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Gericht: Europäisches Gericht
Urteil verkündet am 25.09.1991
Aktenzeichen: T-36/89
Rechtsgebiete: EWG/EAG BeamtStat, EWG-Vertrag
Vorschriften:
EWG/EAG BeamtStat Art. 59 Abs. 4 | |
EWG/EAG BeamtStat Art. 90 Abs. 1 | |
EWG/EAG BeamtStat Art. 91 | |
EWG-Vertrag Art. 179 |
Den ärztlichen Diensten der Gemeinschaftsorgane, deren Aufgaben unter anderem darin bestehen, den Bediensteten der Organe eine angemessene ärztliche Fürsorge zu gewähren, um gemäß dem Stand der Wissenschaft sowohl die Früherkennung von Krankheiten als auch die Erkennung von Risikofaktoren zu gewährleisten, die zum Entstehen einer Krankheit führen können, obliegt es, die Betroffenen vom Vorliegen von Krankheiten, die sich aus den ärztlichen Akten ergeben, zu unterrichten und sie vor gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen zu warnen, was voraussetzt, daß ihnen alle einschlägigen Umstände und Angaben hierzu mitgeteilt werden.
Wurde ein Beamter nicht rechtzeitig über seinen Gesundheitszustand informiert, so stellt dies eine Verletzung der den ärztlichen Diensten obliegenden Verpflichtungen und damit einen Amtsfehler dar, der geeignet ist, die Haftung des beklagten Organs auszulösen.
URTEIL DES GERICHTS ERSTER INSTANZ (VIERTE KAMMER) VOM 25. SEPTEMBER 1991. - HENRICUS NIJMAN GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - BEAMTE - HAFTUNG DER KOMMISSION - AMTSFEHLER - UNTERBLIEBENE MITTEILUNG EINER KRANKHEIT BEI DER AERZTLICHEN UNTERSUCHUNG. - RECHTSSACHE T-36/89.
Entscheidungsgründe:
Der der Klage zugrunde liegende Sachverhalt
1 Der Kläger ist seit vielen Jahren als Beamter der Kommission der Europäischen Gemeinschaften bei der Forschungsanstalt Ispra der Gemeinsamen Forschungsstelle (im weiteren: GFS) beschäftigt. Während seiner Dienstjahre unterzog er sich regelmässig der in Artikel 59 Absatz 4 des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften (im weiteren: Statut) vorgesehenen jährlichen ärztlichen Pflichtuntersuchung beim ärztlichen Dienst der GFS.
2 Im Jahre 1985 unterrichtete der neue Arzt der GFS - Nachfolger des von 1973 bis 1983 konsultierten, in den Ruhestand getretenen Arztes - den Kläger vom Vorliegen eines Lungenemphysems im fortgeschrittenen Stadium.
3 Nach einem Schriftwechsel mit der Verwaltung und nachdem der Arzt seines Vertrauens in seine ärztliche Akte Einsicht genommen hatte, stellte der Kläger am 9. Juni 1987 bei der Anstellungsbehörde gemäß Artikel 90 Absatz 1 des Statuts einen Antrag auf Erlaß einer Entscheidung. Er beantragte Ersatz des Schadens, den er aufgrund einer Verschlechterung seines Gesundheitszustands erlitten habe; diese sei auf mangelnde Aufklärung durch den ärztlichen Dienst zurückzuführen, die ihn daran gehindert habe, rechtzeitig die angemessenen Vorsorgemaßnahmen zu treffen. Er machte geltend, die im Rahmen der ärztlichen Pflichtuntersuchung in den Jahren 1973 und 1974 gemachten Röntgenaufnahmen hätten schon das Vorliegen eines sich entwickelnden Lungenemphysems gezeigt und eine im Jahre 1976 durchgeführte spirometrische Untersuchung habe eine Beeinträchtigung der Atemfunktionen gezeigt, deren Verschlimmerung bei den in den Jahren 1978, 1981 und 1983 durchgeführten Pflichtuntersuchungen bestätigt worden sei. Der Kläger unterstrich, daß ihn der Arzt des Organs, obwohl er die Ergebnisse der verschiedenen Untersuchungen sehr wohl gekannt habe, nicht über seinen Gesundheitszustand aufgeklärt und es ein Jahrzehnt lang unterlassen habe, ihm die therapeutischen Maßnahmen anzuraten, die angemessen gewesen wären.
