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Gericht: Finanzgericht Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 11.11.2008
Aktenzeichen: 4 K 2281/07
Rechtsgebiete: EStG, AO, SGB XII, BGB


Vorschriften:

EStG § 31
EStG § 74 Abs. 1
AO § 5
SGB XII § 94 Abs. 2
BGB § 1610 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger. Die Kosten der Beigeladenen werden nicht erstattet.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Abzweigung eines Kindergeldanspruchs zugunsten des Sozialhilfeträgers.

Der Kläger (Kl) ist Vater des am 13. September 1972 geborenen Sohnes X sowie eines weiteren im Jahr 1976 geborenen Kindes. Der Sohn X ist mit einem vom Versorgungsamt A festgestellten Grad der Behinderung von 100 schwerbehindert und lebt in den Wohnheimen der V... in B, einem Wohnheim für behinderte Menschen. Den Aufwand für die dortige vollstationäre Unterbringung, der sich monatlich auf Beträge zwischen 5.270 EUR und 5.550 EUR beläuft, trägt die Stadt C im Rahmen der Leistungen der Sozialhilfe für behinderte Menschen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Der Kl zahlt an die Stadt C seit dem 1. Januar 2002 einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von 26 EUR gemäß § 91 Abs. 2 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG; hier i.d.F. durch Art. 15 Nr. 17 des Sozialgesetzbuches - Neuntes Buch - SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - vom 19. Juni 2001, BGBl. I 2001, 1046, und durch Art. 27 Nr. 3 des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung anderer Gesetze vom 27. April 2002, BGBl. I 2002, 1467) bzw. (seit 1. Januar 2004) gemäß § 94 Abs. 2 SGB XII.

Mit Schreiben vom 27. März 2007, eingegangen am 29. März 2007, beantragte die Stadt C bei der beklagten Familienkasse (der Beklagten - Bekl -) unter Berufung auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 23. Februar 2006 - III R 65/04 (BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753) die Abzweigung des Kindergelds für das Kind X, wobei sie die Prüfung, in welcher Höhe das Kindergeld abzuzweigen sei, der Bekl überließ.

Die Bekl gab daraufhin dem Kl mit Schreiben vom 4. April 2007 Gelegenheit mitzuteilen, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe er seinem Sohn gegenüber tatsächlich Unterhaltsleistungen erbringe oder das Kindergeld an den Sohn weiterleite. Der Kl machte hierauf geltend, neben den geleisteten regelmäßigen Zahlungen von 26 EUR monatlich entstünden ihm finanzielle Aufwendungen in Gestalt von Fahrtkosten für eine Fahrt monatlich über 15 km und für Besuche an christlichen Feiertagen wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten sowie am Geburtstag des Sohnes. Für das Vorjahr 2006 gab der Kl an, seinen Sohn insgesamt neunmal besucht zu haben.

Mit Bescheid vom 27. Juli 2007 entschied die Bekl, von dem Kindergeldanspruch des Kl für den Sohn X ab Mai 2007 einen Betrag von 77 EUR monatlich an das Sozialamt der Stadt C abzuzweigen. Die Abzweigung in dieser Höhe sei angemessen, weil das Kindergeld insoweit für den Kindesunterhalt bestimmt sei. Der Kl gewähre dem Kind den Unterhalt nicht in vollem Umfang. Zugleich teilte die Bekl der Stadt C durch Bescheid vom gleichen Tag mit, ihr stehe ab Mai 2007 ein Abzweigungsbetrag in Höhe von 77 EUR zu. Nach den Ermittlungen der Bekl leiste der Kl Unterhalt in Höhe von wenigstens 77 EUR.

