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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäisches Gericht
Urteil verkündet am 29.06.1995
Aktenzeichen: T-37/91
Rechtsgebiete: EG-Satzung des Gerichtshofes, VerfO


Vorschriften:

EG-Satzung des Gerichtshofes Art. 19 Absatz 1
VerfO Art. 38 § 1 Buchstabe c
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die Akteneinsicht in Wettbewerbssachen soll den Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte in die Lage versetzen, von den in den Akten der Kommission vorhandenen Beweisstücken Kenntnis zu nehmen, um aufgrund dieser Beweisstücke in zweckmässiger Weise zu den Schlußfolgerungen Stellung nehmen zu können, zu denen die Kommission in der Mitteilung ihrer Beschwerdepunkte gelangt ist.

Die Akteneinsicht gehört somit zu den Verfahrensgarantien, die die Rechte der Verteidigung schützen sollen. Die tatsächliche Beachtung dieses allgemeinen Grundsatzes erfordert es, dem betroffenen Unternehmen bereits im Verwaltungsverfahren Gelegenheit zu geben, zum Vorliegen und zur Erheblichkeit der von der Kommission angeführten Tatsachen, Rügen und Umstände gebührend Stellung zu nehmen.

Eine eventuelle Verletzung der Verteidigungsrechte und deren Folgen sind vom Gericht anhand der besonderen Umstände jedes einzelnen Falles zu beurteilen. Es lässt sich nämlich nur anhand der Rügen, an denen die Kommission gegenüber dem betreffenden Unternehmen tatsächlich festhält, und anhand des Verteidigungsvorbringens des Unternehmens entscheiden, ob die nicht übermittelten Unterlagen für diese Verteidigung von Bedeutung sind. Dies gilt sowohl für die Unterlagen, die das Unternehmen eventuell entlasten, als auch für solche, die die behauptete Zuwiderhandlung belegen.

2. Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts sieht weder eine Frist noch eine besondere Form für das - zulässige - Vorbringen eines neuen Angriffsmittels vor. Insbesondere muß nach dieser Bestimmung das Vorbringen zur Vermeidung des Ausschlusses nicht unverzueglich oder innerhalb einer bestimmten Frist nach dem Zutagetreten der dort genannten rechtlichen oder tatsächlichen Gründe erfolgen. Das Vorbringen eines Angriffsmittels kann grundsätzlich nur dann ausgeschlossen werden, wenn der Ausschluß ausdrücklich und eindeutig geregelt ist, da er die Möglichkeit der betroffenen Partei einschränkt, alles vorzutragen, was erforderlich ist, um ihren Ansprüchen zum Erfolg zu verhelfen.

3. Die Feststellung der Rechtsakte gemäß Artikel 12 Absatz 1 der Geschäftsordnung der Kommission, die vor der Annahme der Rechtsakte durch das Kollegium der Kommissionsmitglieder und vor deren Zustellung oder Veröffentlichung erfolgen muß, soll die Rechtssicherheit gewährleisten, indem sie den vom Kollegium angenommenen Wortlaut in allen verbindlichen Sprachen feststellt. Damit kann im Streitfall die vollkommene Übereinstimmung der zugestellten oder veröffentlichten Texte mit dem angenommenen Text und damit zugleich mit dem Willen der sie erlassenden Stelle geprüft werden. Infolgedessen ist die Feststellung eine wesentliche Formvorschrift im Sinne des Artikels 173 EWG-Vertrag, und eine vor ihrer Feststellung zugestellte Entscheidung ist unabhängig davon, ob zwischen dem angenommenen und dem veröffentlichten oder zugestellten Text Abweichungen bestehen, mit einem wesentlichen Formfehler behaftet.

4. Nach Erhebung einer Klage gegen einen Rechtsakt, der aufgrund eines Verstosses gegen wesentliche Formvorschriften fehlerhaft ist, kann das Organ, das diesen Rechtsakt erlassen hat, diesen Fehler nicht durch eine einfache rückwirkende Berichtigung heilen, indem es z. B. einen vor seiner Feststellung zugestellten Rechtsakt feststellt.

Dies gilt vor allem dann, wenn dem Kläger durch die Entscheidung eine Geldbusse auferlegt worden ist, da durch eine Berichtigung nach Erhebung der Klage dem auf diesen Fehler gestützten Angriffsmittel die Grundlage entzogen würde. Eine solche Lösung verstieße gegen die Rechtssicherheit und die Interessen des einzelnen, der von einer Bußgeldentscheidung betroffen ist.


URTEIL DES GERICHTS ERSTER INSTANZ (ERSTE ERWEITERTE KAMMER) VOM 29. JUNI 1995. - IMPERIAL CHEMICAL INDUSTRIES PLC GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - WETTBEWERB - MISSBRAUCH EINER BEHERRSCHENDEN STELLUNG - VERWALTUNGSVERFAHREN - VERTEIDIGUNGSRECHTE - WAFFENGLEICHHEIT - AKTENEINSICHT - GESCHAEFTSORDNUNG DER KOMMISSION - FESTSTELLUNG EINER VOM KOLLEGIUM DER KOMMISSIONSMITGLIEDER ANGENOMMENEN ENTSCHEIDUNG. - RECHTSSACHE T-37/91.

Entscheidungsgründe:

Sachverhalt und Verfahren

Wirtschaftlicher Hintergrund

1 Das Erzeugnis, das Gegenstand des Verfahrens ist, ist Soda. Soda wird für die Glasherstellung (schwere Soda) und in der chemischen Industrie sowie in der Metallbearbeitung (leichte Soda) verwendet. Zu unterscheiden ist zwischen Natursoda (schwere Soda), die hauptsächlich in den Vereinigten Staaten von Amerika abgebaut wird, und synthetischer Soda (schwere und leichte Soda), die in Europa in einem von der Firma Solvay vor 100 Jahren erfundenen Verfahren hergestellt wird.

2 Im entscheidungserheblichen Zeitraum gab es in der Gemeinschaft sechs Hersteller von synthetischer Soda:

° Solvay et Cie SA (nachstehend: Solvay), in der Gemeinschaft und weltweit der grösste Hersteller, mit einem Marktanteil innerhalb der Gemeinschaft von fast 60 % (und sogar 70 % innerhalb der Gemeinschaft ohne das Vereinigte Königreich und Irland);

° die Klägerin, der zweitgrösste Hersteller in der Gemeinschaft, mit einem Marktanteil im Vereinigten Königreich von mehr als 90 %;

° die "kleinen" Hersteller: Chemische Fabrik Kalk (nachstehend: CFK) sowie Matthes & Weber (Deutschland), Akzo (Niederlande) und Rhône-Poulenc (Frankreich), die zusammen einen Anteil von etwa 26 % halten.

3 Solvay hat Werke in Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Portugal und Österreich und ist in diesen Ländern sowie in der Schweiz, den Niederlanden und Luxemburg mit eigenen Verkaufsorganisationen tätig. Ausserdem ist sie der grösste Salzhersteller in der Gemeinschaft und befindet sich daher in einer sehr günstigen Position für die Lieferung des wichtigsten Rohstoffes für synthetische Soda. Die Klägerin besitzt zwei Werke im Vereinigten Königreich, während eine dritte Produktionsanlage 1985 stillgelegt wurde.

4 Im entscheidungserheblichen Zeitraum war der Gemeinschaftsmarkt durch eine Aufteilung entsprechend den nationalen Grenzen gekennzeichnet, da die Hersteller in der Regel ihren Absatz auf diejenigen Mitgliedstaaten konzentrierten, in denen sie über Produktionsanlagen verfügten.

Verwaltungsverfahren

5 Nachdem die Kommission 1989 bei den wichtigsten Sodaherstellern der Gemeinschaft unangemeldet Nachprüfungen durchgeführt und diese durch die Einholung von Auskünften ergänzt hatte, übersandte sie der Klägerin mit Schreiben vom 13. März 1990 eine Mitteilung der Beschwerdepunkte, die in mehrere Teile gegliedert war. In dieser Mitteilung wurde u. a. der Klägerin ein Verstoß gegen Artikel 86 EWG-Vertrag zur Last gelegt, auf den sich die für die Klägerin bestimmten Anlagen V.1 bis V.123 beziehen, ferner wurde der Klägerin und Solvay ein Verstoß gegen Artikel 85 EWG-Vertrag zur Last gelegt, auf den sich die für diese bestimmten Anlagen II.1 bis II.42 beziehen.

6 Unter Hinweis auf die Bedeutung, die der Wahrung der Vertraulichkeit der Schriftstücke zukomme, die nach der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204) erlangt worden seien, teilte die Kommission in dem genannten Schreiben vom 13. März 1990 jedem Unternehmen die Antworten des anderen Unternehmens nach Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 mit, wobei sie erklärte, daß "die Informationen, die Geschäftsgeheimnisse darstellen können, (ebenfalls) aus diesen Antworten entfernt worden sind".

7 Am 14. Mai 1990 bat der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin telefonisch, ihm Einsicht in die Akten der Kommission zu gewähren, soweit es um die der Klägerin zur Last gelegten Verstösse gehe. Dieser Antrag wurde von Herrn J., einem Beamten der Generaldirektion für Wettbewerb (Generaldirektion IV) der Kommission, offenkundig abgelehnt.

8 Mit Schreiben vom 23. Mai 1990 wiederholte der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin den Antrag unter Bezugnahme auf die Reaktion von Herrn J., der ihm jegliche Einsicht in die Akten, selbst in Schriftstücke, die nicht vertraulich seien, verwehrt habe. Nach Aussage des Prozeßbevollmächtigten wurde die Mitteilung eines Verzeichnisses der in den Akten enthaltenen Schriftstücke ebenfalls abgelehnt. Die Kommission habe erklärt, sie gebe nur Anträgen statt, die auf die Prüfung bestimmter Schriftstücke gerichtet seien. Diese restriktive Haltung der Dienststellen der Kommission habe die Vorbereitung der Verteidigung der Klägerin beeinträchtigt.

9 Mit Schreiben vom 31. Mai 1990, das von Direktor R. von der Generaldirektion IV unterzeichnet war, wurde der Klägerin von der Kommission die vollständige Akteneinsicht verwehrt. Die Kommission machte geltend, die Klägerin habe kein Recht, interne Geschäftsunterlagen anderer Unternehmen, die nicht als Beweise vorgelegt würden, in rein spekulativer Absicht zu prüfen. Ausserdem habe die Kommission alle diese Schriftstücke erneut daraufhin überprüft, ob sie die Klägerin entlasten könnten, doch habe sie ein derartiges Schriftstück nicht entdeckt; sie bot eine erneute Überprüfung der Akten an, wenn die Klägerin dartü, daß bezueglich eines bestimmten tatsächlichen oder rechtlichen Punktes "gute Gründe dafür sprechen".

