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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht Berlin-Brandenburg
Urteil verkündet am 12.02.2009
Aktenzeichen: 10 K 10563/06 B
Rechtsgebiete: EStG, AO, EWG-VO Nr. 1408/1971, EWG-VO Nr. 1481/71


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 3
EStG § 62 Abs. 1
EStG § 65 Abs. 1
EStG § 66 Abs. 1
EStG § 70 Abs. 2
AO § 90 Abs. 2
EWG-VO Nr. 1408/1971 Art. 74
EWG-VO Nr. 1481/71 Art. 13
EWG-VO Nr. 1481/71 Art. 73
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
In dem Rechtssreit

...

hat das Finanzgericht Berlin-Brandenburg - 10. Senat -

aufgrund mündlicher Verhandlung vom 12. Februar 2009

durch

den Vizepräsidenten des Finanzgerichts ...,

die Richterin am Finanzgericht ...,

den Richter am Finanzgericht ... sowie

die ehrenamtlichen Richter ... und ...

für Recht erkannt:

Tenor:

Der Bescheid der Beklagten vom 4. Juli 2006 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19. Oktober 2006 wird aufgehoben.

Die Kosten des Verfahrens werden dem Beklagten auferlegt.

Tatbestand:

Die Klägerin, eine polnische Staatsangehörige, lebt seit Februar 2002 mit ihrem am 16.11.1990 geborenen Sohn B in Berlin. Der Kindesvater, von dem die Klägerin nach ihren Angaben seit der Schwangerschaft getrennt lebt, wohnt in Polen. Im Hinblick auf ihre zunächst ausgeübte unselbstständige Erwerbstätigkeit erhielt die Klägerin antragsgemäß Kindergeld in gesetzlicher Höhe gezahlt. Nachdem sie arbeitslos geworden war, bezog sie bis Juni 2006 Arbeitslosengeld.

Mit Bescheid vom 12.06.2006 bewilligte das JobCenter C der Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab 01.07.2006 unter Einschluss des Bedarfs ihres Sohnes in Höhe von 922,68 EUR. Dies nahm die Beklagte zum Anlass, die Kindergeldfestsetzung mit Bescheid vom 04.07.2006 gemäß § 70 Abs. 2 Einkommensteuergesetz - EStG - dahin zu ändern, dass ab Juli 2006 Kindergeld in Höhe von monatlich 77,00 EUR bewilligt wurde. Zur Begründung führte sie aus, dass die nationalen Ansprüche zweier Staaten aufeinander träfen, nämlich der Anspruch der Klägerin auf Kindergeld in Deutschland und der Anspruch des anderen Elternteils aufgrund seines Wohnsitzes in Polen. Eine vorrangige Leistungspflicht in Deutschland lasse sich nicht aus der EG-VO Nr. 1408/71 in Verbindung mit der speziellen Konkurrenzregelung des Art. 10 EWG -DVO Nr. 574/72 herleiten, weil die Klägerin mangels eigener Sozialversicherungspflicht ebenso wie der nach ihren Angaben nicht berufstätige andere Elternteil nicht unter diese Vorschriften fielen. Wegen des Kindergeldanspruchs in Polen sei der inländische Kindergeldanspruch nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen. Diese Regelung sei jedoch nicht mit dem Sinn und Zweck der gemeinschaftlichen Konkurrenzvorschriften vereinbar.

Folglich sei im vorliegenden Fall in Anwendung von Art. 12 Abs. 2 VO i.V.m. Art. 7 Abs. 1 DVO hälftiges Kindergeld zu zahlen.

Zur Begründung des hiergegen eingelegten Einspruchs führte die Klägerin aus, niemand außer ihr erhalte für ihren Sohn Kindergeld, auch nicht der Kindesvater in Polen. Zu ihm habe sie keinen Kontakt, soweit sie es wisse, arbeite er nicht. Auskünfte von ihm erhalte sie nicht. Sie habe auch das alleinige Sorgerecht. Ergänzend brachte die Klägerin eine Bescheinigung des städtischen Sozialhilfezentrums in D vom 09.10.2006 bei, wonach der Kindesvater eine ständige Beihilfe in Höhe von 105,60 PLN monatlich bezieht, jedoch keine Familienleistungen vom dortigen Sozialhilfezentrum. Mit Einspruchsentscheidung vom 19.10.2006 wies die Beklagte den Einspruch mit einer die europarechtliche Rechtslage vertiefenden Begründung zurück. Trotz fehlender Einschlägigkeit der Regelungen der VO und der DVO sei bei zwei Familienleistungen, die sich nach nationalen Rechtsvorschriften gegenseitig ausschließen würden, nach Art. 7 Abs. 1 DVO gleichwohl deutsches Kindergeld zu zahlen, jedoch nur zur Hälfte.