Mit bei der Bekl am 23. August 2007 eingegangenem Schreiben legte der Kl gegen diese Entscheidung "Widerspruch" mit der Begründung ein, der Gesetzeszweck des § 94 Abs. 2 SGB XII schließe einen Abzweigungsbetrag an den Sozialhilfeträger an sich selbst aus. Er - der Kl - zahle regelmäßig den Unterhaltsbetrag von 26 EUR. Einmal im Monat besuche er seinen Sohn im Wohnheim. Die familiären Beziehungen seien intakt. Als Elternvertreter nehme er seine Aufgabe etwa viermal im Jahr wahr. Wegen seines Hüftleidens könne er den Sohn nicht mehr mit nach Hause nehmen und halte ihm deshalb auch kein Zimmer dort bereit. Er sei für die Gesundheitsfürsorge des Sohnes verantwortlich; so sei der Sohn im Jahr 2007 bereits zehn Tage im Klinikum in B gewesen.

Unter dem 9. Oktober 2007 entschied die Bekl über den als Einspruch behandelten "Widerspruch", indem sie ihn als unbegründet zurückwies. Die Vorschrift des § 74 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) - betreffend die Zahlung des Kindergelds in Sonderfällen - diene dem Zweck, im konkreten Bedarfsfall schnell und unbürokratisch Hilfe zu leisten und das Kindergeld an die Personen oder Stellen auszuzahlen, denen es letztendlich zugute kommen solle. Zwar stehe die Abzweigung grundsätzlich im Ermessen der Familienkasse. Im Hinblick auf die Zweckbestimmung des Kindergelds sei das Ermessen jedoch regelmäßig dahingehend auszuüben, dass - wie hier - bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen eine Abzweigung des Kindergelds zu erfolgen habe. Der Kl habe seine gesetzliche Unterhaltspflicht lediglich mit einem Betrag erfüllt, der geringer sei als das auf das Kind entfallende Kindergeld. Leiste der Kindergeldberechtigte in geringem Umfang Unterhalt, so sei dies bei der Ermessensentscheidung über die Abzweigung zu berücksichtigen. Aufgrund der Angaben des Kl komme sie - die Bekl - zu der Feststellung, dass der Kl Unterhalt in Höhe von 77 EUR monatlich an seinen Sohn leiste. Unter Berücksichtigung dessen sei Kindergeld in Höhe von 77 EUR an den Sozialhilfeträger abzuzweigen.

Hiergegen richtet sich die Klage, mit der der Kl das Ziel verfolgt, das Kindergeld für seinen Sohn X ab Mai 2007 weiterhin in voller Höhe zu erhalten. Den Regelungen des § 74 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 EStG sei zu entnehmen, dass grundsätzlich nur durch eine direkte Auszahlung des Kindergelds an das Kind sichergestellt werden solle, dass diesem das Kindergeld zugute komme und nicht vom Kindergeldberechtigten für eigene Zwecke verwendet werde. Durch den regelmäßigen Aufwand, den die Eltern für ihr Kind vorliegend erbrächten, werde diesem Zweck jedoch Genüge getan. Dabei sei bereits berücksichtigt, dass es "nur" noch um den Restbetrag von 77 EUR monatlich an Kindergeld gehe. Das Kindergeld werde daher zu Zwecken verwendet, die dem behinderten Sohn X selbst sowie dem Zusammenhalt der Familie dienten. Diese Überlegungen seien in die Ermessensentscheidung der Bekl über die Abzweigung von Kindergeld an die Stadt C einzubeziehen. Sie müssten jedenfalls dazu führen, Kindergeld nicht abzuzweigen, soweit und solange im Umfang des Kindergeldbetrages, der überhaupt zur Auszahlung gelangen könne, auch tatsächlich Unterhaltsleistungen erbracht würden.