10 Am 31. Mai 1990 legte die Klägerin einen "Schriftsatz zur Verteidigung" ("defence") vor. Sie rügte dort die Entscheidung, ihr keine Akteneinsicht zu gewähren, und fügte mehrere neue Schriftstücke als Beweismittel bei.

11 Am 26. und 27. Juni 1990 führte die Kommission eine Anhörung bezueglich der der Klägerin und Solvay zur Last gelegten Verstösse durch. An dieser Anhörung nahm nur die Klägerin teil. Bei dieser Gelegenheit legte sie eine neue Stellungnahme, die "Darstellung ihres Falls" ("article 86 presentation") vor, der sie weitere Schriftstücke beifügte.

12 Bei der Anhörung legte die zuständige Dienststelle der Kommission eine Reihe von Schriftstücken (die Schriftstücke mit dem Aktenzeichen "X.12 bis X.14") vor, die alle von der Klägerin stammten und nach Ansicht der Kommission ° ebenso wie die bereits vorgelegten Schriftstücke ° das wirkliche Verhalten der Klägerin zeigten und ihr Verteidigungsvorbringen entkräfteten. Nach Aussage der zuständigen Dienststelle wurden diese neuen Schriftstücke in das Verfahren nicht deshalb eingeführt, weil sie zusätzliche Informationen gegenüber den der Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügten Schriftstücken enthielten, sondern um dem Vorwurf der Klägerin zu begegnen, daß die Beweisunterlagen dürftig seien. Bezueglich der Akteneinsicht vertrat der Anhörungsbeauftragte die Auffassung, daß es sich um ein schwieriges Problem handele. Keiner wisse, was unter den Begriff der "Akte" falle; es sei Aufgabe des Gemeinschaftsrichters, diesen Begriff zu gegebener Zeit auszulegen. Das Problem sei daher bei der Anhörung nicht zu erörtern.

13 Nach der Anhörung, an deren Ende zwei Fragen unbeantwortet blieben, übersandte die Klägerin der Kommission ein Schreiben vom 31. Juli 1990, das zusätzliche Informationen enthielt. Die Kommission führte daraufhin eine zusätzliche Untersuchung durch, um bestimmte Behauptungen der Klägerinnen zu überprüfen, die sich auf die Preisabschläge bezogen, die ein Sodahersteller aus den Vereinigten Staaten, die Firma Allied, dem britischen Glashersteller Rockware angeblich angeboten hatte.

14 Nach den Akten hat das Kollegium der Kommissionsmitglieder nach Beendigung dieses Verfahrens auf seiner 1 040. Sitzung vom 17. und 19. Dezember 1990 die Entscheidung 91/300/EWG in einem Verfahren nach Artikel 86 EWG-Vertrag (IV/33.133-D: Soda ° ICI, ABl. 1991, L 152, S. 40, nachstehend: Entscheidung) erlassen. In dieser Entscheidung wird im wesentlichen festgestellt, daß die Klägerin auf dem Sodamarkt im Vereinigten Königreich eine beherrschende Stellung innehabe und diese von etwa 1983 an mißbräuchlich im Sinne des Artikels 86 EWG-Vertrag ausgenutzt habe. Infolgedessen ist mit dieser Entscheidung eine Geldbusse von 10 Millionen ECU gegen sie festgesetzt worden.

15 Die Entscheidung wurde der Klägerin mit eingeschriebenem Brief vom 1. März 1991 zugestellt.

16 Es ist unstreitig (siehe nachstehend Randnr. 77), daß die zugestellte Entscheidung nicht gemäß dem seinerzeit geltenden Artikel 12 Absatz 1 der Geschäftsordnung 63/41/EWG der Kommission vom 9. Januar 1963 (ABl. 1963, Nr. 17, S. 181), die nach Artikel 1 des Beschlusses 67/426/EWG der Kommission vom 6. Juli 1967 (ABl. 1967, Nr. 147, S. 1) vorläufig weiterhin gilt und zuletzt durch Beschluß 86/61/EWG, Euratom, EGKS der Kommission vom 8. Januar 1986 (ABl. L 72, S. 34) geändert worden ist (im folgenden: Geschäftsordnung), durch die Unterschriften des Präsidenten und des Exekutivsekretärs festgestellt worden ist.

Gerichtliches Verfahren

17 Aufgrund dessen hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben, die am 14. Mai 1991 in das Register der Kanzlei des Gerichts eingetragen worden ist.

18 Das schriftliche Verfahren ist ordnungsgemäß abgelaufen. Nach dem Eingang ihrer Erwiderung am 23. Dezember 1991 hat die Klägerin am 2. April 1992 eine "Ergänzung zur Erwiderung" eingereicht, mit der sie ein neues Angriffsmittel geltend macht und beantragt, die angefochtene Entscheidung für inexistent zu erklären. Unter Hinweis auf Erklärungen von Vertretern der Kommission in der am 10. Dezember 1991 beendeten mündlichen Verhandlung in den Rechtssachen, die zum Urteil des Gerichts vom 27. Februar 1992 geführt haben (Rechtssachen T-79/89, T-84/89, T-85/89, T-86/89, T-89/89, T-91/89, T-92/89, T-94/89, T-96/89, T-98/89, T-102/89 und T-104/89, BASF u. a./Kommission, Slg. 1992, II-315, nachstehend: PVC-Urteil), und unter Bezugnahme auf zwei Zeitungsartikel, die im Wall Street Journal vom 28. Februar 1992 und in der Financial Times vom 2. März 1992 erschienen sind, macht sie u. a. geltend, die Kommission habe öffentlich erklärt, es sei jahrelange Praxis, daß vom Kommissionskollegium angenommene Rechtsakte nicht festgestellt würden, und seit 25 Jahren sei keine Entscheidung mehr Gegenstand einer Feststellung gewesen. Nach Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung hat der Präsident der Ersten erweiterten Kammer die Frist zur Einreichung der Gegenerwiderung verlängert. Die Kommission hat in ihrer Gegenerwiderung zu dieser "Ergänzung zur Erwiderung" schriftlich Stellung genommen.

19 Im März 1993 hat das Gericht (Erste Kammer) ° als prozeßleitende Maßnahme ° beschlossen, den Parteien mehrere Fragen u. a. hinsichtlich der Einsicht der Klägerin in die Akten der Kommission zu stellen. Die Parteien haben auf diese Fragen im Mai 1993 geantwortet. Nachdem der Gerichtshof mit Urteil vom 15. Juni 1994 in der Rechtssache C-137/92 P (Kommission/BASF u. a., Slg. 1994, I-2555) über das Rechtsmittel gegen das PVC-Urteil des Gerichts entschieden hatte, hat das Gericht (Erste erweiterte Kammer) weitere prozeßleitende Maßnahmen erlassen, durch die es die Kommission insbesondere aufgefordert hat, u. a. die Entscheidung, wie sie seinerzeit durch die Unterschriften des Präsidenten und des Generalsekretärs in den verbindlichen Sprachen festgestellt und dem Protokoll beigefügt worden ist, vorzulegen.

20 Die Kommission hat in ihrer Antwort erklärt, daß sie es für angezeigt halte, nicht auf die Begründetheit des Angriffsmittels der fehlenden Feststellung der Entscheidung einzugehen, solange das Gericht nicht über die Zulässigkeit dieses Angriffsmittels entschieden habe.

21 Das Gericht (Erste erweiterte Kammer) hat der Kommission aufgrund dessen mit Beschluß vom 25. Oktober 1994 gemäß Artikel 65 der Verfahrensordnung aufgegeben, den genannten Text vorzulegen.

22 Die Kommission hat aufgrund dieses Beschlusses am 11. November 1994 u. a. die Entscheidung in englischer Sprache vorgelegt. Auf dem Deckblatt der Entscheidung ist ein nicht datierter Feststellungsvermerk angebracht, der vom Präsidenten und dem Exekutivsekretär der Kommission unterzeichnet ist. Es ist unstreitig, daß dieser Vermerk erst sechs Monate nach Erhebung der vorliegenden Klage angebracht worden ist (siehe nachstehend Randnr. 77).

23 Das Gericht hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen. Die Parteien haben in der Sitzung vom 6. und 7. Dezember 1994 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet. Am Schluß der Sitzung hat der Präsident die mündliche Verhandlung für geschlossen erklärt.

Anträge der Parteien

24 Die Klägerin beantragt,

° die Klage für zulässig zu erklären,

° die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären,

° die Anweisung in Artikel 2 der Entscheidung, die Zuwiderhandlung abzustellen, aufzuheben,

° die in Artikel 3 der Entscheidung festgesetzte Geldbusse aufzuheben oder herabzusetzen,

° hilfsweise, der Kommission als Maßnahme der Beweiserhebung aufzugeben, den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin Akteneinsicht zu gewähren,

° äusserst hilfsweise, daß die Akten vom Gericht geprüft werden, um die Klägerin durch zusätzliche Schriftstücke von den Vorwürfen entlasten zu können,

° der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

25 In ihrer Ergänzung zur Erwiderung macht die Klägerin geltend, daß die angefochtene Entscheidung für nichtig oder, wenn das Gericht dies für angezeigt halte, für inexistent zu erklären sei.

26 Die Kommission beantragt,

° die Klage als unbegründet abzuweisen,

° das Vorbringen in der Ergänzung zur Erwiderung als unzulässig oder jedenfalls als unbegründet zurückzuweisen,

° der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

27 Nach der Verkündung des genannten Urteils des Gerichtshofes vom 15. Juni 1994 hat die Klägerin auf eine schriftliche Frage des Gerichts erklärt, sie beantrage nicht mehr, die Entscheidung für inexistent zu erklären, sondern nur noch, sie für nichtig zu erklären. Die Klägerin hat gebeten, ihre Klagegründe nur unter dem Blickwinkel der Nichtigerklärung zu prüfen.

