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Gericht: Europäisches Gericht
Urteil verkündet am 14.12.1990
Aktenzeichen: T-75/89
Rechtsgebiete:
Vorschriften:
1. Im Falle der Gewährung einer Zulage gemäß Artikel 2 des Anhangs VII des Statuts für ein unterhaltsberechtigtes Kind im Sinne dieser Vorschrift ist die Anstellungsbehörde gebunden, wenn eine der in Artikel 2 Absätze 3 und 5 genannten Voraussetzungen erfuellt ist. Dagegen steht es gemäß Artikel 2 Absatz 4 im Ermessen der Anstellungsbehörde, dem unterhaltsberechtigten Kind in Ausnahmefällen durch Verfügung jede Person gleichzustellen, der gegenüber der Beamte gesetzlich zum Unterhalt verpflichtet ist und deren Unterhalt ihn mit erheblichen Ausgaben belastet.
Wegen dieser unterschiedlichen Natur der Befugnisse der Verwaltung und des allgemeinen Charakters von Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII kann angenommen werden, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber ein Kind, das die Voraussetzungen für die Gewährung der Zulagen gemäß den Absätzen 3 und 5 nicht erfuellt, nicht schon deshalb vom Geltungsbereich dieser Vorschrift ausnehmen wollte, weil es sich um das eheliche, das uneheliche oder das an Kindes Statt angenommene Kind des Beamten oder seines Ehegatten handelt.
Eine andere Auslegung verstieße gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung, der eine Ungleichbehandlung allein aufgrund des Personenstands verbietet, und wäre um so weniger gerechtfertigt, als die verwandtschaftliche Bindung des Beamten an sein Kind stärker ist als an andere Personen, die gleichgestellt werden können.
2. Die im Rahmen von Artikel 110 Absatz 1 des Statuts erlassenen allgemeinen Durchführungsbestimmungen können Kriterien festlegen, von denen sich die Verwaltung bei der Ausübung ihres Ermessens leiten lassen soll oder die die Bedeutung unklarer Statutsbestimmung erläutern sollen. Sie können jedoch nicht auf dem Umweg über eine Präzisierung einer eindeutigen Statutsbestimmungen den Anwendungsbereich des Statuts einschränken.
Der Beschluß des Rates vom 15. März 1976 zur Festlegung der allgemeinen Durchführungsbestimmungen zu Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII des Statuts ist insofern rechtswidrig, als er vom Geltungsbereich des Artikels 2 alle Personen innerhalb der darin festgelegten Mindest- und Hoechstaltersgrenzen ausnimmt und damit der Verwaltung die Möglichkeit nimmt, ihre Ermessensbefugnis in jedem Einzelfall auszuüben.
URTEIL DES GERICHTS ERSTER INSTANZ (DRITTE KAMMER) VOM 14. DEZEMBER 1990. - ANITA BREMS GEGEN RAT DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - BEAMTE - BEGRIFF DES UNTERHALTSBERECHTIGTEN KINDES - GLEICHZUSTELLENDE PERSONEN - KIND DES BEAMTEN - RECHTSWIDRIGKEIT DER ALLGEMEINEN DURCHFUEHRUNGSBESTIMMUNGEN. - RECHTSSACHE T-75/89.
Entscheidungsgründe:
Sachverhalt und Verfahren
1 Die Klägerin, Beamtin des Rates, bezog für ihren am 17. Juni 1967 geborenen Sohn Alessandro Tardioli bis 1988 gemäß den Artikeln 1 Absatz 2 Buchstabe b und 2 Absatz 3 Buchstabe b des Anhangs VII des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften (nachstehend: Anhang) eine Haushaltszulage und eine Zulage für unterhaltsberechtigte Kinder (Kinderzulage). Am 1. Juli 1988 wurde die Gewährung dieser Zulagen mit der Begründung eingestellt, daß sich der Sohn der Klägerin nicht mehr in Schulausbildung befinde.