4 Nachdem sein Antrag ohne Antwort geblieben war, reichte der Kläger am 1. Dezember 1987 eine Verwaltungsbeschwerde gemäß Artikel 90 Absatz 2 des Statuts ein.
5 Am 26. April 1988 richtete der Generaldirektor für Personal und Verwaltung ein Schreiben an den Kläger, in dem er diesen davon unterrichtete, daß "die Anstellungsbehörde (der Auffassung sei), nicht über alle erforderlichen Angaben zu verfügen, um über (seine) Beschwerde entscheiden zu können". Er schlug die Bildung eines Ad-hoc-Ärzteausschusses vor, der die Aufgabe haben solle, "der Anstellungsbehörde eine Stellungnahme zu der Frage zu geben, ob Herrn Nijman dadurch ein Schaden entstanden sein kann, daß er nicht über seinen Gesundheitszustand aufgeklärt worden ist, insbesondere weil er gegebenenfalls keine Vorsorgemaßnahmen ergreifen konnte, um seinen Gesundheitszustand nicht zu verschlechtern". Der Kläger widersprach diesem Vorschlag nicht, erklärte jedoch, er werde, um einer Einrede der Unzulässigkeit zu begegnen, vorsorglich Klage beim Gerichtshof erheben.
6 Der aus drei Ärzten bestehende Ärzteausschuß - dessen erstes Mitglied von der Institution, das zweite vom Kläger und das dritte von diesen beiden Ärzten einverständlich ernannt worden war - befasste sich mit der Frage in der im Schreiben vom 26. April 1988 wiedergegebenen Form. Nach Beratung am 28. Oktober 1988 gab der Ausschuß eine Stellungnahme ab, in der er die gestellte Frage verneinte und vorschlug, die Beschwerde zurückzuweisen; diese Stellungnahme wurde nicht begründet. Die Stellungnahme war durch Mehrheitsbeschluß zustande gekommen, nachdem der vom Kläger benannte Arzt, Professor Ghiringhelli, Leiter der selbständigen Abteilung für Physiopathologie der Atemwege des Ospedale Fatebenefratelli in Mailand seine abweichende Meinung zum Ausdruck gebracht hatte.
7 Mit Schreiben vom 16. November 1988 wies die Kommission die Beschwerde ausdrücklich zurück.
8 Mit Schreiben vom 21. November 1988 bestätigte Professor Ghiringhelli dem Kläger, daß er bei Unterzeichnung der negativen Stellungnahme des Ärzteausschusses seine abweichende Meinung zum Ausdruck gebracht habe und daß die dem Ärzteausschuß vorgelegte Frage - so wie sie formuliert und zu verstehen gewesen sei - von einem Arzt nur kategorisch bejaht werden könne.
Verfahren
9 Vor diesem Hintergrund hat der Kläger mit am 24. Juni 1988 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangener Klageschrift die vorliegende Klage erhoben, die als Rechtssache 172/88 in das Register eingetragen wurde.
10 Gemäß Artikel 14 des Beschlusses des Rates vom 24. Oktober 1988 zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften hat der Gerichtshof die Rechtssache durch Beschluß vom 15. November 1989 an das Gericht verwiesen, wo sie als Rechtssache T-36/89 in das Register eingetragen worden ist.
11 Nachdem das Gericht das im Verfahren von den Parteien geäusserte grundsätzliche Einverständnis darüber, ein gerichtliches Sachverständigengutachten einzuholen, festgestellt hat, hat es diese mit Schreiben vom 2. Februar 1990 aufgefordert, gegebenenfalls Vorschläge zur Formulierung der einem Sachverständigen vorzulegenden Fragen und zur Person des Gutachters zu machen. Die Parteien haben sich auf den Namen einer der von der Kommission vorgeschlagenen Persönlichkeiten, Professor Scotti vom Labor für Physiotherapie der Atemwege der Clinica del lavoro der Universität Mailand, sowie darauf geeinigt, ihm dieselbe Frage vorzulegen, die seinerzeit dem Ad-hoc-Ärzteausschuß vorgelegt worden war.