Zur Begründung der dagegen erhobenen Klage macht die Klägerin geltend, sie könne das Kindergeld in voller Höhe von 154,00 EUR beanspruchen. Die Kürzung des Kindergelds verstoße gegen das europarechtliche Prinzip der Günstigkeit. Außerdem ergebe sich der Kindergeldanspruch aus Art. 74 VO, weil Arbeitslose das Kindergeld für im anderen Mitgliedstaat lebende Familienangehörige im Inland gezahlt erhielten. Sie habe ihre Mitwirkungspflicht bei der Klärung der Frage, ob der Kindesvater in Polen erwerbstätig sei, erfüllt.

Auf diesen habe sie keinen weiteren Einfluss, zumal er alkoholkrank sei und zwischen Vater und Sohn seit drei Jahren ebenfalls kein Kontakt mehr bestehe.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 4. Juli 2006 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19. Oktober 2006 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, dass die Klägerin volles deutsches Kindergeld nur erhalten könne, wenn die polnische Verbindungsstelle auf dem hierfür vorgesehenen Formular E 411 bestätigt, dass der Kindesvater keinen Anspruch auf polnische Familienbeihilfe habe.

Hingegen sei das von der Klägerin bezogene Arbeitslosengeld II keine Leistung der Arbeitslosenversicherung, so dass der Anwendungsbereich der EWG-VO Nr. 1408/71 nicht eröffnet sei. Nach dem nunmehr vorliegenden Schreiben der polnischen Verbindungsstelle vom 09.08.2007 habe auch noch nicht geklärt werden können, ob der Kindesvater in Polen erwerbstätig sei. Weder er noch die Klägerin hätten schließlich einen Antrag auf Familienleistungen gestellt.

Die Kindergeldakte (1 Band) hat zur Entscheidung vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 40 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung - FGO - zulässig. Da die streitigen Bescheide die - teilweise - Aufhebung der Festsetzung des Kindergelds gemäß § 70 Abs. 2 EStG zum Gegenstand haben, genügt dem Rechtsschutzinteresse der Klägerin der bloße Aufhebungsantrag, weil bei dessen Erfolg die zuvor innegehabte Rechtsposition der Festsetzung von Kindergeld in voller gesetzlicher Höhe als Dauerverwaltungsakt fortbesteht, ohne dass es wie im Fall der erstmaligen oder der erneuten Festsetzung von Kindergeld eines Verpflichtungsantrags auf Bewilligung von Kindergeld in dem erstrebten Umfang bedarf (vgl. Sächsisches Finanzgericht Urteil vom 26.06.2006 1 K 1565/04 (Kg)). Ein Verpflichtungsausspruch eröffnet allerdings die Möglichkeit, die Familienkasse zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verpflichten, sofern das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen nicht durch das Gericht, sondern noch durch die Beklagte spruchreif gemacht werden muss (vgl. zu dieser Möglichkeit Bundesfinanzhof - BFH -, Urteil vom 02.06.2005 III R 66/04, Bundessteuerblatt - BStBl. - II 2006, 184; Urteil des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 11.06.2008 5 K 2208/07; Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 02.01.2008 14 K 2546/07). Demgegenüber könnte sich das Gericht im Fall bloßer Anfechtung der streitigen Bescheide auf die Feststellung gegebenenfalls eines zur Rechtswidrigkeit führenden Grundes beschränken, ohne dass die Sach- und Rechtslage ausreichend geklärt wird.

Jedenfalls für den vorliegenden Fall ist indessen nicht ersichtlich, warum das bloße Aufhebungsbegehren, das eine Prüfung der Sach- und Rechtslage ermöglicht, wie diese sich bis zum Zeitpunkt der der Einspruchsentscheidung vom 19.10.2006 darstellt, nur unzureichenden Rechtsschutz bieten sollte.