2 Mit zwei getrennten Schreiben vom 27. Oktober 1988 beantragte die Klägerin, die Zahlung dieser beiden Zulagen wiederaufzunehmen. Sie begründete dies damit, daß ihr als Arbeitsuchender beim Rijksdienst voor Arbeidsvoorziening (Arbeitsamt) gemeldeter Sohn bei ihr wohne und ihr noch erhebliche Ausgaben verursache.
3 Mit Schreiben vom 29. November 1988 teilte die Verwaltung des Generalsekretariats des Rates der Klägerin mit, daß ihrem Antrag auf Haushaltszulage stattgegeben werde, sobald sie eine Bescheinigung über die Zusammensetzung ihrer Familie beibringe.
4 Dagegen lehnte die Verwaltung den Antrag auf Kinderzulage ab. Sie führte hierzu aus, die Gleichstellung einer Person mit einem unterhaltsberechtigten Kind durch besondere Verfügung der Anstellungsbehörde gemäß Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs könne nur "für andere Personen als unterhaltsberechtigte Kinder" erfolgen.
5 Die Klägerin nahm mit Schreiben vom 6. Dezember 1988 die Bewilligung ihres Antrags auf Haushaltszulage zur Kenntnis, focht jedoch die Ablehnung ihres Antrags auf Kinderzulage an. Die Klägerin machte insbesondere geltend, ihr Kind werde, da es das 18. Lebensjahr vollendet habe und sich nicht in Schul- oder Berufsausbildung befinde, nicht mehr als unterhaltsberechtigtes Kind im Sinne von Artikel 2 Absätze 2 und 3 des Anhangs angesehen. Unter diesen Umständen stehe das Statut einer Gleichstellung ihres Sohnes mit einem unterhaltsberechtigten Kind nicht entgegen, wenn dessen Unterhalt sie mit erheblichen Ausgaben belaste. Ihr Sohn beziehe seit dem 1. November 1988 ein monatliches Gehalt von 22 008 BFR.
6 Mit Schreiben vom 19. Dezember 1988 teilte die Verwaltung des Generalsekretariats des Rates der Klägerin mit, die Haushaltszulage könne ihr im Hinblick auf die veränderte finanzielle Lage ihres Sohnes nur bis Oktober 1988 gewährt werden. Hinsichtlich der Gleichstellung des Sohnes mit einem unterhaltsberechtigten Kind hielt die Verwaltung im übrigen an ihrer früheren Haltung fest, daß ein Beamter nach dem Statut nicht die Gleichstellung seines eigenen Kindes mit einem "unterhaltsberechtigten Kind" verlangen könne.
7 Die Klägerin hat hierauf mit Klageschrift, die am 17. März 1989 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, die Aufhebung der Verfügung beantragt, mit der der Antrag, ihren Sohn Alessandro Tardioli einem unterhaltsberechtigten Kind gleichzustellen, abgelehnt wurde.
8 Mit Beschluß vom 15. November 1989 hat der Gerichtshof die Rechtssache gemäß Artikel 14 des Beschlusses des Rates vom 24. Oktober 1988 zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften an das Gericht verwiesen.
9 Die Klägerin hat auf die Einreichung einer Erwiderung verzichtet.
10 Das Gericht (Dritte Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung ohne vorherige Beweisaufnahme zu eröffnen.
Anträge der Parteien
11 Die Klägerin beantragt,
- die Klage für zulässig und begründet zu erklären;
- demgemäß
a) festzustellen, daß der Beschluß des Rates vom 15. März 1976 zur Festlegung der allgemeinen Durchführungsbestimmungen zu Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII des Statuts der Beamten, insbesondere dessen Artikel 3, rechtswidrig ist;
b) die Verfügung der Anstellungsbehörde vom 29. November 1988 aufzuheben, mit der der Antrag, den am 17. Juni 1967 geborenen Sohn der Klägerin, Alessandro Tardioli, einem unterhaltsberechtigten Kind gleichzustellen, abgelehnt wurde;
c) soweit erforderlich, die Entscheidung der Anstellungsbehörde vom 19. Dezember 1988, mit der die von der Klägerin gemäß Artikel 90 Absatz 2 des Statuts am 6. Dezember 1988 eingelegte Beschwerde zurückgewiesen wurde, aufzuheben;
- dem Beklagten die Kosten des Verfahrens entweder gemäß Artikel 69 § 2 oder Artikel 69 § 3 Absatz 2 der Verfahrensordnung aufzuerlegen sowie gemäß Artikel 73 Buchstabe b der Verfahrensordnung die Erstattung der Aufwendungen, die für das Verfahren notwendig waren, insbesondere der Kosten der Bestellung eines Zustellungsbevollmächtigten, der Reise- und Aufenthaltskosten sowie des Anwaltshonorars anzuordnen.