12 Mit Beschluß vom 28. März 1990 hat das Gericht die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage angeordnet, "ob die Tatsache, daß der Kläger nicht über seinen Gesundheitszustand aufgeklärt wurde, geeignet war, ihm einen Schaden zu verursachen, und insbesondere zu dem Umstand, daß er im vorliegenden Fall nicht in der Lage war, Vorsorgemaßnahmen zu ergreifen, um seinen Gesundheitszustand nicht zu verschlechtern". Gleichzeitig hat das Gericht Professor Scotti als Sachverständigen benannt.
13 Der Sachverständige hat seinen Bericht am 30. Oktober 1990 vorgelegt. Auf der Grundlage der ihm zur Verfügung gestellten ärztlichen Akte gibt er zunächst eine chronologische Schilderung der Krankheitserscheinungen, die sich bei Herrn Nijman zwischen 1961 und 1990 zeigten, und stellt anschließend fest:
"Von 1961 bis 1972 werden in der ärztlichen Akte zahlreiche Krisen chronischer Rhinosinusitis erwähnt; ausserdem wird auf wiederholtes Auftreten akuter Bronchitis, häufig mit Fieber, hingewiesen.
... Herr Nijman scheint ein starker Raucher (20 bis 25 Zigaretten täglich) gewesen zu sein... 1971 ergab eine im Rahmen der Regeluntersuchungen durchgeführte Röntgenuntersuchung... Spuren von Bronchitis im unteren Lungenbereich, und die späteren, bis 1977 jährlich durchgeführten Röntgenuntersuchungen bestätigen diesen Befund als unverändert."
Aufgrund dieser Feststellungen gelangt der Sachverständige zu folgender Auffassung:
"Es ist somit anzunehmen, daß sich schon im Jahre 1971 eine chronische Bronchitis entwickelt hatte."
Anhand der weiteren Untersuchung der ärztlichen Akte des Klägers stellt der Sachverständige fest:
"Die im Rahmen der regelmässigen Vorsorgeuntersuchungen seit 1976 durchgeführten spirometrischen Untersuchungen hatten schon in diesem Jahr eine obstruktive Beeinträchtigung der Atemfunktion ergeben; diese Beeinträchtigung war noch mässig, zeigte sich jedoch bei der folgenden Kontrolle im Jahre 1978 als wesentlich verschlechtert, was im Jahre 1981 bestätigt wurde."
Für den Sachverständigen beweisen diese Umstände
"das Vorliegen einer obstruktiven chronischen Broncho-Pneumopathie".
Auf der Grundlage der ärztlichen Akte stellt der Sachverständige weiter fest:
"Ein Bericht über eine Röntgenuntersuchung vom 16. Januar 1980 erwähnt... einen zweifelsfreien Hinweis auf das Bestehen eines Lungenemphysems, eine Komplikation des Syndroms der obstruktiven Bronchitis."
Gleichwohl bemerkt der Sachverständige:
"Die erste ausdrückliche Diagnose eines 'Lungenemphysems' erscheint erst in dem Bericht über die Regeluntersuchung vom 27. April 1983 und wird in den späteren Berichten mit der Angabe 'spirometrisches Defizit' wiederholt."
Zuletzt stellt der Sachverständige fest:
"Die in den Jahren 1983 und 1985 durchgeführten funktionellen Untersuchungen haben eine weitere Verschlechterung der Lungenventilation mit einer Herabsetzung der Durchgängigkeit der Bronchien um etwa 50 % gezeigt."
14 Zu den Pflichten des ärztlichen Dienstes vertritt der Sachverständige folgende Auffassung:
"Der Arzt, der die Untersuchungen durchführte, hätte die Pflicht gehabt, den Patienten... über den Prozeß einer chronischen Bronchitis aufzuklären, der sich... zu diesem Zeitpunkt gerade in der Phase der Entwicklung zu einer emphysematischen Komplikation befand, und hätte ihn auch über die Risiken der Verschlechterung dieses Krankheitsbildes, das sich aus ungesunden Lebensgewohnheiten ergab, sowie über die angemessenen Vorsorgemaßnahmen unterrichten müssen... Schon allein das Aufgeben des Rauchens... hätte, wenn nicht zu einer Verbesserung, so doch zumindest zu einem Stillstand der Entwicklung des Prozesses der obstruktiven Broncho-Pneumopathie führen können."