Gemäß § 70 Absatz 2 EStG ist die Festsetzung des Kindergeldes, soweit in den Verhältnissen, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sind, Änderungen eintreten, mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben oder zu ändern. Den Nachweis dafür, dass die für eine Änderung bzw. Aufhebung eines begünstigenden Bescheids erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen vorliegen, hat - auch in Verfahren betreffend Kindergeld - regelmäßig die Behörde zu führen (vgl. BFH Urteil vom 19.05.1999 I R 140/97, BStBl. II 1998,559; Finanzgericht Rheinland-Pfalz Urteil vom 29.11.2007 5 K 2580/06; Finanzgericht des Landes Brandenburg Urteil vom 05.12. 2001 6 K 289/98). Der Beklagten obliegt damit der Nachweis, dass und zu welchem Zeitpunkt in den rechtserheblichen Verhältnissen Änderungen eingetreten sind. Die Unerweislichkeit von entscheidungserheblichen Tatsachen geht nur dann nicht zulasten der Familienkasse, wenn der Kindergeldberechtigte seiner Mitwirkungspflicht bei der Aufklärung von anspruchsbegründenden Umständen in seiner persönlichen Sphäre (vgl. auch § 68 Abs. 1 S. 1 EStG) nicht oder nicht ausreichend nachkommt.

Hiervon ausgehend haben die streitigen Aufhebungsbescheide in § 70 Abs. 2 EStG keine tragfähige Grundlage. Die Festsetzung des Kindergeldes in voller Höhe von 154,00 EUR bis Juni 2006 beruhte auf §§ 32 Absatz 3, 62 Abs. 1 Nr. 1, 66 Abs. 1 EStG. Die Zahlung des Kindergelds zu jener Zeit war nicht gemäß § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen. Denn diese Konkurrenzvorschrift, nach der Kindergeld nicht für Kinder gezahlt wird, für die im Ausland dem Kindergeld vergleichbare Leistungen gewährt werden, war wegen des der Klägerin bis Juni 2006 gewährten Arbeitslosengeldes nach dem Sozialgesetzbuch III und damit des Bezuges von Leistungen aus ihrer Arbeitslosenversicherung mit der daraus folgenden vorrangigen Geltung von Art. 74 EWG-VO Nr. 1408/1971 nicht anwendbar (vgl. Beschluss des Finanzgerichts - FG - Hamburg vom 15.01.2008 3K 118/07). Da die Klägerin jedoch ab Juli 2006 in den Bezug von Arbeitslosengeld II wechselte und es sich dabei nicht um eine Entgeltersatzleistung wie beim Arbeitslosengeld gemäß §§ 116 ff SGB III handelt, sondern um eine Leistung der Grundsicherung für Arbeitsuchende, die nach §§ 19 ff. SGB II aus Steuermitteln erbracht und nicht aus der Arbeitslosenversicherung finanziert wird, unterfällt sie ab Juli 2006 nicht mehr dem Regelungsbereich der EWG-VO Nr. 1481/71 (vgl. FG Hamburg a.a.O.).

Dem geltend gemachten Anspruch auf Kindergeld in voller gesetzlicher Höhe steht auch kein nach Art. 13 Abs. 1 und 2 sowie Art 73 EWG-VO Nr. 1481/71 vorrangiger Anspruch auf Familienleistungen des Kindesvaters in Polen entgegen. Maßgeblicher Zeitraum, auf den sich die Beurteilung dieser Frage zu erstrecken hat, ist vorliegend allein die Zeit von Juli 2006, d.h. vom Zeitpunkt des Erlasses des Ausgangsbescheides vom 12.06.2006 mit der darin für die Zeit ab Juli 2006 bestimmten Teilaufhebung, bis zur Einspruchsentscheidung vom 19.10.2006. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs beschränkt sich der Regelungsgehalt eines Bescheides, durch den die Festsetzung von Kindergeld für die Zukunft aufgehoben oder abgelehnt wird, auf die Regelung des Anspruchs auf Kindergeld für den Monat, in dem der Bescheid bekannt gegeben wird (vgl. BFH, Urteil vom 25.07.2001 VI R 164/98, BFHE 196, 257, BStBl. II 2002, 88). Wird gegen diesen Bescheid Einspruch eingelegt, verlängert sich die Geltungsdauer des Bescheides bis zur Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung, weil im Vorverfahren die Sach- und Rechtslage noch einmal umfassend überprüft wird (§ 367 Abs. 2 Satz 1 Abgabenordnung - AO -) und der daraufhin angegriffene Bescheid gemäß § 44 Abs. 2 FGO in der Gestalt zum Gegenstand des Verfahrens wird, die er durch die Einspruchsentscheidung gefunden hat (vgl. FG Düsseldorf, Urteil vom 23.01.2007 10 K 5107/05 Kg, EFG 2007, 600; Hessisches Finanzgericht, Urteil vom 23.05.2007 3K 3143/06).