Hinzu komme - so der Vortrag des Kl weiter -, dass der Ansatz des BFH in dessen Urteil in BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753 klarstellungsbedürftig sei. So habe der Gesetzgeber das Vorrang-Nachtrag- Verhältnis zwischen Leistungen nach dem SGB XII und anderen Hilfemöglichkeiten für behinderte Menschen dahin geregelt, dass im Regelfall nach § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB XII ein Unterhaltsanspruch nur in Höhe von maximal 46 EUR auf den Sozialhilfeträger übergehe. Damit habe der Gesetzgeber zugleich die sozialrechtliche Wertung vorgenommen, dass es damit hinsichtlich der Inanspruchnahme von Eltern volljähriger behinderter Kinder sein Bewenden haben solle. Das Sozialrecht als der speziellere Normenkomplex gehe daher mit der Zahlung von monatlich maximal 46 EUR im Wege einer Fiktion von einer ausreichenden Erfüllung der Unterhaltspflicht aus. Dadurch werde jedenfalls der Sozialhilfeträger gebunden. Wenn es aber nach der klaren und eindeutigen Wertung des SGB XII keine weitere für einen Sozialhilfeträger realisierbare Unterhaltspflicht der Eltern gebe, so könne man nicht bei der Anwendung von § 74 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG die gerade erst vorgenommene Wertung auf dem Umweg über eine Abzweigung von Kindergeld wieder aufheben. Dies widerspreche dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung. Das BFH-Urteil in BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753 sei im Übrigen noch unter Anwendung der Regelungen des BSHG ergangen und daher auf den Streitfall nicht anwendbar, denn nach § 94 Abs. 2 SGB XII bestehe - anders als nach der Rechtslage, über die der BFH zu entscheiden gehabt habe - für Unterhaltsansprüche, die über 26 EUR bzw. 46 EUR hinausgingen, ein Übergangsausschluss. Zudem komme es nach § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG entscheidend auf eine Verletzung der Unterhaltspflicht an. Hiervon könne aber keine Rede sein, wenn volljährige behinderte Kinder Leistungen der Eingliederungshilfe bezögen und ein Rückgriff gegen ihre Eltern auf einen Betrag von 26 EUR mit einer klaren gesetzgeberischen Wertung und Absicht begrenzt werde, weil man sich dafür entschieden habe, dass Eltern behinderter Kinder eine solch gesteigerte Betreuungs- und Erziehungsleistung erbracht haben, dass jedenfalls mit Erreichen der Volljährigkeit ihrer Kinder ihre Verpflichtungen weitgehend begrenzt würden.

Der Kl beantragt (sinngemäß),

den Bescheid der Bekl vom 27. Juli 2007 und die Einspruchsentscheidung der Bekl vom 9. Oktober 2007 aufzuheben.

Die Bekl beantragt (sinngemäß),

die Klage abzuweisen.

Die Bekl ist der Auffassung, ihre Entscheidung sei nicht zu beanstanden, weil der Kl neben einmaligen monatlichen Besuchsfahrten zu der Einrichtung, in der sein Sohn untergebracht ist und die von seiner Wohnung nur 15 Kilometer entfernt liege, keine weiteren Aufwendungen geltend gemacht habe.

Der erkennende Senat hat mit Beschluss vom 17. Juni 2008 die Stadt C als Träger der Sozialhilfe zum Klageverfahren beigeladen. Die beigeladene Stadt (die Beigeladene) hat keinen Antrag gestellt.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist nicht begründet.

Die Bekl ist bei Erlass des angefochtenen Bescheids vom 27. Juli 2007 und der Einspruchsentscheidung vom 9. Oktober 2007 zu Recht davon ausgegangen, dass jedenfalls seit Mai 2007 die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine (teilweise) Abzweigung des zugunsten des Kl festgesetzten Kindergelds und für dessen Auszahlung an die Beigeladene vorgelegen haben. Die dort getroffene Entscheidung über die Abzweigung des Kindergelds in Höhe von 77 EUR monatlich lässt auch keine Fehler im Ermessensgebrauch der Bekl erkennen, die sich zum Nachteil des Kl ausgewirkt hätten.

1. Nach § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld an das Kind ausgezahlt werden (sog. Abzweigung), wenn der Kindergeldberechtigte ihm gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Dies gilt nach Satz 3 der genannten Vorschrift auch dann, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld. § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG bestimmt ergänzend, dass die Auszahlung auch an die Stelle erfolgen kann, die dem Kind Unterhalt gewährt.