Der Rat beantragt,
- die Klage als unbegründet abzuweisen;
- der Klägerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Begründetheit
12 Die Klägerin stützt ihre Klage auf zwei Klagegründe, und zwar einen Verstoß gegen Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs sowie einen Verfahrens- und Ermessensmißbrauch der Verwaltung bei Erlaß des Beschlusses des Rates vom 15. März 1976 zur Festlegung der allgemeinen Durchführungsbestimmungen zu Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs.
13 Vor einer Darstellung des Vorbringens der Parteien sind alle den rechtlichen Rahmen dieses Rechtsstreits bildenden Vorschriften des Statuts wiederzugeben.
14 Der Beamte erhält nach Maßgabe von Artikel 2 Absätze 2 bis 5 des Anhangs eine Kinderzulage für jedes unterhaltsberechtigte Kind. Diese Vorschriften lauten wie folgt:
"2. Als unterhaltsberechtigtes Kind gilt das eheliche, das uneheliche oder das an Kindes Statt angenommene Kind des Beamten oder seines Ehegatten, wenn es von dem Beamten tatsächlich unterhalten wird.
Das gleiche gilt für das Kind, für das ein Adoptionsantrag gestellt und für das das Adoptionsverfahren eingeleitet worden ist.
3. Die Zulage wird gewährt:
a) ohne weiteres für ein Kind unter 18 Jahren;
b) auf begründeten Antrag des Beamten für ein Kind von 18 bis 26 Jahren, das sich in Schul- oder Berufsausbildung befindet.
4. Dem unterhaltsberechtigten Kind kann ausnahmsweise durch besondere mit Gründen versehene und auf beweiskräftige Unterlagen gestützte Verfügung der Anstellungsbehörde jede Person gleichgestellt werden, der gegenüber der Beamte gesetzlich zum Unterhalt verpflichtet ist und deren Unterhalt ihn mit erheblichen Ausgaben belastet.
5. Diese Zulage wird ohne Rücksicht auf das Alter des Kindes weitergezahlt, wenn es dauernd gebrechlich ist oder an einer schweren Krankheit leidet, die es ihm unmöglich macht, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten; dies gilt für die gesamte Dauer der Krankheit oder des Gebrechens."
15 Dieser rechtliche Rahmen wird vervollständigt durch den Beschluß des Rates vom 15. März 1976 zur Festlegung der allgemeinen Durchführungsbestimmungen zu Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII des Statuts der Beamten (nachstehend: allgemeine Durchführungsbestimmungen). Artikel 1 dieses auf Artikel 110 Absatz 1 des Statuts gestützten Beschlusses bestimmt, daß die Gleichstellung einer Person mit einem unterhaltsberechtigten Kind im Sinne von Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs ausnahmsweise unter den in diesem Beschluß aufgestellten Voraussetzungen gewährt werden kann.
16 Unter anderem gelten nach Artikel 3 des Beschlusses folgende Voraussetzungen:
"Die Person, deren Gleichstellung beantragt wird, muß eine der folgenden Voraussetzungen erfuellen:
- älter als 60 Jahre sein, wenn es sich um einen Mann, und älter als 55 Jahre sein, wenn es sich um eine Frau handelt;
- jünger als 18 Jahre sein; diese Altersgrenze erhöht sich jedoch auf 26 Jahre, wenn sich die betreffende Person in Schul- oder Berufsausbildung befindet;
- gebrechlich sein oder an einer Krankheit leiden, die es ihr unmöglich macht, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten."
