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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht Berlin
Beschluss verkündet am 28.05.2001
Aktenzeichen: 9 K 9312/99
Rechtsgebiete: EStG, EWGVtr


Vorschriften:

EWGVtr Art. 52
EStG § 50a Abs. 4 Satz 1 Nr. 1
EStG § 50a Abs. 4 Satz 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tatbestand

Der alleinstehende Kläger ist niederländischer Staatsangehöriger und hatte im Streitjahr 1996 in der Bundesrepublik Deutschland weder seinen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt inne (vgl. §§ 8 und 9 der Abgabenordnung - AO - 1977). Am 25. April 1996 hatte er einen Auftritt als selbständig tätiger Schlagzeuger bei einem Radiosender in Berlin. Der Radiosender behielt von dem vereinbarten Honorar (6.007,55 DM) einen Anteil 25 v.H. (= 1.501,89 DM) als pauschale Einkommensteuer sowie zusätzlich den Solidaritätszuschlag hierauf (= 112,64 DM) ein und führte diese Beträge an das örtlich zuständige Finanzamt ab. Er berief sich bei seinem Vorgehen auf § 50a Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 EStG 1996 sowie auf § 2 Nr. 1 i.V. mit § 3 Abs. 1 Nr. 6 des Solidaritätszuschlaggesetzes (SolZG) 1995. Der Kläger erzielte im Streitjahr 1996 außerdem noch Einkünfte in Höhe von insgesamt mehr als 12.000,00 DM in seinem Wohnsitzstaat Niederlande und in Belgien (nach Abzug von Werbungskosten bzw. Betriebsausgaben; die Bruttoeinnahmen betrugen rund 55.000,00 DM).

Am 4. September 1998 reichte der Kläger beim Beklagten als dem hierfür örtlich zuständigen Finanzamt in Berlin eine Einkommensteuererklärung nebst Einnahme- Überschussrechnung nach § 4 Abs. 3 EStG 1996 ein, wonach der Gewinn aus seiner selbständigen Tätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland nach Abzug von näher spezifizierten Betriebsausgaben (968,00 DM) 5.039,55 DM betrage. Der Beklagte prüfte die Möglichkeit einer sog. Antragsveranlagung nach § 1 Abs. 3 EStG 1996. Diese Vorschrift war aber wegen Überschreitung der Grenze für die weiteren ausländischen Einkünfte (Obergrenze: 12.000,00 DM Nettoeinkünfte, vgl. Heinicke, in: Schmidt, EStG, 20. Aufl., § 1 Rz. 55 m.w.N.) nicht anwendbar. Er lehnte deshalb eine Einkommensteuerveranlagung mit Bescheid vom 3. Dezember 1998 unter gleichzeitigem Hinweis auf § 50 Abs. 5 Satz 1 EStG 1996 ab. Der Einspruch, den der Kläger auf eine Verletzung des EGV stützte, hatte keinen Erfolg.

Mit seiner Klage macht der Kläger geltend, daß er nach der sog. "Biehl-Entscheidung" des EuGH einen Anspruch auf Durchführung einer Einkommensteuerveranlagung habe, weil ein (unbeschränkt steuerpflichtiger) Inländer in vergleichbarer Situation wegen des in die Einkommensteuer-Grundtabelle (§ 32a Abs. 4 EStG 1996) eingearbeiteten sog. Grundfreibetrags in Höhe von 12.095,00 DM (§ 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG 1996) keine Ertragsteuern entrichten müsse (Urteil vom 8. Mai 1990 Rs C 175/88, Deutsches Steuerrecht - DStR - 1991, 454). Bei der demnach durchzuführenden Veranlagung sei der durch § 50 Abs. 3 Satz 2 EStG 1996 angeordnete Mindeststeuersatz von 25 v.H. für sog. beschränkt Steuerpflichtige wie den Kläger wegen Verstoßes gegen die Niederlassungsfreiheit nach Art. 52 EGV a.F. (EuGH-Urteil vom 27. Juni 1996 Rs. C 107/94, DStR 1996, 1085, "Asscher-Entscheidung") nicht anwendbar. Schließlich habe bereits der Bundesfinanzhof - BFH - in einem Verfahren betr. die Aussetzung der Vollziehung die Vereinbarkeit des § 50 Abs. 3 Satz 2 EStG 1998 mit dem Gemeinschaftsrecht als "ernstlich zweifelhaft" angesehen (Beschluss vom 5. Februar 2001 I B 140/00, DStR 2001, 485).