2. In Anwendung dieser Regelung waren im Streitfall die Voraussetzungen für eine Abzweigung des Kindergelds an die Beigeladene gegeben, da der Kl seiner zivilrechtlichen Pflicht zur Übernahme der Kosten für die erforderliche vollstationäre Unterbringung seines Sohnes - abgesehen von der Zahlung von monatlich 26 EUR gemäß § 94 Abs. 2 SGB XII - nicht nachgekommen ist und die Beigeladene dem Sohn insoweit anstelle des Kl den notwendigen Unterhalt gewährt hat.

a) Nach §§ 1601 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) war der Kl seinem Sohn gegenüber zur Gewährung von Unterhalt verpflichtet, da sich der Sohn nicht selbst unterhalten konnte. Dieser Unterhaltsanspruch umfasste den gesamten Lebensbedarf ( § 1610 Abs. 2 BGB) und damit auch die krankheitsbedingten Mehrkosten, und zwar auch, soweit sie durch die Behinderung und die dauernde Pflegebedürftigkeit des Sohnes veranlasst waren.

b) Die solchermaßen begründete Pflicht des Kl zur Unterhaltsgewährung ist ungeachtet dessen bestehen geblieben, dass der Unterhaltsanspruch des Sohnes gegen den Kl gemäß § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB XII nur in Höhe von monatlich 26 EUR auf die Beigeladene übergegangen ist.

Dem Kl ist zwar darin beizupflichten, dass das BFH-Urteil in BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753 noch zur Gesetzeslage vor Änderung des § 91 Abs. 2 BSHG durch Art. 15 Nr. 17 des Sozialgesetzbuches - Neuntes Buch (SGB IX) - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - vom 19. Juni 2001 (BGBl. I 2001, 1046) ergangen ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der dort (unter II. 1. a.) vom BFH aufgestellte Rechtssatz, die Verpflichtung zur Unterhaltsgewährung bleibe auch dann bestehen, wenn der Anspruch gegen den nach bürgerlichem Recht Unterhaltspflichtigen nach § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG a.F. wegen unbilliger Härte nicht auf den Sozialträger übergegangen ist, nicht auf den Streitfall übertragen werden kann. Denn der BFH hat bereits in seinem Urteil vom 17. Februar 2004 - VIII R 58/03 (BFHE 206, 1 , BStBl II 2006, 130, unter 2. a.) darauf hingewiesen, dass die in § 91 Abs. 2 Satz 3 BSHG n.F. getroffene Regelung, wonach der Unterhaltsanspruch volljähriger Kinder, die Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Pflege in vollstationären Einrichtungen erhalten, nur in Höhe von monatlich 26 EUR übergeht, lediglich eine Einkommens- und Vermögensprüfung bei unterhaltspflichtigen Eltern entbehrlich machen sollte und nach der Systematik des Gesetzes diese Pauschalabgeltung erst dann zum Tragen kommen kann, wenn ein Unterhaltsanspruch dem Grunde nach bestehen bleibt. Ergänzend geht daneben auch das Schrifttum explizit davon aus, dass die in der Entscheidung des BFH in BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753 getroffenen Aussagen auch für das nachfolgende Recht gelten (Greite, Anmerkung in Finanzrundschau - FR- 2006, 896; Ettlich, Anmerkung in Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 2006, 889).

Daraus folgt, dass sich weder der gesetzlich angeordnete Ausschluss des Anspruchsübergangs auf den Sozialhilfeträger gemäß § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG a.F. noch die Beschränkung des Anspruchsübergangs auf den Betrag von monatlich 26 EUR gemäß § 91 Abs. 2 Satz 3 BSHG n.F. und - gleichlautend - gemäß § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB XII auf den Fortbestand der bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsverpflichtung des Kl als solche auszuwirken vermögen.

c) Der Kl ist dieser bestehen gebliebenen gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht i. S. des § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG nachgekommen. Denn er hat unstreitig die zum Lebensbedarf seines Sohnes gehörenden laufenden Kosten für die Unterbringung in der Pflegeeinrichtung nicht oder allenfalls in Höhe von 26 EUR monatlich übernommen. Der Kl ist damit objektiv und dauerhaft für den wesentlichen Unterhalt des Kindes nicht aufgekommen.