15 Abschließend stellt der Sachverständige fest:
"1) Der arbeitsärztliche Dienst hätte in Wahrnehmung der ihm obliegenden Vorsorgeaufgabe Herrn Nijman über den Gesundheitszustand aufklären müssen, der sich hinsichtlich der Atmungsorgane aus den Röntgenuntersuchungen und den funktionellen Untersuchungen ergab.
2) Das Unterlassen dieser Aufklärung führte dazu, daß Herr Nijman nicht rechtzeitig die Maßnahmen (Aufgeben des Rauchens, Vorsorge und frühere Therapie bei Auftreten akuter Bronchitis) treffen konnte, die es zumindest erlaubt hätten, die Entwicklung der sich aus den Akten ergebenden Krankheit zu verlangsamen."
16 Die Kommission hat ihre Stellungnahme zu dem Sachverständigenbericht am 5. Dezember 1990 eingereicht. In dieser Stellungnahme hat sie neue Argumente vorgebracht, die sich auf die Frage der Begründetheit der Klage beziehen.
17 Der Kläger hat am 10. Dezember 1990 mitgeteilt, daß er zu dem Sachverständigenbericht nicht Stellung nehmen wolle.
18 Nach Eingang der Stellungnahme der Kommission hat das Gericht den Kläger gemäß Artikel 42 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes, die auf das Verfahren vor dem Gericht entsprechend anwendbar ist, aufgefordert, zu der Stellungnahme der Beklagten zu dem Sachverständigengutachten von Professor Scotti Stellung zu nehmen.
19 Der Kläger hat seine Stellungnahme am 7. Februar 1991 eingereicht.
20 Das Gericht (Vierte Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen.
21 Die mündliche Verhandlung hat am 23. April 1991 stattgefunden. Die Parteien haben durch ihre Vertreter mündlich verhandelt und die vom Gericht gestellten Fragen beantwortet.
22 In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger ein Schriftstück vorgelegt, in dem er die Höhe des ihm entstandenen Schadens auf 8 734 792 BFR beziffert. Die Beklagte hat ein Schriftstück aus der ärztlichen Akte des Klägers vorgelegt, bei dem es sich um einen Fragebogen handelt, der bei verschiedenen ärztlichen Untersuchungen zwischen 1981 und 1984 vom Kläger ausgefuellt wurde und der sich insbesondere auf dessen Tabakkonsum bezieht.
23 Der Kläger beantragt,
- die Weigerung der Beklagten, ihm den Schaden zu ersetzen, den er durch die von ihrem ärztlichen Dienst zu vertretende mangelnde Aufklärung über seinen Gesundheitszustand erlitten hat, aufzuheben;
- festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, ihm gemäß Artikel 188 EAG-Vertrag und aufgrund ihrer Fürsorgepflicht gegenüber ihren Bediensteten Schadensersatz in Höhe von 8 734 792 BFR zu gewähren;
- der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
24 Die Kommission beantragt, die Klage abzuweisen und über die Kosten nach Billigkeit zu entscheiden.
25 Das Gericht hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung auch aufgefordert, die in der ärztlichen Akte des Klägers enthaltenen Schriftstücke vorzulegen, aus denen ersichtlich sei, ob auch andere Ärzte beim Kläger Röntgenuntersuchungen durchgeführt hätten. Mit Schreiben vom 6. Mai 1991 hat die Kommission geantwortet, daß der ärztliche Dienst der GFS in dem Zeitraum von 1960 bis 1985 nur drei - am 15. Januar 1963, am 18. Dezember 1964 und am 6. Juni 1969 erstellte - Bescheinigungen in die Akte aufgenommen habe, aus denen sich eine Diagnose ergebe, die mit den gesundheitlichen Problemen zusammenhänge, auf die sich der vorliegende Rechtsstreit beziehe, und in denen jeweils eine Arbeitsunfähigkeit von zehn Tagen festgestellt worden sei.