Zu dem Antrag auf Nichtigerklärung der Entscheidung

28 Zur Begründung ihres Antrags auf Nichtigerklärung trägt die Klägerin eine Reihe von Angriffsmitteln vor, die sich in zwei verschiedene Gruppen unterteilen lassen. Im Rahmen der ersten Gruppe von Angriffsmitteln bezueglich der Ordnungsgemäßheit des Verwaltungsverfahrens verweist die Klägerin in ihrer Klageschrift auf ihr Vorbringen in der Rechtssache T-36/91 (ICI/Kommission) zur Anwendung des Artikels 85 des Vertrages. Mit diesem Vorbringen wird eine Verletzung der Verteidigungsrechte gerügt, da die Kommission der Klägerin die Einsicht in die vollständigen Akten verweigert habe, die wahrscheinlich für ihre Verteidigung nützliche Unterlagen enthielten. Sodann habe die Kommission ihre Entscheidung auf Informationen und Unterlagen, die der Klägerin im Verwaltungsverfahren nicht zugänglich gewesen seien, gestützt, indem sie nach zusätzlichen Ermittlungen, die sie nach der Anhörung durchgeführt habe, Schriftstücke verwertet habe, die der Klägerin nicht mitgeteilt worden seien. Schließlich seien der Kommission Voreingenommenheit, mangelnde Objektivität, das Fehlen einer Begründung und allgemein eine Verletzung der Verteidigungsrechte anzulasten. In ihrer Klageschrift wirft die Klägerin der Kommission unter Hinweis auf ein Angriffsmittel, das Solvay in der Rechtssache T-30/91 (Solvay/Kommission) betreffend Artikel 85 des Vertrages geltend gemacht hat, ausserdem vor, gegen das Kollegialprinzip verstossen zu haben, da entgegen Artikel 4 der Geschäftsordnung der Kommission die Erörterung des Entscheidungsentwurfs nicht verschoben worden sei, obwohl zumindest ein Kommissionsmitglied darum gebeten habe, um die Akten, die ihm verspätet übermittelt worden seien, gebührend prüfen zu können.

29 Im Rahmen der ersten Gruppe von Angriffsmitteln macht die Klägerin weiterhin in ihrer Ergänzung zur Erwiderung mehrere Verstösse gegen wesentliche Formvorschriften geltend, da die ihr zugestellte Entscheidung entgegen Artikel 12 der Geschäftsordnung der Kommission weder vom Präsidenten noch vom Generalsekretär der Kommission rechtzeitig festgestellt worden und zwischen ihrem Erlaß und ihrer Zustellung an die Klägerin geändert worden sei.

30 Im Rahmen der zweiten Gruppe von Angriffsmitteln erhebt die Klägerin mehrere Rügen gegen die Beurteilung des Sachverhalts und die rechtliche Würdigung seitens der Kommission, da diese zu Unrecht davon ausgegangen sei, daß die Klägerin eine beherrschende Stellung einnehme und diese Stellung mißbräuchlich ausgenutzt habe. Schließlich sei die Anweisung, die zur Last gelegte Zuwiderhandlung abzustellen, rechtswidrig, da sie gegen das Prinzip der Rechtssicherheit verstosse, und die festgesetzte Geldbusse sei unverhältnismässig.

31 Das Gericht hält es für zweckmässig, zunächst das Angriffsmittel einer Verletzung der Verteidigungsrechte zu prüfen, soweit damit gerügt wird, daß der Antrag der Klägerin auf Einsicht in die vollständigen Akten der Kommission rechtswidrig zurückgewiesen worden sei, da die Kommission die angefochtene Entscheidung auf Unterlagen gegründet habe, die sie nicht mitgeteilt habe, und einen Mangel an Objektivität gezeigt habe, indem sie die ihr zur Verfügung stehenden Beweise verdreht habe.

Zum Angriffsmittel einer Verletzung der Verteidigungsrechte

Vorbringen der Parteien

32 Unter Nummer 2.8 der Klageschrift wirft die Klägerin der Kommission vor, ihr die Akteneinsicht verweigert zu haben. Sie bezieht sich zunächst auf ihr Vorbringen im Rahmen der Rechtssache T-36/91 (ICI/Kommission), die die Entscheidung 91/297/EWG vom 19. Dezember 1990 in einem Verfahren nach Artikel 85 EWG-Vertrag (IV. 33.133-A, Soda ° Solvay, ICI, ABl. 1991, L 152, S. 1) betrifft, und zwar auf Nummer 2.8 ihrer in dieser Rechtssache eingereichten Klageschrift. Die Klägerin macht in diesem Zusammenhang geltend, für sehr viele Behauptungen in der angefochtenen Entscheidung (vgl. die Nrn. 6, 10, 23 und 39) gebe es keinen Beweis, und führt als Beispiel die Behauptungen über die Geschäftspraktiken des amerikanischen Sodaherstellers General Chemical (vormals Allied) sowie die Behauptungen über das Preisniveau an. Die Klägerin schließt daraus, daß die Kommission ihre Behauptungen auf Unterlagen gründe, die der Klägerin nicht zugänglich gewesen seien. Schließlich verweist sie auf die entsprechenden Angriffsmittel, die sie in den seinerzeit beim Gericht anhängigen Rechtssachen T-98/89 (ICI/Kommission, nachstehend: PVC-Rechtssache) und T-99/89 (ICI/Kommission, nachstehend: LDPE-Rechtssache) geltend gemacht hatte. Die Klägerin erklärt, ihre Ausführungen in diesen Rechtssachen gälten auch für die vorliegende Rechtssache. Schließlich nimmt sie auf ihr Vorbringen auf den Seiten 3 bis 5 ihrer Stellungnahme zur Mitteilung der Beschwerdepunkte ("defence", vgl. oben, Randnr. 10) Bezug.

33 Zu dem angeblichen Mangel an Objektivität trägt die Klägerin unter Nummer 2.9 ihrer Klageschrift vor, die Kommission habe gegen ihre Verpflichtung verstossen, die Umstände des vorliegenden Falls fair und objektiv zu beurteilen. Sie habe einige der angeführten Unterlagen so ausgelegt, daß deren Inhalt verzerrt worden sei. Ausserdem habe die Kommission nicht zu den Ausführungen Stellung genommen, die die Klägerin im Rahmen ihrer Verteidigung gemacht habe.

34 Die Kommission macht in ihrer Klagebeantwortung geltend, das Angriffsmittel sei unzulässig, da die Bezugnahme auf andere Schriftsätze nicht erkennen lasse, auf welche tatsächlichen und rechtlichen Gründe es gestützt werde.

35 Auf den Vorwurf, keine Akteneinsicht gewährt zu haben, antwortet die Kommission zunächst mit allgemeinen Ausführungen zur Frage des Preisniveaus. Unter Bezugnahme auf die von ihr in der Rechtssache T-36/91 eingereichte Klagebeantwortung macht sie geltend, ihre Schlußfolgerungen hinsichtlich des Preisniveaus habe sie aus Unterlagen gezogen, die von der Klägerin selbst stammten und die der Mitteilung der gemeinsamen Beschwerdepunkte in dem Verfahren nach Artikel 85 des Vertrages beigefügt gewesen seien (die Schriftstücke mit dem Aktenzeichen II). Die Frage der Preise und Preisabschläge der amerikanischen Firma Allied gegenüber einem Kunden aus dem Vereinigten Königreich, dem Glashersteller Rockware, sei von der Klägerin in ihrer Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte aufgeworfen worden. Die Kommission habe nach Schluß der Anhörung die von Allied vorgeschlagenen Preise geprüft. Sie habe festgestellt, daß die Behauptungen der Klägerin bezueglich eines Sonderrabatts nicht stichhaltig seien (vgl. Anlage 1 der Klagebeantwortung). Sie habe deshalb der Klägerin nicht die Beweismittel übermitteln müssen, die sie nach der Anhörung gesammelt, auf die sie ihre Rügen aber nicht gestützt habe. Ebenso sei eine ergänzende Mitteilung der Beschwerdepunkte nicht erforderlich gewesen. Es sei ausreichend gewesen, daß sie in der Entscheidung erläutert habe, warum sie die Behauptungen der Klägerin zu Allied zurückweise. Im übrigen würden diese Behauptungen durch andere Unterlagen, die der Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügt gewesen seien, widerlegt.

36 Die Kommission weist den Vorwurf der mangelnden Objektivität zurück. Die Ergebnisse, zu denen sie aufgrund des Sachverhalts des Falls gelangt sei, seien gerechtfertigt.

37 Die Klägerin führt in ihrer Erwiderung zunächst aus, nach der Rechtsprechung sei die Bezugnahme auf Schriftsätze, die in anderen Rechtssachen eingereicht worden seien, mit den Verfahrensordnungen des Gerichtshofes und des Gerichts vereinbar.

38 In der Sache verweist sie erneut auf ihr Vorbringen in der Rechtssache T-36/91. In der Erwiderung, die sie in dieser Rechtssache eingereicht habe, habe sie dargelegt, daß ihre Unterlagen nicht als Beweis für die Behauptungen der Kommission hinsichtlich des Preisniveaus dienen könnten. Die Zahlen oder Schriftstücke, auf die die Kommission sich stütze, seien ihr niemals mitgeteilt worden (Nrn. 4.1 bis 4.3 der betreffenden Erwiderung). Die Frage der Preise und Preisabschläge, die Allied Rockware angeboten habe, habe die Kommission nach der Anhörung untersucht, um die Richtigkeit ihrer Behauptungen zu überprüfen. Indem die Kommission ihr nicht das Ergebnis dieser nachträglichen Prüfung mitgeteilt habe, habe sie die Verteidigungsrechte der Klägerin verletzt.

39 Nachdem die Kommission eingeräumt hatte, daß sie der Klägerin kein Verzeichnis der Schriftstücke in den Akten übermittelt habe, hat die Klägerin auf eine schriftliche Frage des Gerichts erklärt, daß das Fehlen eines solchen Verzeichnisses äusserst schwerwiegende Konsequenzen hinsichtlich ihrer Verteidigungsmöglichkeiten und hinsichtlich ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör gehabt habe. Die Klägerin sei dadurch insbesondere daran gehindert worden,

° ganz bestimmte Schriftstücke, die in den Akten der Kommission enthalten seien, zu verlangen,

° die Behauptung der Kommission zu überprüfen, daß ihre Beamten bei der Durchsicht sämtlicher Akten kein Schriftstück gefunden hätten, das die Klägerin entlasten oder ein von der Kommission als Beweis verwendetes Schriftstück entkräften könnte und nicht übersandt worden sei,

° von der Kommission, wenn sie die Vorlage eines Schriftstücks aus Gründen der Vertraulichkeit abgelehnt hätte, zu verlangen, eine nicht vertrauliche Zusammenfassung dieses Schriftstücks vorzulegen oder eine andere Form der Einsicht in dieses Schriftstück unter Wahrung der Vertraulichkeit zuzulassen,

° das Unternehmen, das ein bestimmtes Schriftstück vorgelegt habe, zu bitten, auf die vertrauliche Behandlung zu verzichten, wenn die Kommission die Vorlage dieses Schriftstücks weiterhin aus Gründen der Vertraulichkeit abgelehnt hätte.