In Artikel 7 dieses Beschlusses heisst es:
"Die Gleichstellung ist möglich, wenn
a) einerseits die in den Artikeln 2 bis 4 vorgesehenen Bedingungen erfuellt sind
und
b) andererseits der Betrag der... Ausgaben für den Unterhalt ((einen bestimmten Betrag)) übersteigt..."
17 Die Klägerin macht geltend, Artikel 2 Absätze 2 und 3 des Anhangs verliehen der Anstellungsbehörde eine gebundene Zuständigkeit; sie sei gehalten, die Kinderzulage zu gewähren, wenn sie feststelle, daß die in der Bestimmung festgelegten Voraussetzungen erfuellt seien (Urteil des Gerichtshofes vom 18. Januar 1984 in der Rechtssache 65/83, Erdini/Rat, Slg. 1984, 211, Randnr. 19). Dagegen begründe Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs einen Ermessensspielraum für die Anstellungsbehörde. Die Klägerin räumt ein, daß es, um eine völlig ins Ermessen gestellte, ja willkürliche Beurteilung zu verhindern, zweckmässig sei, in allgemeinen Durchführungsbestimmungen Kriterien für die Anwendung von Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs aufzustellen, insbesondere eine Schwelle festzulegen, bei deren Überschreitung die Gleichstellung und damit die Gewährung der Zulage für unterhaltsberechtigte Personen durch die Höhe der Ausgaben gerechtfertigt sei.
18 Jedoch dürfe die Festlegung dieser Kriterien in den allgemeinen Durchführungsbestimmungen keinesfalls zum Ausschluß der einen oder der anderen Personengruppe führen, weil eine mechanische Anwendung vorher festgelegter Vorschriften und Merkmale der Notwendigkeit widersprechen würde, die für den Einzelfall kennzeichnenden, mitunter komplexen Sachverhalte zu würdigen (Urteil des Gerichtshofes vom 7. Juni 1972 in der Rechtssache 46/71, Brandau/Rat, Slg. 1972, 373, Randnrn. 13 und 14). In Weiterführung dieses Gedankengangs hält die Klägerin Artikel 3 der allgemeinen Durchführungsbestimmungen für rechtswidrig. Diese Vorschrift schaffe zusätzlich zu Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs Voraussetzungen, die der Gemeinschaftsgesetzgeber nicht vorgesehen habe; dies führe automatisch zum Ausschluß einer erheblichen Zahl von Personen, die die festgelegten Altersgrenzen entweder schon überschritten oder noch nicht erreicht hätten. Dies gelte unter anderem für Kinder über 18 Jahre; sie könnten den betreffenden Beamten mit erheblichen Ausgaben belasten, die nicht mit Schul- oder Berufsausbildung, mit Krankheit oder Gebrechlichkeit zusammenhingen. Die allgemeinen Durchführungsbestimmungen nähmen der Verwaltung praktisch den vom Gesetzgeber belassenen Ermessensspielraum, und die angefochtene Verfügung beschränke sich demgemäß auf eine mechanische Anwendung einer offenkundig rechtswidrigen Regelung.
19 Der Beklagte macht erstens geltend, gemäß Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs habe die Gleichstellungsverfügung Ausnahmecharakter. Das ergebe sich unmittelbar aus dem Wortlaut dieser Vorschrift des Statuts:
"... ausnahmesweise... besondere mit Gründen versehene und auf beweiskräftige Unterlagen gestützte Verfügung... erheblichen Ausgaben...". Zur Erläuterung dieser sehr allgemeinen Begriffe hätten die Organe schon 1964 objektive Kriterien aufgestellt, an die sich die Anstellungsbehörde bei der Ausübung ihres Ermessens halten müsse. Nach diesem vom Gerichtshof (durch das erwähnte Urteil Brandau vom 7. Juni 1972) gebilligten Verfahren habe der Rat die beanstandeten allgemeinen Durchführungsbestimmungen beschlossen.