Der Beklagte (= Finanzamt - FA -) verweist darauf, daß der Gesetzgeber unstreitig durch verschiedene Änderungen des EStG auf die Rechtsprechung des EuGH reagiert hat. So ist im Rahmen des Jahressteuergesetzes 1995 § 1 Abs. 3 und § 50 Abs. 5 Satz 4 Nr. 2 EStG novelliert und damit der "Biehl-Entscheidung" sowie dem EuGH-Urteil vom 14. Februar 1995 zur Arbeitnehmerbesteuerung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten (Rs C 279/93, DStR 1995, 326, "Schumackker") Rechnung getragen worden. Im Rahmen des Jahressteuergesetzes 1996 ist § 50 Abs. 5 Satz 4 Nr. 3 EStG 1997 mit Rückwirkung ab 1. Januar 1996 (§ 52 Abs. 3 Satz 2 EStG 1997) eingeführt worden, der unter bestimmten Voraussetzungen eine Teilerstattung der Steuerabzugsbeträge auch für selbständig Tätige vorsieht. Bei einer uneingeschränkten Anwendung der Einkommensteuer-Grundtabelle entginge der Kläger der Progression des deutschen Einkommensteuertarifs, obwohl die durch das Welteinkommen manifestierte Leistungsfähigkeit die Anwendung eines höheren Einkommensteuertarifs gebieten würde. Der Kläger würde auf diese Weise gegenüber unbeschränkt steuerpflichtigen Inländern bevorzugt, bei denen das Welteinkommen bei der Bemessung des Steuersatzes herangezogen werde (Progressionsvorbehalt, § 32b Abs. 1 Nr. 3 EStG 1996).

Gründe

Der Senat setzt das Verfahren aus und legt dem EuGH gemäß Art. 234 EGV n.F. die o.g. entscheidungserhebliche Frage zur Auslegung des Art. 52 EGV a.F. (= Art. 43 EGV n.F.) vor.

1. Zur Rechtslage nach deutschem Recht

a.) Nach § 50a Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 i.V. mit Satz 2 EStG 1996 wird die Einkommensteuer bei beschränkt Steuerpflichtigen wie dem Kläger (vgl. § 49 Abs. 1 Nr. 3 EStG 1996) im Wege des Steuerabzugs erhoben und beträgt 25 v.H. der Einnahmen. Der Einnahmebegriff des § 50a Abs. 4 Satz 2 EStG 1996 richtet sich nach § 8 Abs. 1 EStG (vgl. BFH-Urteil vom 5. November 1992 I R 41/92, Sammlung der amtlich veröffentlichten Entscheidungen des BFH - BFHE - 170, 204, Bundessteuerblatt - BStBl - II 1993, 407, unter 6. a.m.w.N.). Einnahmen sind danach alle Güter, die in Geld oder Geldeswert bestehen und dem Steuerpflichtigen im Rahmen der jeweiligen Einkunftsart zufließen. Abzüge, z.B. für Betriebsausgaben, Werbungskosten, Sonderausgaben und Steuern, sind im Rahmen des § 50a Abs. 4 Satz 2 EStG 1996 nicht zulässig (vgl. auch die gesetzgeberische Klarstellung in § 50a Abs. 4 Sätze 3 und 4 EStG 1997). Mit dem Steuerabzug durch den Schuldner der Vergütung (§ 50a Abs. 5 Satz 2 EStG 1996) gilt die Einkommensteuer grundsätzlich als abgegolten; ein Erstattungsverfahren ist nicht vorgesehen (§ 50 Abs. 5 Satz 1 EStG 1996): Der gesetzliche Ausnahmefall einer Herabsetzung der einbehaltenen Ertragsteuern (§ 50 Abs. 5 Satz 4 Nr. 3 Satz 2 EStG 1997 (rückwirkend anwendbar auf Vergütungen, die nach dem 31. Dezember 1995 zufließen, vgl. § 52 Abs. 31 Satz 2 EStG 1997): Betriebsausgaben oder Werbungskosten sind höher als die Hälfte der Einnahmen) ist im Streitfall nicht gegeben. Ein Veranlagungsverfahren ist ebenfalls nicht durchführbar, weil die ausländischen (Netto-)Einkünfte im Kalenderjahr mehr als 12.000,00 DM betragen (s.o.).