40 Auf eine schriftliche Frage des Gerichts, nach welchen Gesichtspunkten die bei der Klägerin und anderen Unternehmen gefundenen Schriftstücke geordnet worden seien, hat die Kommission erklärt, daß diese Schriftstücke nach ihrem Fundort und nicht nach ihrer Erheblichkeit im Hinblick auf Artikel 85 oder Artikel 86 des Vertrages geordnet worden seien. Es seien folgende "Aktenordner" angelegt worden:

i) Aktenordner 1: interne Schriftstücke wie z. B. Entscheidungsentwürfe,

ii) Aktenordner 2 bis 14: Solvay, Brüssel,

iii) Aktenordner 15 bis 19: Rhône-Poulenc,

iv) Aktenordner 20 bis 23: CFK,

v) Aktenordner 24 bis 27: Deutsche Solvay Werke,

vi) Aktenordner 28 bis 30: Matthes & Weber,

vii) Aktenordner 31 bis 38: Akzo,

viii) Aktenordner 39 bis 49: ICI,

ix) Aktenordner 50 bis 52: Solvay Spanien,

x) Aktenordner 53 bis 58: "Akzo II" (erneuter Kontrollbesuch),

xi) Aktenordner 59: Kontrollbesuch bei spanischen Herstellern und erneuter Kontrollbesuch bei Solvay, Brüssel.

xii) Es gebe etwa 10 weitere Ordner, die den Schriftwechsel im Verfahren nach Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 enthielten.

41 Bei dieser Gelegenheit hat die Kommission unter anderem erklärt, die Klägerin habe von den von der Kommission herangezogenen Schriftstücken unverzueglich Kenntnis erlangt, da die einschlägigen Beweismittel mit der Mitteilung der Beschwerdepunkte übersandt worden seien. Somit habe die Klägerin "Akteneinsicht" gehabt. Allerdings habe die Klägerin nicht die Möglichkeit gehabt, sämtliche von der Kommission zusammengetragenen Schriftstücke zu prüfen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil diese zum einen nicht einschlägig gewesen seien und zum andern zum grossen Teil sensible Geschäftsinformationen enthalten hätten. Im übrigen könne ein Schriftstück, das nicht zu den mit der Mitteilung der Beschwerdepunkte übersandten Unterlagen gehöre, der Klägerin nur zugänglich gemacht werden, wenn sie nachweise, daß dieses Schriftstück für einen bestimmten Punkt der Sache von Bedeutung sei und damit der Kommission einen Hinweis gebe, worauf sich die Suche beziehen solle.

Würdigung durch das Gericht

Zulässigkeit

42 Nach Artikel 19 Absatz 1 der EG-Satzung des Gerichtshofes und Artikel 38 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung des Gerichtshofes, die bei Klageerhebung anwendbar war, muß die das Verfahren einleitende Klageschrift eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten. Mit diesem Erfordernis wird bezweckt, hinreichend klare und genaue Angaben zu erhalten, damit der Beklagte sich zweckmässig verteidigen und der Gemeinschaftsrichter seine gerichtliche Kontrolle ausüben kann (vgl. z. B. Beschluß des Gerichts vom 28. März 1994, Rechtssache T-515/93, B./Kommission, Slg. ÖD 1994, II-379, Randnr. 12, und Urteil des Gerichts vom 29. November 1993, Rechtssache T-56/92, Kölman/Kommission, Slg. 1993, II-1267, Randnr. 21).

43 Die vorliegende Klageschrift enthält eine kurze Darstellung der Rüge, daß die ° bereits in der Rechtssache T-36/91 beanstandete ° Weigerung der Kommission, der Klägerin "Akteneinsicht" zu gewähren, auch die Verteidigung der Klägerin gegen den Vorwurf der mißbräuchlichen Ausnutzung einer beherrschenden Stellung beeinträchtigt habe (S. 11 der Klageschrift). Ausserdem wird in der Klageschrift geltend gemacht, die Kommission habe ihren Standpunkt offenkundig auf Unterlagen gestützt, zu denen die Klägerin keinen Zugang gehabt habe. Diese kurze Darstellung des Klagegrunds in der Klageschrift war ausreichend, damit die Kommission ihre Vorgehensweise und ihre Entscheidung zweckmässig verteidigen konnte. Somit ist der Klagegrund zulässig.

44 Darüber hinaus bezieht sich die Klageschrift auch auf die Seiten 3 bis 5 der Stellungnahme zur Mitteilung der Beschwerdepunkte (Anlage 3 der Klageschrift), die eine allgemeine Einführung zu der Stellungnahme enthalten. Die Klägerin wendet sich dort dagegen, daß die Kommission ihr die "Akteneinsicht" generell verwehrt und eine Übermittlung eines Verzeichnisses der Schriftstücke abgelehnt habe, trägt aber nichts vor, um gerade den Vorwurf der mißbräuchlichen Ausnutzung einer beherrschenden Stellung zu widerlegen. Das Gericht ist dennoch der Ansicht, daß der Abschnitt in der Stellungnahme, auf den Bezug genommen wird, eine kurze Darstellung der Gründe enthält, die angeblich gegen die Entscheidung der Kommission, kein Verzeichnis der in ihren Akten enthaltenen Schriftstücke zu übermitteln, sprechen und auf denen das vorliegende Angriffsmittel beruht.

45 Es ist jedoch auch zu prüfen, ob das Gericht ebenfalls den Inhalt der Klageschriften berücksichtigen muß, die in anderen anhängigen Rechtsstreitigkeiten zwischen der Klägerin und der Kommission eingereicht worden sind. Die Rechtsprechung des Gerichtshofes trägt jeweils den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung (vgl. die Urteile vom 29. November 1956, Rechtssache 9/55, Charbonnages de Beeringen u. a./Hohe Behörde, Slg. 1956, S. 331, vom 8. Juli 1965, Rechtssachen 19/63 und 65/63, Satya Prakash/Kommission der EAG, Slg. 1965, 717, vom 13. Juli 1965, Rechtssache 111/63, Lemmerz-Werke GmbH/Hohe Behörde, Slg. 1965, 893, vom 28. April 1971, Rechtssache 4/69, Lütticke/Kommission, Slg. 1971, 325, Randnr. 2, und vom 18. März 1980, Rechtssachen 26/79 und 86/79, Forges de Thy-Marcinelle und Monceau/Kommission, Slg. 1980, 1083, Randnr. 4).

46 Zu der allgemeinen Bezugnahme auf die beiden Klageschriften, die in den PVC- und LDPE-Rechtssachen eingereicht worden sind, ist festzustellen, daß es nicht Aufgabe des Gemeinschaftsrichters ist, auf das vorliegende Verfahren, das die mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Sodamarkt betrifft, Angriffsmittel oder Argumente zu übertragen, die im Rahmen zweier anderer Rechtssachen erhoben worden sind, die zwei andere Märkte und zwei andere Zuwiderhandlungen betreffen. Eine solche Übertragung wäre mit der insbesondere in Artikel 37 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes niedergelegten Verantwortlichkeit jeder Partei für den Inhalt der von ihr eingereichten Schriftsätze nicht vereinbar. Da die Frage einer Verletzung der Verteidigungsrechte unter Beachtung der besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu entscheiden ist, besteht im vorliegenden Fall kein Anlaß, den Inhalt der in den PVC- und LDPE-Rechtssachen eingereichten Schriftsätze zu berücksichtigen.

47 Zu der Bezugnahme auf die in der Rechtssache T-36/91 eingereichten Schriftsätze ist jedoch festzustellen, daß die Rechtssachen T-36/91 und T-37/91 zwar nicht verbunden worden sind, die Parteien, Bevollmächtigten und Rechtsanwälte aber identisch sind, die beiden Klagen am selben Tag beim Gericht eingereicht worden sind, die beiden Rechtssachen vor derselben Kammer anhängig sind und demselben Berichterstatter zugeteilt worden sind und schließlich die angefochtenen Entscheidungen den gleichen Markt betreffen. Darüber hinaus hat die Kommission dadurch, daß sie die wirtschaftlichen Gegebenheiten des Sodamarkts aufgrund der Durchführung getrennter Verfahren in der Mitteilung der Beschwerdepunkte voneinander getrennt behandelt hat, die Verteidigungsrechte der Klägerin in dem Verfahren nach Artikel 85 EWG-Vertrag verletzt, wie das Gericht in seinem Urteil vom heutigen Tag in der Rechtssache T-36/91 (ICI/Kommission, Randnrn. 69 bis 118) festgestellt hat. Das Gericht hat dort ausgeführt, daß die Kommission eine Gesamtwürdigung der wirtschaftlichen Gegebenheiten hätte vornehmen müssen. In dieser besonderen Situation, die durch den engen Zusammenhang der beiden Rechtssachen gekennzeichnet ist, ist die Bezugnahme in der vorliegenden Klageschrift auf die in der Rechtssache T-36/91 eingereichte Klageschrift nach Auffassung des Gerichts zulässig.

48 Soweit die Klägerin der Kommission schließlich vorwirft, bezueglich des allgemeinen Preisniveaus und bezueglich der Frage, ob von der amerikanischen Firma Allied ein Sonderrabatt eingeräumt worden sei, zu bestimmten Feststellungen gelangt zu sein, ohne der Klägerin die entsprechenden Unterlagen mitgeteilt zu haben, sind die Angaben der Klägerin in diesem Zusammenhang hinreichend klar und genau, um den Anforderungen einer kurzen Darstellung der geltend gemachten Klagegründe zu genügen, wie sie in den genannten Vorschriften der EG-Satzung des Gerichtshofes und der Verfahrensordnung vorgeschrieben ist. Ebenso ist der Vorwurf der mangelnden Objektivität in einer der Verfahrensordnung entsprechenden Weise vorgetragen worden.

Begründetheit

49 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß in den Wettbewerbssachen die Akteneinsicht den Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte in die Lage versetzen soll, von den in den Akten der Kommission vorhandenen Beweisstücken Kenntnis zu nehmen, um aufgrund dieser Beweisstücke in zweckmässiger Weise zu den Schlußfolgerungen Stellung nehmen zu können, zu denen die Kommission in der Mitteilung ihrer Beschwerdepunkte gelangt ist. Die Akteneinsicht gehört somit zu den Verfahrensgarantien, die die Rechte der Verteidigung schützen sollen (Urteile des Gerichts vom 18. Dezember 1992, Rechtssachen T-10/92, T-11/92, T-12/92 und T-15/92, Cimenteries CBR u. a./Kommission, Slg. 1992, II-2667, Randnr. 38, und vom 1. April 1993, Rechtssache T-65/89, BPB Industries und British Gypsum/Kommission, Slg. 1993, II-389, Randnr. 30). Die Wahrung der Verteidigungsrechte stellt in allen Verfahren, die zu Sanktionen führen können, einen fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dar, der unter allen Umständen, auch in einem Verwaltungsverfahren, beachtet werden muß. Die tatsächliche Beachtung dieses allgemeinen Grundsatzes erfordert es, dem betroffenen Unternehmen bereits im Verwaltungsverfahren Gelegenheit zu geben, zum Vorliegen und zur Erheblichkeit der von der Kommission angeführten Tatsachen, Rügen und Umstände gebührend Stellung zu nehmen (Urteil des Gerichtshofes vom 13. Februar 1979, Rechtssache 85/76, Hoffmann-La Roche/Kommission, Slg. 1979, 461, Randnrn. 9 und 11).