20 Dem Antrag der Klägerin auf Gleichstellung ihres Sohnes könne zweitens deshalb nicht stattgegeben werden, weil nach dem Statut der Abkömmling eines Beamten einem unterhaltsberechtigten Kind nicht gleichgestellt werden könne, wenn er die Voraussetzungen für die Gewährung der Kinderzulage nicht erfuelle. Eine derartige Gleichstellung sei nämlich ein Verfahrensmißbrauch, denn sie ermögliche es unter Rückgriff auf eine Ausnahmebefugnis, eine unterschiedslos für alle Kinder von Beamten geltende Vorschrift des Statuts zu umgehen. Im übrigen habe der Rat derartigen Anträgen auf Gleichstellung niemals stattgegeben; das gleiche gelte, soweit dem Beklagten bekannt, auch für die übrigen Organe.
21 Drittens weist der Beklagte die drei Argumente zurück, die sich in der Kritik der Klägerin an den allgemeinen Durchführungsbestimmungen unterscheiden ließen. Zunächst sei zweifelhaft, ob die Klägerin die Bedeutung des Urteils vom 7. Juni 1972 (Brandau, a. a. O., Randnrn. 13 und 14) richtig einschätze. In diesem Rechtsstreit habe sich der Beamte darauf berufen, daß die beanstandeten allgemeinen Durchführungsbestimmungen die Voraussetzungen für die Gewährung der Zulage abschließend regelten, so daß die Verwaltung bei ihrer Erfuellung die beantragte Familienzulage gewähren müsse, ohne daß ihr ein Ermessensspielraum bleibe. Dagegen legten die allgemeinen Durchführungsbestimmungen im vorliegenden Fall nur Mindestvoraussetzungen fest, die der Beamte für unanwendbar halte, weil sie der Verwaltung keinen Ermessensspielraum ließen. Im übrigen ergäben sich aus den allgemeinen Durchführungsbestimmungen keine zusätzlichen, im Statut nicht vorgesehenen Voraussetzungen. Die sich auf die streitigen Punkte beziehenden Voraussetzungen (Alter 18 bis 26 Jahre und Schul- oder Berufsausbildung) seien ein Hinweis auf gleichlautende Kriterien, die im Statut für unterhaltsberechtigte Kinder von Beamten festgelegt seien. Schließlich bezeichne die Klägerin zwar die Anerkennung eines Ermessensspielraums als aus Billigkeitserwägungen gerechtfertigt, führe jedoch keinerlei Billigkeitsgesichtspunkt an. Sie berufe sich ausschließlich darauf, daß ihr Sohn ihr erhebliche Ausgaben verursache. Hiermit lasse sich ein Antrag auf Unterstützung gemäß Artikel 76 des Statuts begründen, aber nicht ohne weiteres eine extensive Anwendung der beamtenrechtlichen Vorschriften über ihren Wortlaut und ihren Sinn und Zweck hinaus rechtfertigen.
22 Das Vorbringen der Parteien dreht sich im wesentlichen um nur eine Rechtsfrage, nämlich die, inwieweit es die Statutsbestimmungen zulassen, einem Beamten eine Kinderzulage für ein Kind zu gewähren, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, sich nicht in Schul- oder Berufsausbildung befindet und auch nicht dauernd gebrechlich ist oder an einer schweren Krankheit leidet, die es ihm unmöglich macht, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Der Ausgang dieses Rechtsstreits hängt mit anderen Worten davon ab, wie Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs auszulegen ist, ob also auch das Kind eines Beamten unter den Begriff "jede Person" fällt, wie die Klägerin vorträgt, oder ob darunter "jede andere Person" als das Kind eines Beamten verstanden werden muß, wie der Beklagte meint.
23 Der Begriff des unterhaltsberechtigten Kindes ist in Artikel 2 Absatz 2 des Anhangs definiert. Es handelt sich um das eheliche, das uneheliche oder das an Kindes Statt angenommene Kind des Beamten oder seines Ehegatten. Für diese Kinder besteht ein Anspruch auf eine Zulage, wenn sie von dem Beamten tatsächlich unterhalten werden und darüber hinaus eine der in Artikel 2 Absätze 3 und 5 genannten Voraussetzungen erfuellen, nämlich: a) noch nicht 18 Jahre alt sind, b) 18 bis 26 Jahre alt sind und sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden, c) dauernd gebrechlich sind oder an einer schweren Krankheit leiden, die es ihnen unmöglich macht, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. In jedem dieser drei Fälle ist die Anstellungsbehörde nach dem Statut in dem Sinne gebunden, daß sie die Kinderzulage zu gewähren hat, wenn sie das Vorliegen dieser Voraussetzung feststellt. Die Kinderzulage wird ohne weiteres für ein Kind unter 18 Jahren, in den anderen Fällen auf Antrag des betreffenden Beamten gewährt.