Zur Zulässigkeit
Zur Zulässigkeit des Beweisangebots der Kommission in ihrer Stellungnahme zu dem Sachverständigenbericht
26 In ihrer Stellungnahme zu dem Sachverständigenbericht hat die Kommission geltend gemacht, sie habe das Zeugnis des Arztes der GFS eingeholt, der den Kläger zum Zeitpunkt der in Frage stehenden Vorgänge untersucht habe. Er habe erklärt, während der ärztlichen Untersuchungen - die jedes Jahr in einer nicht als oberflächlich zu bezeichnenden Art und Weise durchgeführt worden seien - sei der Kläger über seinen Gesundheitszustand aufgeklärt worden und man habe ihm geraten, das Rauchen aufzugeben.
27 In seiner Stellungnahme hierzu hat der Kläger die Unzulässigkeit des Beweismittels geltend gemacht, das die Beklagte auf Schleichwegen in diesem Verfahrensstadium einführen wolle. Wenn die Kommission das für sie günstige Zeugnis des Arztes des Organs eingeholt habe, so hätte sie es rechtzeitig in das Verfahren einführen müssen. Ausserdem sei eine indirekte Zeugenaussage gemäß Artikel 42 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes nicht zulässig, der das Vorbringen neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens verbiete, falls diese nicht auf rechtliche oder tatsächliche Gründe gestützt würden, die erst während des schriftlichen Verfahrens zu Tage getreten seien. Schließlich macht der Kläger geltend, es sei völlig unzutreffend, daß er bei den jährlichen Pflichtuntersuchungen durch den Arzt der GFS über seinen Gesundheitszustand aufgeklärt worden sei.
28 Es ist festzustellen, daß die Parteien gemäß den Artikeln 38 § 1 Buchstabe e und 40 § 1 Buchstabe d der Verfahrensordnung des Gerichtshofes ihre Beweismittel in der Klageschrift bzw. in der Klagebeantwortung bezeichnen können. Gemäß Artikel 42 § 1 können sie in der Erwiderung oder in der Gegenerwiderung noch Beweismittel benennen, müssen jedoch in diesen Fällen die Verspätung der Benennung ihrer Beweismittel begründen. Im vorliegenden Fall hat die Beklagte das Zeugnis ihres Vertrauensarztes erst in einem noch späteren Verfahrensstadium eingeführt und zudem die Verspätung der Vorlage dieses Beweismittels in keiner Weise begründet. Ausserdem hatte die Kommission bis zu diesem Zeitpunkt im vorprozessualen und im prozessualen Verfahren keineswegs bestritten, daß der Kläger vor 1985 vom ärztlichen Dienst der GFS nicht über seinen Gesundheitszustand informiert worden sei.
29 Das von der Kommission in ihrer Stellungnahme zu dem Sachverständigenbericht bezeichnete Beweismittel ist demgemäß als verspätet anzusehen und somit als unzulässig zurückzuweisen.
Zur Zulässigkeit der Einrede der Kommission, der Sachverständigenbericht sei teilweise ungültig
30 In der mündlichen Verhandlung hat die Beklagte gegenüber dem Sachverständigenbericht die Einrede der teilweisen Ungültigkeit erhoben, da dessen erste Schlußfolgerung von der Frage abweiche, die das Gericht ausdrücklich gestellt habe. Sie macht geltend, der Sachverständige habe sich das Recht angemasst, Schlußfolgerungen zu ziehen, die nur das Gericht ziehen dürfe.
31 Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, daß diese Einrede, da die Kommission sie nicht in ihrer schriftlichen Stellungnahme zu dem Sachverständigenbericht erhoben hat, als verspätet anzusehen ist. Ausserdem ist das Gericht der Auffassung, daß erstens alle in dem Bericht gemachten Ausführungen eine erforderliche und hinreichende Begründung der Schlußfolgerungen darstellen, zu denen der Sachverständige gelangt ist, und daß zweitens diese Schlußfolgerungen im Rahmen der dem Sachverständigen gestellten Frage liegen.