In diesem Zusammenhang ist es unerheblich, dass der Kl seinen Sohn wegen seiner eigenen körperlichen Gebrechen nicht mehr mit nach Hause nehmen und ihm infolgedessen keine umfassende persönliche Betreuung mehr ermöglichen konnte. Anders als der Kl offenbar meint, setzt eine Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 4 EStG gerade nicht voraus, dass der Kindergeldberechtigte seine Unterhaltspflicht schuldhaft nicht erfüllt oder gar den Straftatbestand der Unterhaltspflichtverletzung ( § 170b des Strafgesetzbuches) verwirklicht hätte (vgl. BFH-Urteil in BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753, unter II. 1. b., m.w.N.). Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus der vom Kl angeführten Kommentierung von Weber- Grellet (in Schmidt, EStG, 27. Aufl., § 74). Zwar wird dort (a.a.O., Rz. 2) eine "Verletzung der Unterhaltspflicht" als Prüfungsmaßstab für § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG bezeichnet; indessen übersieht der Kl, dass in der anschließenden spezielleren Kommentierung zu § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG (a.a.O., Rz. 4) ausdrücklich hervorgehoben wird, dass das Kindergeld an die unterhaltsgewährende Stelle "auch ohne Pflichtverletzung" (scil.: des Kindergeldberechtigten) ausgezahlt werden kann.

d) Der Auffassung des Kl, § 74 Abs. 1 EStG werde wegen eines vermeintlichen Vorrangs des Sozialrechts in Fällen vollstationärer Unterbringung behinderter Menschen "ausgehebelt" und sei daher in Sachverhalten wie jenen des Streitfalls außer Anwendung zu lassen, kann der erkennende Senat nicht beitreten. Für eine solche einschränkende Auslegung der Vorschrift besteht - wie der BFH bereits in seinem Urteil in BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753 (unter II. 1. c.) ausführlich dargelegt hat - keine Veranlassung.

Zwar hat der Gesetzgeber in § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB XII in der Tat die Inanspruchnahme der unterhaltspflichtigen Elternteile volljähriger behinderter Kinder von Seiten der Sozialhilfeträger auf die dort genannten Beträge von - wie im Streitfall - 26 EUR bzw. - in anderen Fällen - von weiteren 20 EUR begrenzt. Indessen steht die Abzweigung des Kindergelds hierzu in keinem Wertungswiderspruch, da der Zweck des § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB XII, einen Rückgriff der unterhaltleistenden öffentlichen Hand auf den Unterhaltsverpflichteten auszuschließen, durch sie nicht beeinträchtigt wird. Der Zweck des § 74 Abs. 1 EStG besteht darin, das Kindergeld an das Kind oder an eine anstelle des Kindergeldberechtigten Unterhalt leistende Person oder Einrichtung auszuzahlen, wenn dem Kindergeldberechtigten kein kindbedingter Aufwand durch den Unterhalt entsteht. Diese Regelung steht im Einklang mit dem Zweck des Kindergeldes, Eltern wegen ihrer Unterhaltsaufwendungen für ihre Kinder zu entlasten. Tragen Eltern aber keine oder nur geringe Kosten, ist eine derartige Entlastung nicht oder nur in entsprechend geringem Umfang erforderlich (vgl. BFH-Urteil vom 27. Oktober 2004 - VIII R 65/04, BFH/NV 2005, 538).

Infolgedessen kann in der Abzweigung des Kindergeldes nach § 74 Abs. 1 EStG keine - mit der Regelung des § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB XII nicht beabsichtigte - Inanspruchnahme des Unterhaltsverpflichteten aus dem Unterhaltsanspruch gesehen werden.