Anhaltspunkte dafür, dass der Kindesvater in Polen in der fraglichen Zeit im Sinne von Art. 13 Abs. 2 und 73 EWG-VO Nr. 1481/71 selbstständig oder unselbstständig erwerbstätig gewesen ist, gibt es nicht. In den angefochtenen Bescheiden verneint die Beklagte dies selbst und macht es zur Rechtsgrundlage ihrer weiteren Festsetzung von hälftigem Kindergeld. Erstmals im weiteren Verlauf des Klageverfahren hat sich die Beklagte auf den Standpunkt gestellt, die Frage der Erwerbstätigkeit des Kindesvaters sei ungeklärt, weil die polnische Verbindungsstelle unter dem 09.08.2007 schriftlich mitgeteilt habe, dass die Klägerin und der Kindesvater trotz Aufforderung die zum Ausfüllen des Formulars E 411 notwendigen Unterlagen nicht vorgelegt und auch keinen Antrag auf Familienleistungen gestellt hätten. Diese Auffassung hat die Beklagte gestützt auf die weitere Erklärung der Verbindungsstelle vom 31.01.2008 wiederholt, weil diese in Bezug auf den Kindesvater keine Angaben zu dessen möglicher Erwerbstätigkeit in Polen enthalte und im übrigen nur bescheinige, dass er in der Zeit vom 01.05.2004 bis laufend keinen Antrag auf Familienleistungen gestellt habe.

Nach Auffassung des Gerichts nimmt die Beklagte allein mit Blick auf diese Auskünfte der polnischen Verbindungsstelle jedoch unzutreffend an, dass die Frage der Erwerbstätigkeit des Kindesvaters weiterhin klärungsbedürftig sei. Denn aus der Kindergeldakte wird ersichtlich, dass die Klägerin mit Schreiben vom 17.10.2006 unmittelbar vor Erlass der Einspruchsentscheidung vom 19.10.2006 eine Bescheinigung des städtischen Sozialhilfezentrums von D vom 09.10.2006 im Original und in deutscher Übersetzung vorgelegt hat, aus der sich ergibt, dass der dort lebende Kindesvater eine ständige Beihilfe in Höhe von 105,60 PLN monatlich bezieht. Dass es sich dabei um Arbeitslohn handelt und nicht um eine Sozialhilfeleistung, hat die Beklagte selbst nicht behauptet. Auf die fehlende förmliche Auskunft der Verbindungsstelle mit Vordruckerklärung 411 kommt es deshalb nach Auffassung des Gerichts nicht an, zumal die Familienkasse bis zum Erlass der Einspruchsentscheidung von sich aus nicht das Geringste unternommen hat, um auf diesem Weg eine Klärung herbeizuführen.

Wird folglich die inländische Konkurrenzvorschrift des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG unter dem Gesichtspunkt einer Erwerbstätigkeit nicht durch die Regelungen der EWG-VO Nr. 1408/71 sowie der EWG-VO Nr. 574/72 verdrängt, wäre der inländische Anspruch auf volles Kindergeld einkommensteuerrechtlich nur ausgeschlossen, wenn und soweit der Klägerin oder dem Kindesvater in Polen dem Kindergeld vergleichbare Leistungen gewährt wurden oder bei entsprechender Antragstellung zu gewähren gewesen wären. Die Beklagte hält diese Frage ebenfalls weiterhin für klärungsbedürftig, weil ein entsprechender Antrag in Polen nach den Auskünften der polnischen Verbindungsstelle nicht gestellt worden sei und deshalb auch das Fehlen einer Anspruchskonkurrenz nicht zu Gunsten der Klägerin festgestellt sei.