Zur Vermeidung einer eventuellen Überbesteuerung hält der Gesetzgeber Billigkeitsmaßnahmen nach § 163 AO 1977 für ausreichend (vgl. dazu BFH-Beschluß vom 9. Juni 1993 I B 12/93, Sammlung der amtlich nicht veröffentlichten Entscheidungen des BFH - BFH/NV - 1993, 726; Tz. 4.2 i.V. mit Tz. 2.5 des Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen - BMF - vom 23. Januar 1996 IV B 4 - S-2303 - 14/96, BStBl I 1996, 89; Schauhoff, Internationales Steuerrecht - IStR - 1997, 5). Außerdem verweist er auf die Möglichkeit, nach § 50 Abs. 7 EStG 1996 die Einkommensteuer bei beschränkt Steuerpflichtigen ganz oder zum Teil zu erlassen, wenn dies aus volkswirtschaftlichen Gründen zweckmäßig ist (BT-Drucks. 13/901, S. 139). Beide Entlastungsmaßnahmen sind für den Kläger im konkreten Fall tatbestandlich nicht anwendbar. Zur Sicherung der Besteuerung von beschränkt Steuerpflichtigen hat der Gesetzgeber die Regelungen in den §§ 50 und 50a EStG trotz zahlreicher zwischenzeitlicher Änderungen im Detail auch für den aktuellen Veranlagungszeitraum 2001 beibehalten (vgl. § 50a Abs. 4 Sätze 2 bis 4 EStG 2001 sowie BT-Drucks. 13/1558, S. 150, 158 zum Jahressteuergesetz 1996).

b.) Wäre der Kläger dagegen im Streitjahr 1996 in der Bundesrepublik Deutschland ansässig gewesen, so hätte die Bundesrepublik im Hinblick auf seine - nicht dem Steuerabzug an der Quelle zu unterwerfenden - Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit (§ 18 EStG 1996) für den Radiosender in Berlin entweder bei Überschreitung eines sog. Gesamtbetrags der Einkünfte (§ 2 Abs. 3 EStG 1996) von 12.203,00 DM oder bei Erzielung weiterer Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, von denen ein Steuerabzug vorgenommen worden ist, ein Einkommensteuerveranlagungsverfahren durchführen müssen (§ 25 Abs. 1 EStG 1996 i.V. mit § 56 Satz 1 Nr. 2 a Einkommensteuer-Durchführungsverordnung - EStDV - 1996 einerseits sowie § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG 1996 andererseits). Dabei wäre Besteuerungsgrundlage der aus dieser Tätigkeit erwirtschaftete und vom Kläger durch Einnahme-Überschußrechnung (§ 4 Abs. 3 EStG 1996) ermittelte Gewinn (= Nettoertrag) gewesen (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 EStG 1996).

c.) In dem Fall, in dem der BFH die Gemeinschaftsrechtskonformität einer Bestimmung über die beschränkte Einkommensteuerpflicht für "ernstlich zweifelhaft" gehalten hat, ging es um die sog. Mindeststeuer nach § 50 Abs. 3 Satz 2 EStG 1996 von 25 v.H., die im Veranlagungsverfahren (§ 25 EStG 1996) z.B. auf Einkünfte aus selbständiger Arbeit als Rechtsanwalt mit eigener Kanzlei im Inland erhoben wird (§ 49 Abs. 1 Nr. 6 EStG 1996). Bemessungsgrundlage ist hierbei im Gegensatz zu § 50a Abs. 4 Satz 1 EStG 1996 nicht die Bruttoeinnahme, sondern das Einkommen, also der Nettoertrag abzüglich bestimmter Sonderausgaben und unter Berücksichtigung eines Verlustausgleichs (vgl. § 50 Abs. 1 und 2 EStG sowie Heinicke, in: Schmidt, a.a.O., § 50 Rz. 20 m.w.N.). Auf dieses Einkommen ist sodann der Einkommensteuertarif nach Maßgabe der sog. Grundtabelle - also unter Einschluß des Grundfreibetrags - anwendbar (§ 50 Abs. 3 Satz 1 EStG 1996). Nach Maßgabe dieser Besteuerungsregeln würden die Ertragsteuern beim Kläger 0,00 DM betragen.