3. Die Entscheidung der Bekl, in Anwendung von § 74 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG das zugunsten des Kl festgesetzte Kindergeld in Höhe von monatlich 77 EUR an die Beigeladene abzuzweigen, lässt unter Beachtung des gerichtlichen Prüfungsmaßstabs (§ 102 der Finanzgerichtsordnung -FGO-) auch keine Fehler im Ermessensgebrauch zum Nachteil des Kl erkennen.

Die Bekl hatte bei der Ausübung des ihr in § 74 Abs. 1 EStG eingeräumten Ermessens den Zweck des Kindergeldes zu berücksichtigen ( § 5 der Abgabenordnung - AO -). Das Kindergeld ist zur steuerlichen Freistellung eines Einkommensbetrages in Höhe des Existenzminimums eines Kindes bestimmt und dient, soweit es dafür nicht erforderlich ist, der Förderung der Familie ( § 31 Sätze 1 und 2 EStG). Da das Kindergeld die Eltern wegen ihrer Unterhaltsleistungen steuerlich entlasten soll, waren bei der der Bekl obliegenden Prüfung, ob und inwieweit das Kindergeld abzuzweigen war, auch geringe Unterhaltsleistungen des kindergeldberechtigten Kl mit einzubeziehen.

Zur Vorbereitung ihrer Entscheidung über das Abzweigungsbegehren der Beigeladenen hat die Bekl dem Kl ausreichend Gelegenheit gegeben darzulegen, in welchem Umfang er durch die Betreuung seines vollstationär untergebrachten Sohnes tatsächlich finanziell belastet war. Der Kl hat auf diese Anfrage hin angegeben, seinen Sohn im Durchschnitt einmal im Monat in dem 15 Kilometer entfernten Pflegeheim zu besuchen und daneben regelmäßig den von ihm monatlich geforderten Betrag gemäß § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB XII aufbringen zu müssen. Dass die Bekl den daraus erwachsenden Betreuungsunterhalt des Kl auf keinen höheren Betrag als 77 EUR monatlich geschätzt hat ( § 162 Abs. 1 AO), begegnet - auch in Anbetracht dessen, dass der BFH in seinem Urteil in BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753 (unter II. 3.) eine pauschale Berücksichtigung derartiger Aufwendungen ohne detaillierte Bewertung und eine daraus folgende hälftige Abzweigung des Kindergelds an den Sozialhilfeträger für zulässig erachtet hat - nach Überzeugung des erkennenden Senats keinen durchgreifenden Bedenken. Ein höherer finanzieller Aufwand als derjenige, den der Kl noch vollständig aus dem ihm verbleibenden monatlichen Kindergeld in Höhe von 77 EUR bestreiten kann, ist dem Kl im Übrigen auch nach seinen eigenen Angaben objektiv nicht entstanden. Es bedarf in diesem Zusammenhang keiner Entscheidung, ob unter den gegebenen Umständen auch die Abzweigung eines höheren Kindergeldbetrages zugunsten der Beigeladenen noch ermessensgerecht gewesen wäre (vgl. dazu BFH-Urteil vom 17. November 2004 - VIII R 30/04, BFH/NV 2005, 692, unter II. 2.).

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig, da die Beigeladene keine Sachanträge gestellt und das Verfahren auch nicht wesentlich gefördert hat (vgl. Stapperfend in Gräber, FGO, 6. Aufl., § 139 Rz. 138).

5. Der Senat hielt es für angezeigt, in Anbetracht des zwischen den Beteiligten unstreitigen Sachstands und der infolge des BFH-Urteils in BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753 geklärten Rechtslage sowie wegen des mit einer mündlichen Verhandlung verbundenen erheblichen Kostenaufwands für alle Beteiligten durch Gerichtsbescheid zu entscheiden ( § 90a Abs. 1 FGO).

Ende der Entscheidung

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