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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 18.01.2006
Aktenzeichen: 13 K 210/05
Rechtsgebiete: EStG, AO, GG


Vorschriften:

GG Art. 19 Abs. 4
EStG § 37 Abs. 3 S. 7
AO § 227
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Im Namen des Volkes

Urteil

In dem Finanzrechtsstreit

hat der 13. Senat des Finanzgerichts Baden-Württemberg aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 18. Januar 2006 durch Vorsitzenden Richter am Finanzgericht ... Richter am Finanzgericht ... Richterin am Finanzgericht ... ehrenamtliche Richter ... und ...

für Recht erkannt:

Tenor:

Der Bescheid des Beklagten vom 24.06.2004 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 02.09.2005 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, Säumniszuschläge zur Einkommensteuer 1995 in Höhe von 1.660 DM (= 848,74 EUR) und zum Solidaritätszuschlag 1995 in Höhe von 124 DM (= 63,40 EUR) zu erlassen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Ermöglicht der Kostenfestsetzungsbeschluss eine Vollstreckung im Wert von mehr als 1.500 EUR, haben die Kläger in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruchs Sicherheit zu leisten.

Bei einem vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruch bis zur Höhe von 1.500 EUR kann der Beklagte der vorläufigen Vollstreckung widersprechen, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruchs leisten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist, ob Säumniszuschläge zur Einkommensteuer 1995 in Höhe von 1.660 DM und zum Solidaritätszuschlag 1995 in Höhe von 124 DM aus sachlichen Billigkeitsgründen zu erlassen sind.

Die Kläger werden als Eheleute zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger ist als Steuerberater selbständig tätig. Im Einkommensteuerbescheid für 1994 vom 16.07.1996 ergab sich eine Abschlusszahlung von ca. 45.000 DM. Zugleich wurde in dem Bescheid eine nachträgliche Vorauszahlung zur Einkommensteuer 1995 in Höhe von 47.200 DM und für Solidaritätszuschlag in Höhe von 3.544 DM festgesetzt mit Fälligkeit am 19.08.1996.

Bei einer Vorsprache des Klägers beim Finanzamt am 06.08.1996 wegen Anpassung der Vorauszahlungen für 1995 machte der Kläger u.a. geltend, der Gewinn aus selbständiger Arbeit für 1995 betrage ca. 337.500 DM. Für das im Jahr 1995 fertig gestellte Mietwohngrundstück ... in ... wurde ein Werbungskostenüberschuss in Höhe von ca. 75.000 DM geltend gemacht.

Mit Bescheid vom 19.08.1996 wurden die Vorauszahlungen für Einkommensteuer 1995 in der Weise angepasst, dass die nachträgliche Vorauszahlung für Einkommensteuer 1995 auf 41.528 DM und für Solidaritätszuschlag auf 3.116 DM herabgesetzt wurde; die Fälligkeit am 19.08.1996 blieb unverändert. Aus der in dem Bescheid vom 19.08.1996 enthaltenen Einkünfteermittlung (Gesamtbetrag der Einkünfte: 343.500 DM) ergibt sich, dass die Einkünfte aus selbständiger Arbeit mit 337.500 DM angesetzt wurden (bei dem dort bezeichneten Betrag von 375.500 DM handelt es sich offensichtlich um einen Schreibfehler). Aus der Anlage zum Bescheid ergibt sich ferner, dass der geltend gemachte Verlust aus Vermietung und Verpachtung für das Objekt ... bei der Ermittlung der Vorauszahlungen nicht berücksichtigt wurde, da nach § 37 Abs. 3 Satz 7 EStG (in der für das Streitjahr 1995 geltenden Fassung) der Verlust erst ab dem Veranlagungszeitraum 1996 für Zwecke der Vorauszahlung berücksichtigt werden könne.