d.) Das Regelungswerk des § 50a Abs. 4 und 5 und des § 50 Abs. 5 EStG 1996 stellt somit eine Abweichung von dem im EStG grundsätzlich geltenden sog. objektiven Nettoprinzip dar (vgl. § 2 Abs. 2 EStG 1996; Tipke / Lang, Steuerrecht, § 9 Rz. 68 ff.; Kirchhof / Söhn, EStG, § 2 Rdnr. A 127 ff.). Es steht daher innerstaatlich auf dem Prüfstand des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Zwar hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in einer Entscheidung vom 24. September 1965 (1 BvR 228/65, BVerfGE 19, 119) den Quellensteuerabzug mit Abgeltungswirkung von den Bruttoeinkünften bei Einkünften aus Kapitalvermögen nach dem sog. Kuponsteuergesetz vom 25. März 1965 u.a. wegen des objektsteuerartigen Charakters der Einkommensteuer bei beschränkt Steuerpflichtigen für verfassungsgemäß erachtet. Es erscheint aber zweifelhaft, ob es nach heutigem Verfassungsverständnis die weiter gefaßte Regelung des § 50a Abs. 4 EStG 1996 in ihrer Konkurrenz zu der für die beschränkt Steuerpflichtigen u.U. wesentlich günstigeren Regelung des § 50 EStG 1996 ebenfalls bestätigen würde. Es sind vor allem Gründe der Vereinfachung und der fehlenden Kontrollmöglichkeit hinsichtlich der vom Steuerpflichtigen gemachten steuerrelevanten Angaben, mit denen die Bruttobesteuerung nach Art einer Steuerpauschalierung gerechtfertigt wird (vgl. dazu BFH in BFH/NV 1993, 726 m.w.N. sowie Kumpf, in: Herrmann / Heuer / Raupach, § 50 EStG Anm. 152; Engelschalk, Die Besteuerung von Steuerausländern aus Bruttobasis, Heidelberg 1988, 50 ff., 91 ff.; Wassermeyer, Die beschränkte Steuerpflicht, in: Vogel (Hrsg.), Grundfragen des Internationalen Steuerrechts, Köln 1985, S. 49 ff., 66). Eine etwaige Verfassungswidrigkeit des § 50a Abs. 4 EStG 1996, die in der Literatur z.B. dezidiert von Harald Schaumburg angenommen wird (Internationales Steuerrecht, 3. Aufl., S. 172; vgl. auch Lüdicke, in: Lademann / Söffing, EStG, § 49 Anm. 60 ff.) könnte durch deutsche Staatsangehörige mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland, die in der Bundesrepublik entsprechende Einkünfte als Sportler oder Künstler erzielt haben, geltend gemacht werden (zur Frage der Vereinbarkeit des § 50 Abs. 3 Satz 2 EStG 1998 mit Art. 3 Abs. 1 GG vgl. Lüdicke, IStR 2001, 286).

2. Zur Anrufung des EuGH

Der erkennende Senat ist der Ansicht, daß die oben formulierte Vorlagefrage aufgrund der Unterschiede zwischen dem niederländischen und dem deutschen Einkommensteuerrecht durch die "Asscher-Entscheidung" des EuGH noch nicht beantwortet worden ist.

a.) Im Fall "Asscher" ging es um steuerrechtliche Bestimmungen in den Niederlanden, die eine Diskriminierung von beschränkt Steuerpflichtigen, die in den Niederlanden weniger als 90 v.H. ihres Welteinkommens erzielten, gegenüber den dort ansässigen Steuerpflichtigen durch die Anwendung eines höheren Steuersatzes bei der Einkommensteuer vorsahen (in der ersten sog. Tranche des zu versteuernden Einkommens 25 v.H. statt 13 v.H. für die Inländer). Der EuGH ließ die Begründung der niederländischen Regierung für diese Differenzierung (Ausgleich des Vorteils von beschränkt Steuerpflichtigen in der Steuerprogression wegen der Aufteilung der Einkünfte auf mehrere Staaten) nicht gelten. Wegen der Befugnis des Wohnsitzstaates aufgrund der zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen, die im Tätigkeitsstaat erzielten Einkünfte im Wege des Progressionsvorbehalts in die Besteuerung des restlichen Welteinkommens miteinzubeziehen, befänden sich die beiden Gruppen von Steuerpflichtigen in einer gleichartigen Besteuerungssituation. Dieser Gesichtspunkt trifft auch für den Kläger zu, da ein derartiger Progressionsvorbehalt auch zwischen der Bundesrepublik und den Niederlanden in Art. 20 Abs. 3 Satz 1 des DBA-Niederlande vom 16. Juni 1959 (Bundesgesetzblatt - BGBl - II 1960, 1782) i.d.F. des Zweiten Zusatzprotokolls vom 21. Mai 1991 (BGBl II 1991, 1429) vereinbart worden ist (vgl. dazu auch BFH-Beschluß in DStR 2001, 485). Art. 20 Abs. 3 Satz 1 DBA-Niederlande ist in concreto anwendbar, weil der Kläger in Berlin eine selbständige künstlerische Tätigkeit ausgeübt hat und das Besteuerungsrecht hierfür der Bundesrepublik zusteht (Art. 9 Abs. 2 Satz 2 DBA-Niederlande).