24 Dagegen steht es gemäß Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs im Ermessen der Anstellungsbehörde, dem unterhaltsberechtigten Kind durch Verfügung jede Person gleichzustellen, der gegenüber der Beamte gesetzlich zum Unterhalt verpflichtet ist und deren Unterhalt ihn mit erheblichen Ausgaben belastet. Diese Vorschrift soll es der Anstellungsbehörde ermöglichen, in Ausnahmefällen Beamte zu unterstützen, die aufgrund einer gesetzlichen Verpflichtung erhebliche Ausgaben haben.
25 Wegen der unterschiedlichen Natur der Befugnisse, die der Anstellungsbehörde nach Artikel 2 Absätze 3 und 5 des Anhangs einerseits und nach Artikel 2 Absatz 4 andererseits zustehen, und des allgemeinen Charakters des in Absatz 4 verwendeten Begriffs ("jede Person") - dieser Begriff ist in allen Sprachfassungen, mit Ausnahme der italienischen Fassung, gleich - kann angenommen werden, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber ein Kind, das die Voraussetzungen für die Gewährung der Zulagen gemäß den Absätzen 3 und 5 nicht erfuellt, nicht schon deshalb vom Geltungsbereich des Artikels 2 Absatz 4 ausnehmen wollte, weil es sich um das "eheliche, das uneheliche oder das an Kindes Statt angenommene Kind des Beamten oder seines Ehegatten" gemäß Artikel 2 Absatz 2 handelt.
26 Da sich aus dem Statut nichts Gegenteiliges ergibt, kommt eine Auslegung nicht in Betracht, die dadurch, daß sie die Kinder des Beamten von der Anwendung einer allgemeinen Vorschrift ausschließt, gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstieße, der eine Ungleichbehandlung allein aufgrund des Personenstands verbietet. Ein solcher Ausschluß wäre um so weniger gerechtfertigt, als die verwandtschaftliche Bindung des Beamten an sein Kind stärker ist als an andere Personen - wie Eltern, Grosseltern oder frühere Ehegatten -, die nach den allgemeinen Durchführungsbestimmungen der Organe zu Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs oder nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes einem unterhaltsberechtigten Kind gleichgestellt werden können (siehe Urteile des Gerichtshofes vom 7. Juni 1972, Brandau, a. a. O., vom 21. November 1974 in der Rechtssache 6/74, Moulijn/Kommission, Slg. 1974, 1287; siehe auch die Sachverhalte, die den Urteilen vom 19. Januar 1984, Erdini, a. a. O., Randnr. 2, und vom 23. März 1988 in der Rechtssache 248/87, Mouriki/Kommission, Slg. 1988, 1721, Randnr. 2, zugrunde lagen).