50 Somit ist anhand der besonderen Umstände jedes einzelnen Falles zu prüfen, ob eine Verletzung der Verteidigungsrechte vorliegt, da dies im wesentlichen von den Rügen abhängt, die die Kommission bei der Feststellung einer dem betroffenen Unternehmen zur Last gelegten Zuwiderhandlung geltend gemacht hat. Um entscheiden zu können, ob das in Rede stehende Angriffsmittel in seinen beiden Teilen Erfolg hat, sind daher die Sachrügen kurz zu prüfen, die die Kommission in der Mitteilung der Beschwerdepunkte und in der angefochtenen Entscheidung geltend gemacht hat.

i) Rügen und Beweismittel der Kommission

51 Der Vorwurf in der Mitteilung der Beschwerdepunkte lässt sich dahin zusammenfassen, daß die Klägerin seinerzeit eine beherrschende Stellung im Vereinigten Königreich innegehabt habe, da sie einen Marktanteil von über 90 % gehabt habe (S. 75 der Mitteilung der Beschwerdepunkte), und diese Stellung seit etwa 1983 mißbräuchlich ausgenutzt habe. Der Mißbrauch habe darin bestanden, daß die Klägerin ihren Kunden Spitzenrabatte eingeräumt, d. h. ihnen einen Anreiz geboten habe, nicht nur die "Kernmenge", sondern auch die darüber hinausgehende Menge oder "Spitzenmenge" zu beziehen, die sie andernfalls von einem Zweitlieferanten hätten beziehen können. Ausserdem ist der Klägerin vorgeworfen worden, mehrfach Druck gegenüber den Kunden ausgeuebt zu haben, um deren Einwilligung zu erwirken, (mehr oder weniger) ihren gesamten Bedarf von ICI zu beziehen, um auf diese Weise den Wettbewerbseffekt anderer Lieferanten auf ein Mindestmaß zu begrenzen und das Quasi-Monopol von ICI auf dem Markt des Vereinigten Königreichs zu erhalten (S. 77 ff. der Mitteilung der Beschwerdepunkte).

52 Die Kommission führt in der Mitteilung der Beschwerdepunkte weiter aus, mit dieser Strategie der Kundenbindung sei bezweckt worden, die Sodäinfuhren in das Vereinigte Königreich mit Ausnahme der der amerikanischen Firma Allied systematisch zu verhindern; bei der letztgenannten Firma sei die Klägerin aus Gründen "handelspolitischer Klugheit" bereit gewesen, deren Präsenz auf dem Markt als Kleinlieferant innerhalb strikter Grenzen zu tolerieren, die durch einen Mindestpreis gewährleistet gewesen seien, zu dessen Einhaltung sich diese Firma in einem Antidumpingverfahren verpflichtet habe. Die Klägerin sei nämlich der Auffassung gewesen, daß die Glashersteller im Falle eines vollständigen Rückzugs von Allied vom britischen Markt fast mit Sicherheit nach alternativen Bezugsquellen in Kontinentaleuropa Ausschau halten würden (S. 62 ff. der Mitteilung der Beschwerdepunkte).

53 Die genannten Handelspraktiken stellten eine Ungleichbehandlung der verschiedenen Kunden der Klägerin dar, da die Rabatte keine möglichen Kostenunterschiede aufgrund der gelieferten Mengen widerspiegelten, sondern sicherstellen sollten, daß der Kunde seinen Bedarf insgesamt oder soweit wie möglich durch Lieferungen der Klägerin decke. In dem "Spitzenrabattsystem" habe es daher je nach Abnehmer erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Menge gegeben, ab der der Rabatt gewährt worden sei. Ausserdem hätten Unterschiede in der Höhe des Rabatts pro Tonne bestanden (S. 79 f. der Mitteilung der Beschwerdepunkte).

54 Zu der Auswirkung auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten hat die Kommission ausgeführt, daß die von der Klägerin getroffenen Maßnahmen, die in erster Linie gegen die Einfuhren aus den Vereinigten Staaten (Allied) und Polen gerichtet gewesen seien, den auf der Trennung der Märkte basierenden Status quo aufrechterhalten hätten. Zudem hätten aus den Vereinigten Staaten in das Vereinigte Königreich eingeführte Mengen ohne die Maßnahmen der Klägerin an Kunden in anderen Mitgliedstaaten verkauft werden können (S. 80, 81 der Mitteilung der Beschwerdepunkte).

55 Zum Nachweis ihrer Vorwürfe hat die Kommission der an die Klägerin gerichteten Mitteilung der Beschwerdepunkte eine Reihe von Schriftstücken beigefügt, die mit dem Aktenzeichen V versehen sind und grösstenteils von der Klägerin stammen. Ein Teil dieser Schriftstücke stammt von der Kommission (V.61, V.64, V.66, V.67, V.69, V.71 und V.74) und bezieht sich auf ein 1979 eröffnetes und 1982 beendetes Verfahren, das eine erste Ermittlung der Kommission hinsichtlich der von der Klägerin abgeschlossenen Lieferverträge auf dem britischen Markt betraf. Ein anderer Teil der Schriftstücke stammt von britischen Glasherstellern, den Firmen Rockware und CWS, sowie von einem Konkurrenten der Klägerin auf diesem Markt, der Firma Brenntag, die polnische Soda einführt; es handelt sich um eine Akte, die die angebliche Politik von ICI betrifft, durch ihr Rabattsystem die Firma Brenntag vom relevanten Markt zu verdrängen (V.92 bis V.98). Schließlich bezieht sich das Schriftstück V.90 auf eine Zusage von CWS, ihren Bezug von Soda amerikanischer Herkunft einzuschränken. Diese Beweismittel beziehen sich ausschließlich auf den Markt des Vereinigten Königreichs.

56 Zu den Vorwürfen in der angefochtenen Entscheidung ist festzustellen, daß sie im wesentlichen denen in der Mitteilung der Beschwerdepunkte entsprechen. Allerdings ist die Feststellung in Nummer 39 der Entscheidung, daß weder der amerikanische Hersteller Allied noch dessen Nachfolger General Chemical dem Unternehmen Rockware oder irgendeinem anderen Abnehmer einen besonderen Spitzenrabatt angeboten hätten, das Ergebnis zusätzlicher Ermittlungen der Kommission, die sie nach der Anhörung der Klägerin durchgeführt hatte und zu denen ICI vor Erlaß der Entscheidung nicht gehört wurde. Die Auswirkung auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten stellt sich für die Kommission als eine Folge der beanstandeten Verhaltensweisen dar; ihr auf eventuelle Wiederausfuhren aus dem Vereinigten Königreich gestütztes Vorbringen hat die Kommission in den Nummern 63 und 64 der Entscheidung nicht aufrechterhalten.

ii) Verteidigung der Klägerin

57 Die Klägerin hat zu ihrer Verteidigung in ihrer Stellungnahme auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte ("defence" vom 31. Mai 1990), in der schriftlichen Vorbereitung auf die Anhörung ("article 86 presentation") sowie in der Anhörung selbst am 25. und 26. Juni 1990 (siehe vorstehend Randnrn. 10 bis 12) bestritten, daß sie im Vereinigten Königreich eine beherrschende Stellung im Sinne des Artikels 86 des Vertrages innehabe und eine allgemeine Strategie des Ausschlusses anderer Sodahersteller vom Markt verfolgt habe. Die ihr vorgeworfenen "Spitzenrabatte" seien mit den Kunden individuell und nicht nach einem fertigen Plan ausgehandelt worden. Sie ständen nicht im Widerspruch zu den Kriterien, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung über die Zulässigkeit von Preisabschlägen entwickelt habe. Zu der Auswirkung auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten trägt die Klägerin vor, die Vorstellung der Kommission hinsichtlich der Möglichkeit von Wiederausfuhren aus dem Vereinigten Königreich sei unrealistisch.

58 Die Klägerin hat dieses Verteidigungsvorbringen vor dem Gericht im Rahmen ihrer Angriffsmittel gegen die tatsächliche und rechtliche Würdigung seitens der Kommission wiederholt. Bezueglich der Wirkung auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten hat die Klägerin ihre Verteidigung an die neue Begründung der Entscheidung angepasst und bestreitet, daß ihr Verhalten zu einer Abschottung des Marktes geführt habe. Ausserdem bestehe ein Widerspruch zu den anderweitigen Feststellungen der Kommission zum Vorliegen einer abgestimmten Verhaltensweise im Sinne des Artikels 85 des Vertrages.

iii) Tragweite des Angriffsmittels einer Verletzung der Verteidigungsrechte

59 Nach alledem hat das Gericht zu prüfen, ob diese Verteidigung der Klägerin durch eine eventuelle Verletzung ihrer Verteidigungsrechte aufgrund der ihr verweigerten "Akteneinsicht" beeinträchtigt worden ist. Wie sich aus der Klageschrift ergibt, rügt die Klägerin diese Versagung der Akteneinsicht allgemein, ohne sich auf bestimmte Teile der allein im Besitz der Kommission befindlichen "Akten" zu beziehen. Aufgrund der Antwort der Kommission auf eine Frage des Gerichts ist festzustellen, daß diese "Akten" aus 59 einzelnen Aktenordnern bestehen (vgl. oben, Randnr. 40). Somit ist dieses Angriffsmittel so zu verstehen, daß es die Weigerung der Kommission betrifft, der Klägerin Zugang zu diesen 59 einzelnen Ordnern einschließlich denen, die von der Klägerin stammende Schriftstücke enthalten, zu gewähren, denn die Klägerin hat die letztgenannten Schriftstücke bei ihrer Rüge nicht ausgenommen.

60 Zudem ist zwischen dem Zugang zu Schriftstücken, die die Klägerin eventuell entlasten, und dem Zugang zu Schriftstücken, die die angebliche Zuwiderhandlung beweisen, zu unterscheiden. Deshalb ist das Angriffsmittel in zwei Rügen zu unterteilen, von denen sich die erste auf eventuell entlastende Schriftstücke bezieht, während die zweite die die Klägerin belastenden Schriftstücke betrifft. Im Zusammenhang mit dieser zweiten Rüge ist der Vorwurf zu prüfen, die Kommission habe tatsächliche Feststellungen hinsichtlich des Preisniveaus und des Verhaltens der Firma Allied getroffen, ohne der Klägerin vorher Einsicht in die sie belastenden Schriftstücke gewährt zu haben, und habe die Beweismittel parteiisch und unzutreffend gewürdigt.