Der Progressionsvorbehalt kann wegen des sog. Welteinkommensprinzips und des gestaffelten Steuertarifs in den Niederlanden je nach Fallgestaltung zu einer zusätzlichen Belastung des Steuerpflichtigen führen, denn er wird durch die in der Vorschrift gleichzeitig angeordnete Anrechnung äquivalenter fiktiver niederländischer Steuern u.U. nicht gänzlich kompensiert: Die in Abzug zu bringende Steuer errechnet sich nämlich rein abstrakt nach dem Verhältnis der in der Bundesrepublik erzielten Einkünfte zu den Welteinkünften des Steuerpflichtigen und gleicht somit Sprünge im Einkommensteuertarif nicht aus (vgl. dazu Galavazi, in: Debatin / Wassermeyer, Doppelbesteuerung, DBA-Niederlande Art. 20 Rz. 129). Auch das nationale Steuerrecht der Niederlande sieht für das Streitjahr 1996 bei Geltung des Welteinkommensprinzips keine weitergehende Steueranrechnung (etwa der in der Bundesrepublik real gezahlten Ertragsteuern) zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung vor (Galavazi, a.a.O., Art. 20 Rz. 126).

b.) Die definitive Besteuerung des Klägers mit einem Steuersatz von 25 v.H. ist auch nicht durch das sog. Kohärenzprinzip gerechtfertigt. So hat der EuGH in verschiedenen Urteilen zwar ausgeführt, daß eine Regelung nicht gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen muß, die darauf abzielt, eine "kohärente" Besteuerung sicherzustellen (Urteile vom 28. Januar 1992 Rs. C 204/90, Sammlung 1992, I-249, "Bachmann" und Rs. C 300/90, Sammlung 1992, I-305, "Kommission / Belgien" und vom 14. November 1995 Rs. C 484/93, "Svensson und Gustavsson", IStR 1996, 46). Als Voraussetzung hierfür erkennt der EuGH jedoch bislang nur solche Regelungen an, bei denen ein (zwingender) unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Steuervorteil einerseits und der Besteuerung andererseits besteht, um die Kohärenz der fraglichen Steuerregelungen zu wahren (vgl. auch BFH-Urteil vom 30. Dezember 1996 I B 61/96, BFHE 181, 511, BStBl II 1997, 466). Dies betrifft vor allem die Gewährung des Grundfreibetrags (§ 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG 1996, der das sozialrechtliche Existenzminimum des Steuerpflichtigen steuerfrei belassen soll (vgl. nur BVerfG-Beschluß vom 25. September 1992 2 BvL 5, 8, 14/91, BVerfGE 87, 153, 154, m.w.N.). Der EuGH ist der Ansicht, daß der Tätigkeitsstaat Einschränkungen der persönlichen Leistungsfähigkeit und damit auch das Existenzminimum nur dann bei der Einkommensbesteuerung berücksichtigen muß, wenn der Steuerpflichtige in seinem Ansässigkeitsstaat keine Einkünfte erzielt, die dort die Berücksichtigung dieser Verhältnisse erlauben würde (vgl. Urteile vom 14. Februar 1995 C 279, DStR 1995, 326, "Schumacker" und vom 14. September 1999 C 391/97, DStR 1999, 1609, "Gschwind"). Ebenso hat der EuGH die Versagung des Splittingtarifs (§ 32a Abs. 5 EStG 1996) für verheiratete beschränkt Steuerpflichtige, die nicht die Kriterien für eine Antragsveranlagung nach § 1 Abs. 3 Satz 2 EStG 1996 erfüllten, als gemeinschaftsrechtskonform erachtet (Urteil vom 14. September 1999, a.a.O.).