32 Diese Einrede ist demgemäß zu verwerfen.
Zur Begründetheit
33 Der Kläger macht im wesentlichen geltend, die Tatsache, daß der ärztliche Dienst ihm während mehr als zehn Jahren die Krankheit, unter der er gelitten habe, verschwiegen habe, habe ihm deshalb einen Schaden verursacht, weil er nicht rechtzeitig bei seiner Arbeit und in seinem täglichen Leben besondere Vorsichtsmaßnahmen habe treffen können. Er räumt ein, daß er "unter einem leichten, aber gewohnheitsmässigen Husten, einer leicht heiseren Stimme und einer gewissen Atemnot beim Schwimmen" gelitten habe, Anzeichen, die im Rahmen seiner üblichen Aktivitäten aufgetreten seien. Er macht geltend, das Verhalten des ärztlichen Dienstes stelle einen Amtsfehler dar, für den die Kommission nach den allgemeinen Grundsätzen im Bereich der ausservertraglichen Haftung, auf die Artikel 188 EAG-Vertrag Bezug nehme, sowie nach dem Grundsatz der Sorgfalts- und Fürsorgepflicht, die ihr im besonderen gegenüber ihren Bediensteten obliege, hafte.
34 Die Kommission macht geltend, es bestehe keinerlei Kausalzusammenhang zwischen dem angeblichen Amtsfehler - unterlassene Aufklärung - und dem dem Kläger möglicherweise entstandenen Gesundheitsschaden. Sie führt aus, trotz des natürlichen Fortschreitens der Krankheit, deren erste Anzeichen vor etwa 20 Jahren aufgetreten seien, arbeite Herr Nijman noch im Alter von 63 Jahren und seine Fehlzeiten seien äusserst gering (46 Tage in den Jahre 1985 bis 1990). Sie schließt hieraus, daß die genannten Umstände, die Langsamkeit des Fortschreitens der Krankheit und die geringe vorübergehende Dienstunfähigkeit zeigten, daß beim Kläger eine natürliche Entwicklung seiner Krankheit vorliege.
35 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes "ein im Dienstverhältnis wurzelnder Schadensersatzprozeß zwischen einem Beamten und dem Organ, dem er angehört oder angehörte, im Rahmen des Artikels 179 EWG-Vertrag sowie der Artikel 90 und 91 des Statuts liegt und nicht in den Anwendungsbereich der Artikel 178 und 215 EWG-Vertrag fällt" (Urteile des Gerichtshofes vom 22. Oktober 1975 in der Rechtssache 9/75, Meyer-Burckhardt/Kommission, Slg. 1975, 1171, 1181; vom 17. Februar 1977 in der Rechtssache 48/76, Reinarz/Kommission und Rat, Slg. 1977, 291, 298; Beschluß vom 10. Juni 1987 in der Rechtssache 317/85, Pomar/Kommission, Slg. 1987, 2467, 2470; Urteil vom 7. Oktober 1987 in der Rechtssache 401/85, Schina/Kommission, Slg. 1987, 3911, 3929). Diese Rechtsprechung ist auch als im Rahmen des Artikels 152 EAG-Vertrag anwendbar anzusehen.
36 Die Haftung der Gemeinschaft hängt davon ab, daß eine Reihe von Voraussetzungen erfuellt sind: Das Organ muß einen Amtsfehlers begangen haben, es muß ein bestimmter und meßbarer Schaden vorliegen, und zwischen dem Amtsfehler und dem behaupteten Schaden muß ein Kausalzusammenhang bestehen (Urteil des Gerichts vom 13. Dezember 1990 in der Rechtssache T-20/89, Moritz/Kommission, Slg. 1990, II-769, 775). Somit ist zuerst zu untersuchen, ob das Verhalten des Organs geeignet war, dessen Haftung auszulösen.