° Zur ersten Rüge: Keine Übermittlung der eventuell entlastenden Schriftstücke an die Klägerin

61 Zunächst ist zu prüfen, ob die Weigerung der Kommission, der Klägerin Einsicht in die Akten der kontinentalen Hersteller (Solvay, Rhône-Poulenc, Deutsche Solvay Werke, Akzo und Solvay Spanien) zu gewähren, ihre Verteidigung hat beeinträchtigen können. Die beherrschende Stellung der Klägerin ist aufgrund ihres Marktanteils festgestellt worden (vgl. Randnrn. 4, 47 und 48 der Entscheidung und Urteil des Gerichtshofes vom 3. Juli 1991, Rechtssache C-62/86, Akzo/Kommission, Slg. 1991, I-3359, Randnr. 60). Somit spricht nichts für die Annahme, daß die Klägerin z. B. in den individuellen Akten von Solvay oder Akzo Schriftstücke hätte finden können, die die Feststellung entkräftet hätten, daß sie auf dem Sodamarkt des Vereinigten Königreichs eine beherrschende Stellung innehabe. Den Mißbrauch dieser beherrschenden Stellung hat die Kommission im Bereich der Geschäftsbeziehungen zwischen der Klägerin und ihren Kunden im Vereinigten Königreich festgestellt. Auch hier ist nicht ersichtlich, daß die Klägerin in den von den kontinentalen Herstellern stammenden Unterlagen Schriftstücke hätte finden können, die zu einer anderen rechtlichen Beurteilung der Rabattsysteme, der Alleinbezugsklauseln und der von ihr mit ihren Kunden im Vereinigten Königreich geschlossenen Vereinbarungen, die nach Ansicht der Kommission die Käufe bei Wettbewerbern einschränken sollten, geführt hätten.

62 Bezueglich der Auswirkung auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten ist zu prüfen, ob der fehlende Zugang zu den Schriftstücken der Kontinentalhersteller die Klägerin daran hat hindern können, im Verwaltungsverfahren den von der Kommission in den Nummern 63 und 64 der Entscheidung begründeten Vorwurf zu entkräften. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, daß die Klägerin in ihrer Verteidigung im Rahmen von Artikel 86 des Vertrages die Anlagen II der Mitteilung der Beschwerdepunkte, die ihr übermittelt worden sind und von denen sie somit Kenntnis hatte (vgl. oben, Randnr. 5), nicht herangezogen hat. Die Klägerin hat vielmehr versucht, die Abschottung der Märkte durch die objektiven Bedingungen des Sodamarkts zu erklären. So hätten die Kontinentalhersteller häufig Kunden im Vereinigten Königreich Preisangebote zugehen lassen. Die Gründe, weshalb diese Angebote nicht zu Verkaufsabschlüssen geführt hätten, seien im Rahmen der Rechtssache T-36/91 dargestellt worden (S. 99 der vorliegenden Klageschrift, wo offenkundig auf die Ausführungen unter 4.1.1 ff. der Klageschrift T-36/91 verwiesen wird). Somit ist zu prüfen, ob dieses Verteidigungsvorbringen durch Schriftstücke anderer Kontinentalhersteller hätte bestätigt werden können.

63 Nach Artikel 86 des Vertrages hat die Kommission zu prüfen, ob die der Klägerin angelastete eventuelle mißbräuchliche Ausnutzung ihrer Stellung "dazu führen konnte", den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts ist also nicht erforderlich, das Vorliegen einer gegenwärtigen und tatsächlichen Auswirkung auf den zwischenstaatlichen Handel festzustellen (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 9. November 1983, Rechtssache 322/81, Michelin/Kommission, Slg. 1983, 3461, Randnr. 103, und Urteil BPB Industries und British Gypsum/Kommission, a. a. O., Randnrn. 134 und 135). Deshalb sind die Feststellungen der Kommission in den Nummern 63 und 64 der Entscheidung mehrdeutig. Die Kommission stellt dort nämlich fest, daß die Maßnahmen der Klägerin den zwischenstaatlichen Handel beeinträchtigen ("affects"), statt festzustellen, daß sie zu einer Beeinträchtigung führen können ("may affect"); zudem wird in Nummer 40 der Entscheidung der genaue Wortlaut des Artikels 86 des Vertrages wiedergegeben ("führen kann"). Jedoch selbst wenn die Kommission in ihrer Entscheidung eine tatsächliche Auswirkung auf den zwischenstaatlichen Handel festgestellt hat, müsste die Klägerin in ihrer Verteidigung nachweisen, daß ihre Maßnahmen nicht zu einer Beeinträchtigung dieses Handels führen konnten. Selbst wenn durch Unterlagen von Akzo oder Solvay belegt werden könnte, daß andere Faktoren zu einer Behinderung der Sodäinfuhren vom Kontinent in das Vereinigte Königreich beigetragen haben, spricht nichts für die Annahme, daß diese Unterlagen die Feststellung entkräften könnten, daß die Maßnahmen der Klägerin ° ebenfalls ° zu dieser Abschottung der Märkte beigetragen haben und somit zu einer Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten führen konnten. Somit ist der Antrag der Klägerin, ihr ein Verzeichnis der in den Akten der Kontinentalhersteller enthaltenen Schriftstücke zukommen zu lassen, in der vorliegenden Rechtssache ebenfalls nicht gerechtfertigt.

64 Was die Weigerung betrifft, der Klägerin Einsicht in die 11 Ordner zu gewähren, die die Schriftstücke von ihr selbst enthalten, so lässt sich nicht ausschließen, daß diese Schriftstücke Nützliches für ihre Verteidigung enthalten können. Jedoch ist darauf hinzuweisen, daß nach Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 17 diese Schriftstücke von den Ermittlern der Kommission nur in Form von Fotokopien mitgenommen werden können. Die Klägerin konnte daher feststellen, um welche Schriftstücke es sich handelte, da sie alle aus ihrer eigenen Einflußsphäre stammten. Nichts konnte sie hindern, sich auf ihrer Verteidigung dienliche Tatsachen zu berufen, die dort möglicherweise aufgeführt waren. Dies gilt im übrigen für jedes andere im Besitz der Klägerin befindliche Schriftstück, das der Aufmerksamkeit der Kommission entgangen und nicht als Fotokopie mitgenommen worden ist. Der allgemeine Grundsatz der Waffengleichheit, wonach das beschuldigte Unternehmen über den gleichen Kenntnisstand hinsichtlich der Grundlagen des Verfahrens wie die Kommission verfügen muß, verlangt also nicht, daß die Kommission diesem Unternehmen ein Verzeichnis seiner Schriftstücke übermittelt.

65 Ausserdem hat die Kommission das Fehlen eines Verzeichnisses im vorliegenden Fall damit gerechtfertigt, ohne daß dem die Klägerin widersprochen hätte, daß ein solches Verzeichnis überfluessig gewesen wäre, da die Klägerin offenkundig über eine vollständige Sammlung ihrer eigenen Schriftstücke verfügt habe, um für alle Fälle gerüstet zu sein. Im übrigen zeigt der Ablauf der Anhörung der Klägerin im Verwaltungsverfahren (vgl. oben Randnrn. 11 und 12), daß die Klägerin durch den Umstand, daß die Kommission ihr nicht ein Verzeichnis ihrer eigenen Schriftstücke übermittelt hat, in ihrer Verteidigung nicht behindert war. Bei dieser Anhörung legte die Kommission nämlich erstmals drei belastende Schriftstücke vor, die von der Klägerin stammten (die Schriftstücke "X.12 bis X.14") und der Mitteilung der Beschwerdepunkte nicht beigefügt gewesen waren. Wie sich aus dem Protokoll der Anhörung ergibt, erklärte der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin bereits während der Anhörung, die das nach Artikel 85 des Vertrages eingeleitete Verfahren betraf: "As Mr. J. correctly says, ICI can look to its own original documents..." ("Wie Herr J. zutreffend bemerkt, kann ICI ihre eigenen Originaldokumente durchsehen...", Protokoll, S. 47).

66 Somit hat das Fehlen eines Verzeichnisses der Schriftstücke der Klägerin diese bei der Ausübung ihrer Verteidigungsrechte nicht behindert. Deshalb kann die erste Rüge des Angriffsmittels nicht durchgreifen. Daraus folgt, daß die Hilfsanträge der Klägerin, die auf die Anordnung einer Beweisaufnahme zur Prüfung der Akten durch die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin oder durch das Gericht selbst gerichtet sind, zurückzuweisen sind, da die Kommission es unter den Umständen des vorliegenden Falls zu Recht abgelehnt hat, der Klägerin Einsicht in diese Akten zu gewähren oder ihr ein Verzeichnis der dort enthaltenen Schriftstücke zu übermitteln.

° Zur zweiten Rüge: Keine Übermittlung bestimmter belastender Schriftstücke an die Klägerin

67 Bezueglich der Feststellungen in der Entscheidung zum allgemeinen Preisniveau hat die Kommission darauf hingewiesen, daß sie zu ihren Schlußfolgerungen allein aufgrund der Schriftstücke der Klägerin gelangt sei. Soweit die Klägerin geltend macht, diese Schriftstücke rechtfertigten diese Schlußfolgerungen nicht, handelt es sich nach Ansicht des Gerichts um eine Frage der Auslegung und Würdigung der von der Kommission angeführten Beweismittel. Ob das belastende Material ausreichend ist, das die Kommission herangezogen hat, um die der Klägerin zur Last gelegte Zuwiderhandlung zu beweisen, hängt davon ab, ob die Tatsachenfeststellungen der Kommission in der Begründung der Entscheidung zutreffend sind. Da diese Frage bei der Begründetheit der Klage zu prüfen ist, hat sie mit dem Angriffsmittel der Verletzung der Verteidigungsrechte nichts zu tun.

68 Die Feststellungen der Kommission in Nummer 39 der Entscheidung hinsichtlich des Sonderrabatts, den die Firma Allied dem Vereinigten Königreich angeboten habe, sind das Ergebnis zusätzlicher Ermittlungen, die nach der Anhörung der Klägerin durchgeführt worden sind. Die Klägerin ist zu diesen Feststellungen vor Erlaß der Entscheidung nicht gehört worden. Nach Auffassung des Gerichts ist diese Vorgehensweise mit dem Grundsatz der Wahrung des rechtlichen Gehörs kaum zu vereinbaren.