Hierzu geht das Gericht von folgendem aus: Ungeachtet der die Beklagte für das Vorliegen des Änderungstatbestandes gemäß § 70 Abs. 2 EStG treffenden Feststellungslast unterliegt die Klägerin hinsichtlich des aufzuklärenden Auslandssachverhalts einer über die allgemeine prozessuale Mitwirkungspflicht des § 76 Abs. 1 Satz 2 und 3 FGO hinausgehenden erhöhten Mitwirkungspflicht gemäß § 90 Abs. 2 AO (vgl. FG Baden- Württemberg, Urteil vom 26.03.2008 2 K. 110/07). Würde folglich die Frage des Bestehens eines Anspruchs auf Familienleistungen in Polen tatsächlich entscheidend nur davon abhängen, dass die Klägerin und/oder der Kindesvater in Polen einen entsprechenden Antrag unter Beifügung der hierfür benötigten Auskünfte und Unterlagen stellen, könnte sich die Klägerin nicht mit Erfolg auf die bloße eigene Einschätzung berufen, dass dem inländischen Kindergeldanspruch kein Anspruch auf Familienleistungen in Polen entgegenstehe. Auch könnte sie auf einen potenziellen Anspruch nicht entscheidungserheblich verzichten.

So liegt der Fall indessen hier nicht. Dem Gericht ist ebenso wie der Beklagten bekannt, dass in Polen auf der Grundlage des Gesetzes über Familienleistungen vom 28.11.2003 (GBl. 2003, Nr. 228 Pos. 2255) mit Wirkung ab 01.05. 2004 Eltern oder einem Elternteil eine Familienbeihilfe gezahlt wird, die dem Zweck einer teilweisen Deckung der Aufwendungen für den Kinderunterhalt dient und die damit dem deutschen Kindergeld vergleichbar ist. Für den hier zu beurteilenden Zeitraums von Juli bis Oktober 2006 bestand ein Anspruch auf polnisches Familiengeld jedoch nur, wenn das Netto-Einkommen pro Familienmitglied nicht höher war als 504 PLN (vgl. MISSOC, Gegenseitiges Informationssystem der Europäischen Kommission zur sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, im Europäischen Wirtschaftsraum und in der Schweiz, Vergleichende Tabellen, IX. Familienleistungen, Teil 6: u.a. Polen , Stand am 01.01.2007). Gleichgültig ob im Fall der Klägerin von einer zwei- oder dreiköpfigen Familie auszugehen wäre (Einkommenssituation der Klägerin und ihres Sohnes oder ggf. auch einschließlich des in Polen lebenden Kindesvaters), wäre im vorliegenden Fall die Einkommensgrenze zweifellos überschritten. Nach dem Stand vom 30.09.2006 betrug der Umrechnungskurs für 1 Euro 3,971 PLN. Bei diesem Kurs lag die familiengeldschädliche Einkommensgrenze für drei Personen bei 380,73 EUR und für zwei Personen bei 253,82 EUR. Die Klägerin aber bezog ab Juli 2006 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld gemäß SGB II) in Höhe von monatlich 922,68 EUR, wobei als Einkommen Kindergeld in Höhe von 154,00 EUR angerechnet wurde. Hinzu käme ggf. noch die dem Kindesvater gezahlte Sozialhilfe in Höhe von umgerechnet 26,59 EUR. Sollte es für den hier streitigen Zeitraum gemäß Art. 3 Abs. 2 des polnischen Gesetzes über Familienleistungen auf das durchschnittliche monatliche Einkommen der Familienmitglieder in den Kalenderjahren 2004 und 2005 ankommen (bei Maßgeblichkeit des Kalenderjahres, das dem jeweiligen Beihilfezeitraum vom 01. September eines Jahres bis zum 31. August des folgenden Jahres vorangeht), ist wegen der früheren Erwerbstätigkeit der Klägerin und des nachfolgenden regelmäßigem Bezugs von Entgeltersatzleistungen (z.T. zuzüglich Arbeitslosengeld II) ebenfalls von einer Überschreitung der familiengeldschädlichen Einkommensgrenze auszugehen. Dass Arbeitslosengeld II als Sozialleistung und damit steuerfreie Einnahme wiederum als Einkommen zu verstehen ist, erscheint nicht problematisch (ebenfalls bejahend FG Düsseldorf, Urteil vom 22.01.2008 10 K 1462/07 Kg; vgl. auch Wüllenkemper, Anmerkung zum Urteil des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 11.06.2008 5 K 2208/07, EFG 2009, 194, 197).