37 Zu dem Verhalten des Organs ist das Gericht der Auffassung, daß der Sachverständigenbericht und die Erklärungen des Klägers, denen die Beklagte während des gesamten schriftlichen Verfahrens nicht widersprochen hat, rechtlich hinreichend beweisen, daß der ärztliche Dienst der GFS den Kläger über den Verlauf der bei ihm bestehenden chronischen Bronchitis nicht zu dem Zeitpunkt aufklärte, als sich dieser Verlauf eben, wie der Sachverständige es ausdrückt, "in der Phase der Entwicklung zu einer emphysematischen Komplikation" befand, und daß der ärztliche Dienst dem Kläger nicht die seinem Zustand angemessenen Hinweise und therapeutischen Ratschläge gab. Dieses Unterlassen von Aufklärung stellt einen Verstoß gegen die Pflichten dar, die den ärztlichen Diensten der Gemeinschaftsorgane angesichts der Zielsetzungen, derentwegen sie errichtet wurden, obliegen. Diese Zielsetzungen bestehen unter anderem darin, den Bediensteten der Organe eine angemessene ärztliche Fürsorge zu gewähren, um gemäß dem Stand der Wissenschaft sowohl die Früherkennung von Krankheiten als auch die Erkennung von Risikofaktoren zu gewährleisten, die zum Entstehen einer Krankheit führen können. Gemäß Artikel 59 Absatz 4 des Statuts hat sich der Beamte alljährlich einer "vorbeugenden ärztlichen Pflichtuntersuchung" zu unterziehen. Der ärztliche Dienst seinerseits ist verpflichtet, den Beamten vom Vorliegen von Krankheiten, die sich aus seiner ärztlichen Akte ergeben, "zur Vorbeugung" zu unterrichten und ihn vor gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen zu warnen, was voraussetzt, daß ihm alle einschlägigen Umstände und Angaben hierzu mitgeteilt werden. Im vorliegenden Fall ist festzustellen, daß das Verhalten des ärztlichen Dienstes der GFS gegenüber dem Kläger, das durch den Umstand gekennzeichnet ist, daß er diesen nicht rechtzeitig über seinen Gesundheitszustand informiert hat, einen Amtsfehler darstellt, der geeignet ist, die Haftung des beklagten Organs auszulösen.
38 Zu dem vom Kläger erlittenen Schaden ist darauf hinzuweisen, daß der Sachverständige hervorgehoben hat, daß "eine obstruktive Beeinträchtigung der Atemfunktion", die sich im Jahre 1976 gezeigt habe, sich in den folgenden Jahren "wesentlich verschlechtert" habe, was das "Vorliegen einer obstruktiven chronischen Broncho-Pneumopathie" beweise, daß ein im Jahre 1980 erstellter Bericht das Bestehen "eines Lungenemphysems, eine Komplikation des Syndroms der obstruktiven Bronchitis" erwähnt habe und daß die letzten Untersuchungen "eine weitere Verschlechterung der Lungenventilation mit einer Herabsetzung der Durchgängigkeit der Bronchien um etwa 50 % gezeigt" hätten. Das Gericht ist somit der Auffassung, daß dem Kläger ein bestimmter Schaden entstanden ist, der in einer Verschlimmerung seiner Krankheit besteht.
39 Die letzte Voraussetzung dafür, daß die Haftung des Organs ausgelöst wird, ist das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen dem festgestellten Amtsfehler und dem erlittenen Schaden. Nach Auffassung des Gerichts lassen die Schlußfolgerungen des Sachverständigen keinerlei Zweifel daran, daß ein solcher Zusammenhang besteht. Der Sachverständige ist nämlich zu folgender Schlußfolgerung gelangt:
"Das Unterlassen dieser Aufklärung führte dazu, daß Herr Nijman nicht rechtzeitig die Maßnahmen (Aufgeben des Rauchens, Vorsorge und frühere Therapie bei Auftreten akuter Bronchitis) treffen konnte, die es zumindest erlaubt hätten, die Entwicklung der sich aus den Akten ergebenden Krankheit zu verlangsamen."
Es ist jedoch festzustellen, daß es, wie sich aus dem Sachverständigenbericht ergibt, nicht zum völligen Verschwinden der Krankheit, sondern nur zu einer Verlangsamung der Entwicklung der Krankheit geführt hätte, wenn Herr Nijman die genannten Maßnahmen getroffen hätte; aus diesem Grund haben das Unterlassen von Aufklärung und das Unterlassen von Vorsorgemaßnahmen nur eine Verschlimmerung der Krankheit verursacht.