27 Dieses Ergebnis kann nicht, wie der Beklagte meint, zu einem Verfahrensmißbrauch führen. Dieses Argument wäre erheblich, wenn Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs keine andere Bedeutung hätte, als es zu ermöglichen, Kinder, die tatsächlich von einem Beamten unterhalten werden, aber keine ehelichen, unehelichen oder an Kindes Statt angenommenen Kinder des Beamten oder seines Ehegatten sind, unterhaltsberechtigten Kindern unter den gleichen altersmässigen und sonstigen Voraussetzungen gleichzustellen, wie sie in Artikel 2 Absätze 3 und 5 festgelegt sind. Da aber, wie bereits erwähnt, nach den allgemeinen Durchführungsbestimmungen und nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes eine Gleichstellungsverfügung zugunsten verschiedenartiger Personengruppen ergehen kann, steht das Statut dem Antrag eines Beamten auf Gleichstellung seines eigenen Kindes mit einem "unterhaltsberechtigten Kind" keineswegs entgegen. Es ist demnach anzunehmen, daß letzterer Begriff in das Statut (Artikel 2 Absatz 2 des Anhangs) aufgenommen wurde, um speziell die drei Fälle festzulegen, in denen die Familienzulage automatisch gewährt wird (Artikel 2 Absatz 3 Buchstaben a und b und Absatz 5). Der Begriff des unterhaltsberechtigten Kindes kann demnach wegen des unterschiedlichen Geltungsbereichs von Artikel 2 Absätze 2, 3 und 5 einerseits und von Artikel 2 Absatz 4 andererseits der Gleichstellung des eigenen Kindes eines Beamten mit einem unterhaltsberechtigten Kind nicht entgegenstehen.
28 Die von der Klägerin erhobene Einrede der Rechtswidrigkeit der Artikel 3 und 7 des Beschlusses des Rates vom 15. März 1976 zur Festlegung der allgemeinen Durchführungsbestimmungen zu Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs ist anhand der vorstehenden Auslegung von Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs zu prüfen.
29 Die im Rahmen von Artikel 110 Absatz 1 des Statuts erlassenen allgemeinen Durchführungsbestimmungen können Kriterien festlegen, von denen sich die Verwaltung bei der Ausübung ihres Ermessens leiten lassen soll oder die die Bedeutung unklarer Statutsbestimmungen erläutern sollen. Sie können jedoch nicht auf dem Umweg über eine Präzisierung einer eindeutigen Statutsbestimmung den Anwendungsbereich des Statuts einschränken (siehe in diesem Sinne die Urteile des Gerichtshofes vom 8. Juli 1965 in der Rechtssache 110/63, Willame/Kommission, Slg. 1965, 859, und vom 7. Juni 1972, Brandau, a. a. O., sowie das Urteil des Gerichts vom 6. Juni 1990 in der Rechtssache T-44/89, Gouvras-Laycock/Kommißsion, Slg. 1990, II-217).
30 Der in Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs verwendete Begriff "jede Person" ist klar und bedarf keiner Präzisierung. Mit den beanstandeten Vorschriften der allgemeinen Durchführungsbestimmungen wurden in dem Bestreben um Klarstellung dieses Begriffs Mindest- und Hoechstaltersgrenzen für Personen festgelegt, die unterhaltsberechtigten Kindern gleichgestellt werden können. Diese allgemeinen Durchführungsbestimmungen haben auf diese Weise alle Personen innerhalb dieser Altersgrenzen vom Anwendungsbereich des Artikels 2 Absatz 4 des Anhangs ausgenommen und damit der Anstellungsbehörde die Möglichkeit genommen, ihre Ermessensbefugnis in jedem Einzelfall auszuüben. Die beanstandeten Vorschriften der allgemeinen Durchführungsbestimmungen sind demgemäß rechtswidrig, und die dahin gehende Einrede der Klägerin ist als begründet anzusehen.
31 Nach alledem ist die angefochtene Verfügung, mit der der Klägerin die Gleichstellung ihres Sohnes mit einem unterhaltsberechtigten Kind allein mit der Begründung verweigert wurde, daß dieser nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs falle, rechtsfehlerhaft und demgemäß aufzuheben.
32 Gemäß Artikel 176 EWG-Vertrag hat die Anstellungsbehörde die sich aus diesem Urteil ergebenden Maßnahmen zu ergreifen, indem sie den Antrag der Klägerin unter Berücksichtigung der vorstehenden Auslegung von Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs erneut prüft.
Kostenentscheidung:
Kosten
33 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes, die für das Verfahren vor dem Gericht entsprechend gilt, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Rat mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1) Die Verfügung des Generalsekretariats des Rates, mit der der Klägerin die Gleichstellung ihres Sohnes mit einem unterhaltsberechtigten Kind verweigert wurde, wird aufgehoben.
2) Der Rat trägt die Kosten des Verfahrens.
Ende der Entscheidung
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