69 Die Klägerin hat jedoch die Richtigkeit dieses Ermittlungsergebnisses ° daß ein besonders günstiger Rabatt nicht angeboten wurde ° nicht bestritten, sondern sogar Wert auf die Feststellung gelegt, daß diese Ermittlungen "ohne Belang" seien. Die Klägerin hat nämlich erklärt, sie habe seinerzeit lediglich "gedacht", daß der genannte amerikanische Sodahersteller einen besonders interessanten Preisabschlag angeboten habe und daß sie deshalb, um wettbewerbsfähig zu sein, ein ähnliches Angebot machen müsse (Nrn. 2.2.3 und 2.2.5 der Erwiderung).

70 Selbst wenn die Verwertung nicht mitgeteilter Schriftstücke einen Verfahrensfehler darstellen kann, ist das Gericht unter diesen besonderen Umständen der Auffassung, daß dieser Fehler die Klägerin, wie sich aus ihren Erklärungen ergibt, bei der Ausübung ihrer Verteidigungsrechte nicht behindert hat. Die zusätzlichen Ermittlungen der Kommission betrafen nämlich das Niveau der tatsächlichen Preise von Allied. Die Klägerin hat diesen Punkt aber niemals in ihre Argumentation einbezogen, sondern nur auf ihren subjektiven Eindruck hingewiesen.

71 Selbst wenn die Kommission durch diese zusätzlichen Ermittlungen belastendes Material erlangt hätte, auf das sie in der Entscheidung neue Vorwürfe gegründet hätte, könnte dieser Verfahrensfehler nur dazu führen, daß dieses Material als Beweismaterial unberücksichtigt bliebe. Dies hätte keineswegs die Nichtigerklärung der gesamten Entscheidung zur Folge, sondern wäre nur insoweit von Belang, als der entsprechende Vorwurf der Kommission nur unter Heranziehung dieses Materials bewiesen werden könnte (Urteil des Gerichtshofes vom 25. Oktober 1983, Rechtssache 107/82, AEG/Kommission, Slg. 1983, 3151, Randnrn. 24 bis 30). Somit gehört dies ebenfalls zu der Frage, ob die Tatsachenfeststellungen der Kommission zutreffend sind, und damit zur Prüfung der Begründetheit der Klage.

72 Ebenso ist die angeblich mangelnde Objektivität der Kommission, die bestimmte Schriftstücke in verzerrender Weise ausgelegt haben soll, im Zusammenhang mit der Prüfung der zutreffenden Beurteilung der Beweismittel zu behandeln. Es handelt sich dabei nicht um eine Verletzung der Verteidigungsrechte, die zur Nichtigerklärung der Entscheidung und gegebenenfalls zur Wiedereröffnung des Verwaltungsverfahrens führen kann.

73 Somit ist die zweite Rüge des Angriffsmittels zurückzuweisen. Infolgedessen greift das Angriffsmittel einer Verletzung der Verteidigungsrechte insgesamt nicht durch.

Zum Angriffsmittel einer nicht ordnungsgemässen Feststellung des von der Kommission beschlossenen Rechtsakts

Vorbringen der Parteien

74 In ihrer Ergänzung zur Erwiderung wirft die Klägerin der Kommission vor, gegen Artikel 12 ihrer Geschäftsordnung verstossen zu haben, da die zugestellte Entscheidung nicht mit dem vorher erforderlichen Feststellungsvermerk versehen gewesen sei. Sie bezieht sich dazu u. a. auf die Erklärungen von Vertretern der Kommission in der mündlichen Verhandlung in der PVC-Rechtssache vor dem Gericht, die am 10. Dezember 1991 beendet war (vgl. oben, Randnr. 18).

75 In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin unter Hinweis auf das genannte Urteil des Gerichtshofes vom 15. Juni 1994 erklärt, die Feststellung gemäß Artikel 12 der Geschäftsordnung der Kommission müsse vor Zustellung des angefochtenen Rechtsakts erfolgen. Die im vorliegenden Fall verspätete Feststellung durch den Präsidenten und den Generalsekretär der Kommission sei nach der Zustellung der Entscheidung und sogar nach Einreichung ihrer Klage erfolgt und könne daher nicht als eine wirksame Heilung des ursprünglichen Verfahrensfehlers angesehen werden, es sei denn, daß man den Begriff der wesentlichen Formvorschrift aufgebe. Da die Feststellung ausserdem mehr als ein Jahr nach Erlaß der Entscheidung erfolgt sei, sei es offenkundig, daß der Präsident und der Generalsekretär der Kommission nach menschlichem Ermessen nicht in der Lage gewesen seien, zu prüfen, ob das, was sie feststellen sollten, tatsächlich mit dem übereinstimme, was angenommen worden sei.

76 Die Kommission macht in erster Linie geltend, daß das Angriffsmittel als verspätet und damit als unzulässig zurückzuweisen sei. Auf eine schriftliche Frage des Gerichts hat die Kommission ausgeführt, im vorliegenden Fall gebe es keinen rechtlichen oder tatsächlichen Grund, der erst während des Verfahrens im Sinne des Artikels 48 § 2 der Verfahrensordnung zutage getreten sei. Zum einen könne das PVC-Urteil an sich nicht als ein neuer Grund angesehen werden (vgl. Beschluß des Gerichts vom 26. März 1992 in der Rechtssache T-4/89 REV., BASF/Kommission, Slg. 1992, II-1591, Randnr. 12). Zum anderen sei fraglich, ob die Erklärungen von Vertretern der Kommission im Rahmen eines anderen Verfahrens insoweit als ein "neuer Grund" im Rahmen des vorliegenden Verfahrens qualifiziert werden könnten. Schließlich sei das Beschlußfassungsverfahren in der PVC-Sache teilweise durch besondere Zeitzwänge gekennzeichnet gewesen. Da dies für den vorliegenden Fall nicht zutreffe, gebe es keinen Grund dafür, entgegen der Vermutung der Gültigkeit, die die vorliegende Entscheidung beanspruchen könne, anzunehmen, daß das Verfahren in der PVC-Sache in allen Einzelheiten mit dem Verfahren in anderen Sachen, in denen es um die Anwendung der Artikel 85 und 86 EWG-Vertrag gehe, identisch sei.

77 Zur Begründetheit hat die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, der genaue Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung durch die Unterschriften des Präsidenten und des Exekutivsekretärs der Kommission festgestellt worden sei, lasse sich jetzt nicht mehr bestimmen. Es sei jedoch klar, daß diese Feststellung Anfang 1992 erfolgt sei, und zwar als eine Vorsichtsmaßnahme, nachdem die Probleme der Feststellung einer Entscheidung vor dem Gericht im Rahmen der Rechtssachen, die zu dem PVC-Urteil geführt hätten, zur Sprache gekommen seien.

78 Nach Ansicht der Kommission muß jedoch die Feststellung einer Entscheidung nicht zwangsläufig ihrer Zustellung vorhergehen. Die Feststellung sei nämlich kein Bestandteil des Verfahrens zur Annahme der eigentlichen Entscheidung durch das Kollegium, und Artikel 12 der Geschäftsordnung setze für die Feststellung keinen bestimmten Zeitpunkt fest. Deshalb sei eine Feststellung nach der Zustellung rechtlich wirksam, wenn sie mit hinreichender Sicherheit bestätige, daß der Text der vom Kollegium der Kommissionsmitglieder angenommenen Entscheidung mit dem dem betroffenen Unternehmen zugestellten Text identisch sei. Dies treffe für den vorliegenden Fall genau zu, da die Entscheidung tatsächlich vom Kollegium am 19. Dezember 1990 so, wie sie gewesen sei, angenommen worden sei, so daß das Kollegialprinzip eingehalten worden sei. Im Unterschied zu der PVC-Entscheidung seien die angenommene, die zugestellte und die veröffentlichte Fassung identisch, und die Entscheidung weise im vorliegenden Fall keinen der anderen Mängel auf, mit denen die PVC-Entscheidung angeblich behaftet gewesen sei.

79 Ausserdem sei die Feststellung der Entscheidung nur ein Mittel, um die Rechtssicherheit zu gewährleisten, wenn über die Übereinstimmung des zugestellten und des angenommenen Textes gestritten werde. Im vorliegenden Fall gebe es keinen solchen Streit. Deshalb habe der Umstand, daß der Präsident und der Generalsekretär der Kommission nicht vor der Zustellung unterzeichnet hätten, die Stellung der Klägerin nicht wesentlich beeinträchtigt. Daß die Feststellung der Entscheidung nach ihrer Zustellung und sogar nach Einreichung der vorliegenden Klage erfolgt sei, sei für die Klägerin ohne grosse Bedeutung, da sie an sich die Echtheit des betreffenden Textes nicht in Zweifel ziehen könne. So komme die Vermutung der Gültigkeit, die Verwaltungsakte beanspruchen könnten, voll zum Tragen.

80 Würde man unter diesen Umständen den nachträglich auf der Entscheidung angebrachten Unterschriften des Präsidenten und des Exekutivsekretärs der Kommission den Charakter einer rechtsgültigen Feststellung absprechen, würde dies auf einen reinen Formalismus hinauslaufen, der vor allem deshalb unsinnig wäre, weil allgemein anerkannt sei, daß diese Förmlichkeit zwangsläufig eine gewisse Fiktion darstelle, da umfangreiche Texte nicht vollständig überprüft werden könnten. Wenn ein Schriftstück von einer Verwaltungsbehörde oder einem Gericht unterzeichnet werde, dürfe nämlich nicht erwartet werden, daß sämtliche Unterzeichner dieses Schriftstück vollständig gelesen hätten.

Würdigung durch das Gericht

Zulässigkeit

81 Bezueglich der Zulässigkeit des neuen Angriffsmittels der nicht ordnungsgemässen Feststellung der Entscheidung, das nach Beendigung des schriftlichen Verfahrens mit der Ergänzung zur Erwiderung geltend gemacht worden ist, ist auf Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung zu verweisen, wonach neue Angriffs- und Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens nicht mehr vorgebracht werden können, es sei denn, daß sie auf rechtliche oder tatsächliche Gründe gestützt werden, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind, wobei die Entscheidung über die Zulässigkeit des Vorbringens dem Endurteil vorbehalten ist.

82 Dazu vertritt das Gericht zunächst die Auffassung, daß die Erklärungen der Vertreter der Kommission, daß über mehrere Jahre die vom Kollegium der Kommissionsmitglieder angenommenen Rechtsakte regelmässig nicht festgestellt worden seien, eine neue Tatsache darstellen, die von der Klägerin zur Begründung ihrer Klage geltend gemacht werden kann. Auch wenn diese Erklärungen nur im Rahmen der PVC-Rechtssache abgegeben worden sind, gilt die Aussage doch für alle bis Ende 1991 durchgeführten Verfahren nach den Artikeln 85 und 86 des Vertrages, einschließlich des Verfahrens, das Gegenstand dieses Rechtsstreits ist.