Am 23.08.1996 legten die Kläger gegen den Vorauszahlungsbescheid vom 19.08.1996 Einspruch ein und beantragten die Aussetzung der Vollziehung. Zur Begründung wurde vorgebracht, die vom Finanzamt herangezogene Vorschrift des § 37 Abs. 3 Satz 7 EStG sei verfassungsrechtlich bedenklich. Mit Bescheid vom 28.08.1996 lehnte das Finanzamt den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ab. Der Bescheid führt aus: Nach § 37 Abs. 3 Satz 7 EStG könnten negative Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung eines Gebäudes nur für Kalenderjahre berücksichtigt werden, welche nach der Fertigstellung des Gebäudes beginnen. Das Gebäude ... in ... sei im Jahr 1995 fertig gestellt worden; deshalb könnten negative Einkünfte aus diesem Objekt bei der Festsetzung der Vorauszahlungen für 1995 nicht berücksichtigt werden. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe im Beschluss vom 17.03.1994 VI B 154/93 (BStBl II 1994, 567) bestätigt, dass die Vorschrift nicht gegen die Verfassung verstoße. Auf die Möglichkeit der Einflussnahme durch Abgabe der Einkommensteuererklärung 1995 werde hingewiesen. Gegen den Bescheid vom 28.08.1996 haben die Kläger am 27.09.1996 Einspruch eingelegt.

Am 29.11.1996 reichten die Kläger die Einkommensteuererklärung 1995 beim Finanzamt ein. Am 17.12.1996 erging der Einkommensteuerbescheid für 1995, in dem sich ein Verlust aus dem Objekt ... in Höhe von 71.157 DM antragsgemäß auswirkte. Eine Abschlusszahlung ergab sich aus diesem Bescheid nicht.

Am 07.02.1997 erging ein "Abrechnungsbescheid gemäß § 218 Abs. 2 AO über Säumniszuschläge zur Anpassung von Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag 1995". Der Bescheid führt u.a. aus: Gemäß § 240 Abs. 1 AO seien durch Nichtentrichtung festgesetzter Einkommensteuervorauszahlungen für 1995 Säumniszuschläge entstanden für die Zeit vom 19.08.1996 bis 06.12.1996 (Stichtag der Abrechnung des Einkommensteuerbescheids 1995 vom 17.12.1996) = 4 Monate × 1 % aus 41.500 DM = 1.660 DM. Für denselben Zeitraum seien Säumniszuschlage wegen Nichtentrichtung des Solidaritätszuschlags in Höhe von 124 DM entstanden (4 × 1 % aus 3.100 DM).

Gegen den Abrechnungsbescheid haben die Kläger Einspruch erhoben, der wiederum mit verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Regelung des § 37 Abs. 3 Satz 7 EStG begründet wurde. Mit zwei Einspruchsentscheidungen vom 26.05.1997, die gegenüber dem Kläger und der Klägerin ergingen, wurde der Einspruch als unbegründet zurückgewiesen. Die Einspruchsentscheidungen führen aus: Die Einwendungen der Kläger beträfen allein die Steuerfestsetzung. Für das Entstehen der Säumniszuschläge sei dies ohne Bedeutung. Die Steuerbeträge seien festgesetzt gewesen und Aussetzung der Vollziehung sei nicht gewährt worden. Die Kläger seien somit verpflichtet gewesen, die angeforderten Beträge zu entrichten; dies hätten sie jedoch nicht getan.

