen passiven und parallelen Verhaltens seit Beginn und somit für die Dauer der Zuwiderhandlung ging. Das Gericht kann daher nicht ausschließen, daß die Kommission eine kürzere und weniger schwerwiegende Zuwiderhandlung festgestellt und dementsprechend eine geringere Geldbusse festgesetzt hätte.

99 Somit greift die zweite Rüge des Angriffsmittels durch und die angefochtene Entscheidung ist für nichtig zu erklären, soweit sie die Klägerin betrifft (vgl. Urteil Cimenteries CBR u. a./Kommission, a. a. O., Randnr. 47).

° Zur dritten Rüge des Angriffsmittels: Keine Übermittlung anderer Schriftstücke von ICI an die Klägerin

100 Anders als bei der Prüfung der zweiten Rüge des Angriffsmittels kennt das Gericht nicht die Schriftstücke von ICI, die der Klägerin nicht zugänglich gemacht worden sind und nicht das Aktenzeichen V tragen, mit Ausnahme einiger mit dem Aktenzeichen X. Die Klägerin macht jedoch zu Recht geltend, daß die Entscheidung, ob ein Kartell vorliegt, sich gegenüber den angeblich an diesem Kartell Beteiligten nicht aufspalten lässt. Eine abgestimmte Verhaltensweise zweier Unternehmen lässt sich nämlich nicht mehr beweisen, wenn die Kommission feststellen muß, daß eines der beiden Unternehmen unabhängig ohne geheime Absprache mit seinem angeblichen Partner gehandelt hat. Hätte ICI im vorliegenden Fall den gegen sie erhobenen Vorwurf entkräften können, hätte die Kommission den Vorwurf einer abgestimmten Verhaltensweise auch nicht länger gegenüber der Klägerin aufrechterhalten können. Somit hätten die Schriftstücke, die das Verhalten von ICI betrafen, auch der Verteidigung der Klägerin dienlich sein können.

101 Es ist noch einmal darauf hinzuweisen, daß die Kommission nicht alleine entscheiden konnte, ob Schriftstücke, die im Rahmen der in den vorliegenden Fällen durchgeführten Ermittlungen erlangt worden sind, die betroffenen Unternehmen entlasten konnten. Der Grundsatz der Waffengleichheit und seine Ausprägung in den Wettbewerbssachen, nämlich die Gleichheit hinsichtlich des Informationsstandes, die zwischen der Kommission und der Verteidigung bestehen muß, verlangen, daß der Klägerin die Möglichkeit hätte gegeben werden müssen, den Beweiswert der Schriftstücke von ICI, die die Kommission nicht der Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügt hatte, zu beurteilen. Es kann nicht akzeptiert werden, daß bei der Entscheidung über die Zuwiderhandlung nur die Kommission im Besitz der Schriftstücke in den "Ordnern" 39 bis 49 (ICI) war und damit allein darüber entscheiden konnte, ob sie diese für die Feststellung der Zuwiderhandlung verwendet, während die Klägerin keinen Zugang zu diesen Schriftstücken hatte und somit die entsprechende Entscheidung, ob sie von ihnen für ihre Verteidigung Gebrauch machen soll, nicht treffen konnte. Daher hätte die Kommission zumindest ein Verzeichnis erstellen müssen, das hinreichend genau hätte sein müssen, damit die Klägerin die Zweckmässigkeit eines Antrags auf Einsicht in bestimmte Schriftstücke von ICI hätte beurteilen können, die für die Verteidigung der beiden an der abgestimmten Verhaltensweise angeblich beteiligten Unternehmen hätten nützlich sein können. Da von der Klägerin nicht verlangt werden kann, daß sie den Beweiswert der einzelnen ICI eventuell entlastenden Schriftstücke ° die ihr in Ermangelung eines Verzeichnisses unbekannt sind ° dartut, muß für die Feststellung einer Verletzung der Verteidigungsrechte die Möglichkeit genügen, daß solche Schriftstücke vorhanden sind. Somit ist eine weitere Verletzung der Verteidigungsrechte nachgewiesen.

102 Das Gericht verkennt nicht, daß die Aufstellung von Verzeichnissen und der eventuelle Schutz der Geschäftsgeheimnisse vor der Gewährung der "Akteneinsicht" für die Dienststellen der Kommission einen erheblichen Verwaltungsaufwand bedeuten, wie die Kommission in der Sitzung dargelegt hat. Die Wahrung der Verteidigungsrechte darf jedoch nicht an praktischen und rechtlichen Schwierigkeiten scheitern, die eine leistungsfähige Verwaltung überwinden kann und muß.

103 Es ist noch einmal darauf hinzuweisen, daß der Fehler, mit dem das Verwaltungsverfahren behaftet ist, in dem gerichtlichen Verfahren nicht geheilt werden kann, das sich auf eine richterliche Kontrolle beschränkt, die nur im Rahmen der geltend gemachten Angriffs- und Verteidigungsmittel erfolgt, und das daher eine vollständige Aufklärung des Falls im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens nicht ersetzen kann. Wenn die Klägerin nämlich anhand eines entsprechenden Verzeichnisses Schriftstücke von ICI entdeckt hätte, die beide Unternehmen entlastet hätten, hätte sie im Verwaltungsverfahren eventuell die Feststellungen der Kommission beeinflussen können. Somit greift die dritte Rüge des Angriffsmittels durch.

104 Somit sind die zweite und die dritte Rüge des Angriffsmittels einer Verletzung der Verteidigungsrechte begründet, und die angefochtene Entscheidung ist für nichtig zu erklären, soweit sie die Klägerin betrifft, ohne daß die Rüge untersucht zu werden braucht, nach der die Kommission die angefochtene Entscheidung auf Schriftstücke gegründet habe, die sie der Klägerin nur in einer teilweise unkenntlich gemachten Fassung, so z. B. u. a. die Anlagen II.25 und II.34 der Mitteilung der Beschwerdepunkte, übermittelt habe. Ebenso erübrigt sich eine Entscheidung über die anderen Angriffsmittel zur Begründung der Anträge auf Nichtigerklärung, insbesondere über das Angriffsmittel der nicht ordnungsgemässen Feststellung der angefochtenen Entscheidung, das nicht das gesamte Verwaltungsverfahren vor der Kommission betrifft (vgl. in diesem Zusammenhang das Urteil vom heutigen Tage in der Rechtssache T-32/91, Solvay/Kommission, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht).

Kostenentscheidung:

Kosten

105 Gemäß Artikel 87 § 2 Absatz 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen im wesentlichen unterlegen ist, sind ihr die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, ohne daß die teilweise Klagerücknahme hinsichtlich des Antrags, die Entscheidung für inexistent zu erklären, zu berücksichtigen ist.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Entscheidung 91/297/EWG der Kommission vom 19. Dezember 1990 in einem Verfahren nach Artikel 85 EWG-Vertrag (IV/33.133-A: Soda ° Solvay, ICI) wird für nichtig erklärt, soweit sie die Klägerin betrifft.

2) Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

Zurück