83 Auch wenn das Fehlen der Feststellung der angefochtenen Entscheidung eine bereits vor Erhebung der vorliegenden Klage feststehende Tatsache war, konnte von der Klägerin nicht erwartet werden, daß sie sich in ihrer am 14. Mai 1991 eingegangenen Klageschrift darauf beruft. Der Entscheidung, die in Form einer durch die Unterschrift des Generalsekretärs der Kommission beglaubigten Abschrift zugestellt worden war, war nämlich selbst bei aufmerksamem Lesen nicht zu entnehmen, daß die Urschrift der Entscheidung seinerzeit nicht festgestellt worden war.

84 Zu der Frage, ob das auf diese Tatsache gestützte neue Angriffsmittel, das nach Beendigung des schriftlichen Verfahrens mit der am 2. April 1992 eingegangenen Ergänzung zur Erwiderung geltend gemacht worden ist, als rechtzeitig vorgebracht anzusehen ist oder zu einem früheren Zeitpunkt des Verfahrens hätte vorgebracht werden müssen, ist festzustellen, daß Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung weder eine Frist noch eine besondere Form für das Vorbringen eines neuen Angriffsmittels vorsieht. Insbesondere muß nach dieser Bestimmung das Vorbringen zur Vermeidung des Ausschlusses nicht unverzueglich oder innerhalb einer bestimmten Frist nach dem Zutagetreten der dort genannten rechtlichen oder tatsächlichen Gründe erfolgen. Das Vorbringen eines Angriffsmittels kann grundsätzlich nur dann ausgeschlossen werden, wenn der Ausschluß ausdrücklich und eindeutig geregelt ist, da er die Möglichkeit der betroffenen Partei einschränkt, alles vorzutragen, was erforderlich ist, um ihren Ansprüchen zum Erfolg zu verhelfen. Somit stand es der Klägerin frei, mit ihrer nach Beendigung des schriftlichen Verfahrens und vor Eröffnung der mündlichen Verhandlung eingereichten Ergänzung zur Erwiderung das neue Angriffsmittel geltend zu machen.

85 Aber selbst wenn diese Bestimmung so auszulegen wäre, daß ein neues Angriffsmittel nur zulässig ist, wenn es unverzueglich vorgebracht wird, hätte die Klägerin diese Voraussetzung im vorliegenden Fall erfuellt. Zwar hatte die Kommission schon in der Sitzung vom 10. Dezember 1991 in den Rechtssachen, die zu dem PVC-Urteil geführt haben, darauf hingewiesen, daß es einer ständigen Praxis entsprochen habe, die vom Kollegium der Kommissionsmitglieder angenommenen Rechtsakte nicht festzustellen, und die Klägerin hatte an dieser Sitzung auch teilgenommen, doch konnte von ihr nicht erwartet werden, daß sie das neue Angriffsmittel bereits in ihrer am 23. Dezember 1991 eingereichten Erwiderung geltend machen würde. Da es sich nämlich um eine sehr umstrittene Rechtsfrage handelte ° die übrigens im PVC-Urteil, im Urteil des Gerichtshofes vom 15. Juni 1994 (a. a. O.) und in den Schlussanträgen des Generalanwalts zu dem letztgenannten Urteil jeweils unterschiedlich beantwortet wurde °, durfte die Klägerin zumindest die Verkündung des PVC-Urteils des Gerichts am 27. Februar 1992 abwarten. Schließlich war der Zeitraum zwischen der Verkündung dieses Urteils und der Einreichung der Ergänzung zur Erwiderung nach Auffassung des Gerichts angemessen, da er objektiv erforderlich war, um das Urteil aufmerksam zu untersuchen und die Entscheidung sowie das zu ihrer Annahme durchgeführte Verfahren noch einmal gründlich zu prüfen, um eventuelle Formfehler aufdecken zu können.

86 Somit ist das Angriffsmittel der nicht ordnungsgemässen Feststellung der Entscheidung für zulässig zu erklären.

87 Hinzu kommt, daß das Gericht in seinem Beschluß vom 25. Oktober 1994 der Kommission jedenfalls aufgegeben hatte, u. a. den Text der Entscheidung in der seinerzeit festgestellten Fassung vorzulegen. Wie sich aus der Begründung des Beschlusses ergibt, hat das Gericht dabei dem Urteil des Gerichtshofes vom 15. Juni 1994 Rechnung getragen, mit dem dieser angesichts des Eingeständnisses der Kommission, die vom Kollegium der Kommissionsmitglieder angenommenen Rechtsakte würden seit langem nicht mehr festgestellt, entschieden hatte, daß das Versäumnis der Feststellung einer Entscheidung, um das es auch im vorliegenden Rechtsstreit geht, eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften darstellt (Randnr. 76). Das Gericht hat sich dabei aber auch von der ständigen Rechtsprechung leiten lassen, wonach die Verletzung wesentlicher Formvorschriften vom Gemeinschaftsrichter von Amts wegen geprüft werden kann (Urteile des Gerichtshofes vom 21. Dezember 1954, Rechtssache 1/54, Frankreich/Hohe Behörde, Slg. 1954, 7, Rechtssache 2/54, Italien/Hohe Behörde, Slg. 1954, 79, vom 20. März 1959, Rechtssache 18/57, Nold/Hohe Behörde, Slg. 1959, 89, vom 7. Mai 1991, Rechtssache C-291/89, Interhotel/Kommission, Slg. 1991, I-2257, Randnr. 14, und Rechtssache C-304/89, Oliveira/Kommission, Slg. 1991, I-2283, Randnr. 18).

° Begründetheit

88 Artikel 12 der Geschäftsordnung der Kommission in seiner im entscheidungserheblichen Zeitraum geltenden Fassung lautet wie folgt:

"Die von der Kommission... gefassten formellen Beschlüsse werden in der Sprache oder in den Sprachen, in denen sie verbindlich sind, durch die Unterschriften des Präsidenten und des Exekutivsekretärs festgestellt.

Der Wortlaut dieser Beschlüsse wird dem Protokoll der Kommission beigefügt, in dem ihre Annahme vermerkt ist.

Der Präsident gibt die von der Kommission gefassten Beschlüsse, soweit dies erforderlich ist, denjenigen bekannt, an die sie gerichtet sind."

Was die verschiedenen Abschnitte dieses Verfahrens betrifft, so ergibt sich bereits aus der Systematik dieser Regelung eine Gliederung des Verfahrens, nach der die Beschlüsse zunächst gemäß Absatz 1 der Bestimmung vom Kollegium der Kommissionsmitglieder angenommen und anschließend festgestellt werden, bevor sie, falls erforderlich, den Adressaten gemäß Absatz 3 der Bestimmung zugestellt und gegebenenfalls im Amtsblatt veröffentlicht werden. Infolgedessen muß die Feststellung eines Rechtsakts zwangsläufig seiner Zustellung vorausgehen.

89 Diese Gliederung, die sich aus einer wörtlichen und systematischen Auslegung ergibt, wird durch die Zielsetzung der Bestimmung über die Feststellung eines Rechtsakts bestätigt. Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Juni 1994 (a. a. O.) festgestellt hat, ist diese Bestimmung nämlich die Folge der Verpflichtung der Kommission, geeignete Maßnahmen zu treffen, damit der vollständige Wortlaut der vom Kollegium angenommenen Rechtsakte eindeutig bestimmt werden kann (Randnr. 73). Der Gerichtshof hat in diesem Urteil weiter ausgeführt, daß die Feststellung eines Rechtsakts somit die Rechtssicherheit gewährleisten soll, indem sie den vom Kollegium angenommenen Wortlaut in allen verbindlichen Sprachen feststellt, damit im Streitfall die vollkommene Übereinstimmung der zugestellten oder veröffentlichten Texte mit dem angenommenen Text und damit zugleich mit dem Willen der sie erlassenden Stelle geprüft werden kann (Randnr. 75). Der Gerichtshof ist zu dem Ergebnis gekommen, daß die Feststellung eines Rechtsakts eine wesentliche Formvorschrift im Sinne des Artikels 173 EWG-Vertrag darstellt (Randnr. 76).

90 Im vorliegenden Fall ist die Feststellung der angefochtenen Entscheidung nach ihrer Zustellung erfolgt. Somit liegt eine Verletzung einer wesentlichen Formvorschrift im Sinne des Artikels 173 des Vertrages vor.

91 Der Tatbestand dieser Verletzung ist allein durch die Nichteinhaltung der betreffenden wesentlichen Formvorschrift erfuellt. Für die Verletzung spielt es daher keine Rolle, ob der angenommene, der zugestellte und der veröffentlichte Text voneinander abweichen und ob, wenn dies zutrifft, diese Abweichungen wesentlich sind.

92 Unabhängig von diesen Erwägungen ist daran zu erinnern, daß die Feststellung der Entscheidung im vorliegenden Fall nach der Erhebung der Klage erfolgt ist. Ein Organ kann nach Eingang des verfahrenseinleitenden Schriftsatzes einen wesentlichen Formfehler der angefochtenen Entscheidung unmöglich durch eine einfache rückwirkende Berichtigung heilen. Dies gilt vor allem dann, wenn dem betroffenen Unternehmen wie im vorliegenden Fall durch die Entscheidung eine Geldbusse auferlegt worden ist. Eine Berichtigung nach Erhebung der Klage entzöge nämlich dem Angriffsmittel, mit dem das Versäumnis der Feststellung des Rechtsakts vor dessen Zustellung gerügt wird, nachträglich seine Grundlage. Eine solche Lösung verstieße wiederum gegen die Rechtssicherheit und die Interessen des einzelnen, der von einer Bußgeldentscheidung betroffen ist. Somit ist festzustellen, daß der Mangel, der sich aus der Verletzung einer wesentlichen Formvorschrift ergibt, nicht durch die ein Jahr nach Klageerhebung erfolgte Feststellung des Rechtsakts geheilt worden ist.

93 Nach alledem greift das Angriffsmittel der nicht ordnungsgemässen Feststellung des von der Kommission angenommenen Rechtsakts durch. Infolgedessen ist die Entscheidung insgesamt für nichtig zu erklären, ohne daß auf das weitere Vorbringen der Klägerin zur Begründung ihrer Anträge auf Nichtigerklärung eingegangen zu werden braucht.

Kostenentscheidung:

Kosten

94 Gemäß Artikel 87 § 2 Absatz 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen im wesentlichen unterlegen ist, sind ihr die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, ohne daß die teilweise Klagerücknahme bezueglich des Antrags, die Entscheidung für inexistent zu erklären, zu berücksichtigen ist.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Entscheidung 91/300/EWG der Kommission vom 19. Dezember 1990 in einem Verfahren nach Artikel 86 EWG-Vertrag (IV/33.133-D: Soda ° ICI) wird für nichtig erklärt.

2) Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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