Mit Schreiben vom 26.06.1997 haben die Kläger Klagen erhoben, die unter den Aktenzeichen 13 K 133/97 (Kläger) und 13 K 134/97 (Klägerin) registriert wurden. Mit den Klagen wurde u.a. vorgebracht: Mit Bescheid vom 19.08.1996 habe das Finanzamt eine nachträgliche Anpassung der Einkommensteuervorauszahlungen 1995 vorgenommen, eine Steuerschuld von 117.560 DM festgesetzt und unter Anrechnung bereits erfolgter Vorauszahlungen einen Restbetrag von 41.528 DM zum Soll gestellt. Dieser Bescheid sei indessen fehlerhaft. Am 06.08.1996 sei dem zuständigen Bearbeiter im Finanzamt bezüglich des im Jahr 1995 fertig gestellten Anwesens ... eine Schätzung vorgelegt worden mit einem Verlust von mindestens 68.000 DM. Das Finanzamt habe unter Bezugnahme auf § 37 Abs. 3 Satz 7 EStG die Berücksichtigung des Verlustes für das Jahr der Fertigstellung des Gebäudes abgelehnt. Dies sei rechtswidrig. Die genannte Regelung solle nämlich nur die Vorfinanzierung von Eigenkapitalleistungen über die ersparten Einkommensteuervorauszahlungen einschränken, wie dies bei Bauherren- und Erwerbermodellen praktiziert worden sei. Betroffen von dieser Regelung seien aber auch Bauherren, die das Bauvorhaben - wie im Streitfall - ohne Einschaltung von Modellträgern verwirklicht hätten; hierfür fehle jede Rechtfertigung.

Der Beklagte brachte in den Verfahren 13 K 133/97 und 13 K 134/97 u.a. vor: Säumniszuschläge entstünden stets bei nicht rechtzeitiger Zahlung einer fälligen Steuer. Bereits verwirkte Säumniszuschläge blieben gemäß § 240 Abs. 1 Satz 4 AO auch bei einer Aufhebung oder Änderung der Steuerfestsetzung bestehen. Auch bei Vorauszahlungen komme es nur auf deren Festsetzung und Fälligkeit an. Folglich sei es unerheblich, wenn die Höhe der festgesetzten Vorauszahlung von der später festgesetzten Steuerschuld abweiche. Da die Kläger die aufgrund des Vorauszahlungsbescheids 1995 vom 19.08.1996 fälligen Beträge unstreitig nicht bezahlt hätten, seien die Säumniszuschläge kraft Gesetzes verwirkt. Nach dem BFH-Beschluss in BStBl II 1994, 567 bestünden an der angewandten Regelung des § 37 Abs. 3 Satz 7 EStG keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

Mit Beschluss vom 03.05.2001 hat das Gericht die Verfahren 13 K 133/97 und 13 K 134/97 gemäß § 74 FGO ausgesetzt, u.a. bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in einem Verfahren wegen Erlass der Säumniszuschläge. Daraufhin hat das Finanzamt mit Bescheid vom 24.06.2004 den Erlass der Säumniszuschläge abgelehnt und den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 02.09.2005 als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kläger haben mit Schriftsatz vom 28.09.2005 Klage erhoben. Sie stellen den Antrag aus der Klageschrift vom 28.09.2005 und beantragen hilfsweise, die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf die Einspruchsentscheidung, die Klage abzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist begründet.

Gemäß § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, zu denen auch Säumniszuschläge gehören (§ 37 Abs. 1 AO i.V.m. § 3 Abs. 4 AO), ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme ist eine Ermessensentscheidung, die gerichtlich nur in den durch § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gezogenen Grenzen nachprüfbar ist. Nach dieser Vorschrift ist die Prüfung darauf beschränkt, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Wenn der Ermessensspielraum im konkreten Fall derart eingeschränkt ist, dass lediglich eine Entscheidung als ermessensgerecht in Betracht kommt (sog. Ermessenreduzierung auf Null), kann das Gericht eine Verpflichtung zum Erlass aussprechen (vgl. BFH-Urteil vom 27.09.2001 X R 134/98, BStBl II 2002, 176, 178). Im vorliegenden Fall ist von einer solchen Ermessensreduzierung auszugehen.