Führt damit allein schon die Einkommenshöhe zum Ausschluss eines Anspruchs auf Familiengeld in Polen, kommt es auf die Klärung weiterer denkbarer Ausschlussgründe wie unter anderem das fehlende Zusammenleben des Kindesvaters mit der Klägerin und dem Sohn, das fehlende Sorgerecht des Kindesvaters sowie das von der Klägerin geltend gemachte vollständige Fehlen von Kontakten zum Kindesvater zur fraglichen Zeit nicht weiter an.

Die Beklagte kann nicht mit Erfolg einwenden, dass sie das begehrte volle Kindergeld nur bei einer für sie verbindlichen Feststellung im Verfahren der Bescheinigung mit dem Vordruck E 411 gewähren kann. Denn damit wird nur der Weg beschrieben, der regelmäßig zur Klärung der Sache und Rechtslage führen wird, den die Beklagte im vorliegenden Fall aber bis zu dem für die Rechtmäßigkeit des Aufhebungsbescheides maßgeblichen Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung gar nicht beschritten hat. Die polnische Verbindungsstelle hat zwar im Verlauf des Klageverfahrens auf spätere Anfragen der Beklagten erklärt, die Klägerin und der Kindesvater hätten keinen Antrag auf Familienleistungen gestellt und keine zum Ausfüllen des Formulars E 411 notwendigen Unterlagen vorgelegt, jedoch belegt allein dies keine die Aufhebung der vorherigen Kindergeldfestsetzung rechtfertigenden Änderungen gemäß § 70 Abs. 2 EStG zum hier zu beurteilenden Zeitpunkt.

Ausweislich der Kindergeldakte hatte die Beklagte Kenntnis von den wirtschaftlichen Verhältnissen der Klägerin (Erwerbstätigkeit, nachfolgende Krankheit, Bezug von Entgeltersatzleistungen sowie nachfolgend Arbeitslosengeld II). Sie hat diese jedoch ausweislich der zur Gerichtsakte gelangten Auskünfte der polnischen Verbindungsstelle nicht dorthin mitgeteilt und ebenso wenig anhand des ausländischen Rechts und gegebenenfalls anderer aussagekräftiger Bescheinigungen wie hier der von der Klägerin selbst beigebrachten Bescheinigung des Sozialhilfezentrums D vom 09.10.2006 eine eigene Prüfung unternommen, ob nach den Einkommensverhältnissen überhaupt noch ein Anspruch auf Familienleistung in Polen bestehen konnte. Es kann dahin stehen, ob die Beklagte gegebenenfalls zur Verhinderung einer missbräuchlichen Kumulierung von Familienleistungen darauf bestehen kann, dass auch im Ausland ein Antrag auf Bewilligung von dem Kindergeld vergleichbaren Leistungen gestellt wird. Denn jedenfalls ist eine solche Missbrauchsgefahr vorliegend nicht ersichtlich. Die Klägerin, die nach der Geburt ihres Sohnes vorübergehend mit einem deutschen Staatsangehörigen verheiratet war, hat glaubhaft dargelegt, dass zwischen ihr und dem Kindesvater schon seit der Zeit der Schwangerschaft keine persönliche Verbindung mehr besteht und das Familienband zwischen dem Kindesvater und seinem Sohn ebenfalls seit mehreren Jahren gerissen ist. Es unter diesen Umständen als entscheidungserheblich anzusehen, dass der der Familie nachvollziehbar völlig entfremdete Kindesvater es bislang unterlassen hat, zur Klärung der Anspruchssituation der Klägerin einen Antrag auf Bewilligung von Familienleistungen zu stellen, erscheint auch vom Ergebnis her mit der Rechtsordnung nicht mehr sinnvoll vereinbar (vgl. hierzu auch Beschluss des BFH zur Anrufung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH ) vom 30.10.2008 III R 92/07 zur Klärung gemeinschaftsrechtlicher Fragen, welche die Konkurrenz von Ansprüchen auf Kindergeld im Beschäftigungsland des Vaters und im Wohnland der Mutter betreffen).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung - FGO -. Das Urteil ist nach Maßgabe des § 151 Abs. 3 FGO i.V.m. § 708 Nr. 10 und 11 sowie § 711 Zivilprozessordnung - ZPO - nur wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil keiner der in § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO bezeichneten Gründe vorliegt.

Ende der Entscheidung

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