40 Zur Berechnung der Entschädigung vertritt der Kläger die Auffassung, obwohl es sich um eine Entschädigung nach den Regeln des allgemeinen Rechts handele und nicht um eine Versicherungsleistung, sei es sachgerecht, einen konkreten Anknüpfungspunkt in der Regelung zur Sicherung der Beamten der Europäischen Gemeinschaften bei Unfällen und Berufskrankheiten (im weiteren: Regelung) zu suchen. Artikel 14 dieser Regelung sehe vor, daß der Beamte bei einer dauernden Verletzung oder Entstellung, die zwar nicht seine Erwerbsfähigkeit mindere, aber seine körperliche Unversehrtheit beeinträchtige und ihn deshalb im gesellschaftlichen Leben benachteilige, eine Entschädigung erhalte. Nach diesem Artikel werde die Höhe dieser Entschädigung entsprechend den Sätzen festgelegt, die sich aus der in Artikel 12 genannten Invaliditätstabelle ergäben. Der ihm entstandene Schaden mache sich vor allem auf individueller Ebene bemerkbar (Lebensdauer und -qualität, Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit und seiner Aktivitäten, strenge Selbstbeobachtung, periodische Anwendung von Therapien und Medikamenten, Lebensgefahr bei Krankheiten oder Vorfällen, die von anderen Personen problemlos überwunden würden, usw.). Eine dauernde und nicht rückgängig zu machende Schädigung der Atemorgane, wie sie ein Emphysem darstelle, bedeute objektiv gesehen eine dauernde Teilinvalidität von 50 %, weshalb ihm eine Entschädigung von 8 734 792 BFR, berechnet unter Zugrundelegung seines Grundgehalts der letzten zwölf Monate, zustehe.
41 Die Kommission ist der Auffassung, der Kläger habe zur Berechnung der Entschädigung eine unrichtige Methode angewandt, da die Regelung in seinem Fall nicht anwendbar sei. Selbst wenn man - entgegen ihrer Ansicht - von ihrer Verantwortlichkeit ausgehe, handele es sich nicht um eine volle Verantwortlichkeit, sondern um eine minimale Teilverantwortlichkeit. Die Verantwortlichkeit müsse zwischen dem ärztlichen Dienst der GFS und den verschiedenen Ärzten, die der Kläger in den letzten dreissig Jahren konsultiert habe, aufgeteilt werden.
42 Das Gericht ist der Auffassung, daß eine Bezugnahme auf die Regelung im vorliegenden Fall nicht möglich ist, da der dem Kläger entstandene Schaden zwar ein körperlicher Schaden ist, seinen Ursprung jedoch weder in einem Unfall noch in einer Berufskrankheit hat.
43 Im übrigen ist das Gericht der Auffassung, daß die Kommission für den dem Kläger entstandenen Schaden nicht voll verantwortlich ist, da dieser, wie er in seiner Klageschrift erklärt hat, zu dieser Zeit "unter einem leichten, aber gewohnheitsmässigen Husten, einer leicht heiseren Stimme und einer gewissen Atemnot beim Schwimmen" litt, Anzeichen, die im Rahmen seiner üblichen Aktivitäten auftraten. Nach Auffassung des Gerichts hätte der Kläger, nachdem er vom Vertrauensarzt der GFS keine zufriedenstellende Erklärung über den Ursprung dieser Beschwerden erhalten hatte, unter diesen Umständen grössere Sorgfalt aufwenden müssen, um den Ursprung seiner gesundheitlichen Probleme herauszufinden, insbesondere durch Aufsuchen von Fachärzten. Da diese Nachlässigkeit zum Eintritt des dem Kläger entstandenen Schadens beigetragen hat, trifft die Kommission keine vollständige Ersatzpflicht.
44 Aufgrund des im vorliegenden Falls festgestellten Zusammenwirkens von Fehlern, nämlich einerseits des Amtsfehlers der Kommission und andererseits der vom Kläger gezeigten Nachlässigkeit, sieht das Gericht aus Billigkeitsgründen die Zahlung eines Betrags von einer Million BFR als angemessene Entschädigung des Klägers an.
Kostenentscheidung:
Kosten
45 Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes, die auf das Verfahren vor dem Gericht entsprechend anwendbar ist, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Verfahrenskosten aufzuerlegen.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1) Die Entscheidung der Kommission, mit der dem Kläger der Ersatz des ihm entstandenen Schadens verweigert wurde, wird aufgehoben.
2) Die Kommission wird verurteilt, dem Kläger Schadensersatz in Höhe von einer Million BFR zu zahlen.
3) Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.
Ende der Entscheidung
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