Eine sachliche Unbilligkeit ist gegeben, wenn die rechtliche Aussage des Steuergesetzes über den mit ihm verfolgten Zweck und seine Wertungen hinausgeht, wenn also ein Überhang des gesetzlichen Tatbestandes über die Wertungen des Gesetzgebers feststellbar ist (vgl. BFH-Urteile vom 20.04.1988 I R 197/84, BStBl II 1988, 983, 986; vom 21.01.1992 VIII R 51/88, BStBl II 1993, 3). Ein Erlass von Säumniszuschlägen aus sachlichen Billigkeitsgründen setzt danach voraus, dass ihre Einziehung nicht mehr zu rechtfertigen ist, weil der Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, die Erhebung der Säumniszuschläge aber den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft. Hiervon ist im Streitfall auszugehen, da ein Überhang des gesetzlichen Tatbestandes über die Wertungen des Gesetzgebers vorliegt:

Gemäß § 37 Abs. 3 Satz 7 EStG werden negative Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung bei der Festsetzung von Vorauszahlungen nur für Kalenderjahre berücksichtigt, die nach der Anschaffung oder Fertigstellung dieses Gebäudes beginnen. Vermietungsverluste, die im Anschaffungs- oder Herstellungsjahr entstehen, können daher die Einkommensteuer-Vorauszahlungen dieses Jahres noch nicht mindern, sondern werden erst bei der Veranlagung angerechnet. Ziel dieser gesetzlichen Regelung war die Einschränkung von Steuervorteilen aus der Beteiligung an sog. Bauherrenmodellen. Durch diese Einschränkung des Verlustausgleichs im Vorauszahlungsverfahren während der Anlaufphase eines Bauvorhabens sollten für die Bezieher höherer Einkommen steuerliche Vorteile aus der Beteiligung an sog. Verlustzuweisungsmodellen begrenzt werden (vgl. BFH-Beschlüsse vom 06.05.1986 IX B 121/84, BStBl II 1986, 749; vom 17.03.1994 VI B 154/93, BStBl II 1994, 567). Obwohl die gesetzgeberische Zielrichtung nur auf sog. Bauherrenmodelle gerichtet war, sind von der Regelung auch solche Bauherren oder Erwerber betroffen, die - wie im Streitfall - ihr Bauvorhaben als Einzelbauherren und ohne Einschaltung von Modellträgern verwirklichen (vgl. Schmidt/Drenseck, EStG, 24. Aufl., § 37 Anm. 9: "Hierfür fehlt jede Rechtfertigung"; ebenso Paus, Finanz-Rundschau 1995, 14; Zärban, Betriebs-Berater 1995, 2627; Diebold in Herrmann/Heuer/Raupach, § 37 EStG Anm. 158).

Im vorliegenden Verfahrensstadium nach Ergehen des Jahreseinkommensteuerbescheids, der die im Vorauszahlungsbescheid nach § 37 Abs. 3 Satz 7 EStG noch nicht enthaltenen Verluste berücksichtigt, besteht keine verfahrensrechtliche Möglichkeit mehr, die während der Geltung des Vorauszahlungsbescheids entstandenen Säumniszuschläge durch Aussetzung (Aufhebung) der Vollziehung zu beseitigen. Denn bei einem Vorauszahlungsbescheid entfällt mit der Durchführung der Einkommensteuerveranlagung die Möglichkeit, die Vollziehung des Vorauszahlungsbescheids auszusetzen; der Vorauszahlungsbescheid verliert seine Wirkung und an seine Stelle tritt der Jahressteuerbescheid (vgl. BFH-Beschluss vom 04.06.1981 VIII B 31/80, BStBl II 1981, 767). Im Jahressteuerbescheid ist aber die im Vorauszahlungsbescheid enthaltene Beschwer, die zu den Säumniszuschlägen geführt hat, nicht mehr enthalten, weil der Vermietungsverlust im Jahressteuerbescheid berücksichtigt wurde. Der nach Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz zu gewährende Rechtsschutz gegen die während der Geltung des Vorauszahlungsbescheids entstandenen Säumniszuschläge ist damit im vorliegenden Erlassverfahren zu gewähren (vgl. auch Finanzgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.02.2004 3 V 23/03, Entscheidungen der Finanzgerichte 2004, 829).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO, die Zulassung der Revision aus § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 151, 155 FGO i,V.m. §§ 708 Nr. 11, 709, 711 Zivilprozessordnung.

Ende der Entscheidung

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