In diesem Zusammenhang ist das Argument des Beklagten zu würdigen, der beschränkt Steuerpflichtige werde durch den pauschalen Steuerabzug in Höhe von 25 v.H. der Bruttoeinnahmen gegenüber den unbeschränkt Steuerpflichtigen im Inland begünstigt, weil er im Tätigkeitsstaat keine erhöhte Progression bezogen auf sein Gesamteinkommen erleide (vgl. zu diesem auch für die sog. Mindeststeuer nach § 50 Abs. 3 Satz 2 EStG 1996 vorgetragenen Argument BFH-Beschluß in IStR 2001, 285, Kramer, Recht der Internationalen Wirtschaft - RIW - 1996, 951, 954). Es erscheint dem erkennenden Senat ernstlich zweifelhaft, ob dieser Gesichtspunkt die mit § 50a Abs. 4 Satz 2 EStG 1996 konkret getroffene Tarifbestimmung rechtfertigen kann. Die Vorschrift kann je nach Lage des Einzelfalls zu einer krassen Benachteiligung des dem definitiven Steuerabzug an der Quelle unterworfenen beschränkt Steuerpflichtigen gegenüber dem Steuerinländer führen.

So unterlag im Streitjahr 1996 z.B. ein alleinstehender Steuerpflichtiger mit Wohnsitz in den Niederlanden und dortigen Nettoeinkünften in Höhe von umgerechnet 12.001,00 DM sowie Bruttoeinkünften in der Bundesrepublik Deutschland aus selbständiger künstlerischer Betätigung in Höhe von 100.000,00 DM (netto: 50.001,00 DM) einem definitiven Steuerabzug von 25.000,00 DM Einkommensteuer zuzüglich anteiligem Solidaritätszuschlag (§ 50a Abs. 4 Satz 2 EStG 1996 und § 2 Nr. 1 i.V. mit § 3 Abs. 1 Nr. 6 SolZG 1995). Das entspricht - bezogen auf sein Nettoeinkommen in der Bundesrepublik - einem durchschnittlichen Einkommensteuersatz von 49,99 v.H. wie er ansonsten nur für Spitzenverdiener anwendbar ist (der sog. Grenzsteuersatz betrug 1996 bei Ledigen 53 v.H. für das oberhalb von 120.042,00 DM liegende zu versteuernde Einkommen, vgl. § 32a Abs. 1 i.V. mit § 2 Abs. 5 Satz 1 EStG 1996; er beträgt im Jahr 2001 48,5 v.H. für das oberhalb von 107.586,00 DM liegende zu versteuernde Einkommen, vgl. § 32a Abs. 1 i.V. mit § 2 Abs. 5 Satz 1 EStG 2001; zu etwaigen Billigkeitsmaßnahmen nach § 163 AO 1977 vgl. die Nachweise unter II.1.a.).

Hätte sich im Beispielsfall der Wohnsitz des Steuerpflichtigen in der Bundesrepublik befunden und hätte er dort sein Weltnettoeinkommen von 62.002,00 DM erzielt, so hätte er nach der Einkommensteuer-Grundtabelle nur eine Einkommensteuer in Höhe von 15.123,00 DM entrichten müssen. In diesem Fall wäre der durchschnittliche Einkommensteuersatz nur knapp halb so hoch wie im Ausgangsfall (24,4 v.H.).

Das Argument des Beklagten vermag im Übrigen die Benachteiligung der dem definitiven Steuerabzug unterworfenen beschränkt Steuerpflichtigen gegenüber den zur Einkommensteuer zu veranlagenden beschränkt Steuerpflichtigen nicht zu rechtfertigen, denn letztere unterliegen im Tätigkeitsstaat ebenfalls keiner erhöhten Progression in Bezug auf ihr Gesamteinkommen. Im Beispielsfall würde die in der Bundesrepublik von Nettoeinkünften aus einer Rechtsanwaltstätigkeit eines im Ausland ansässigen alleinstehenden Steuerpflichtigen in Höhe von 50.001,00 DM zu erhebende Einkommensteuer nur 11.063,00 DM betragen (22,1 v.H.).

Angesichts dieser krassen Unterschiede hält der erkennende Senat den klägerischen Vortrag insoweit für plausibel als danach die Anknüpfung der Besteuerung an die Bruttoeinnahmen in Kombination mit dem Steuersatz von 25 v.H. und dem Ausschluß eines nachgelagerten Erstattungs- oder Veranlagungsverfahrens trotz möglicherweise im Einzelfall bestehender Erschwernisse im Hinblick auf die Überprüfung der Angaben des Steuerpflichtigen zu den Besteuerungsgrundlagen durch das inländische Finanzamt (vgl. BFH in BFH/NV 1993, 726) als ein Verstoß gegen Art. 52 EGV a.F. erachtet wird. Dabei ist dem Senat bewußt, daß die genannten Regelungen im EStG in einer Vielzahl von Fällen (insbesondere bei hohen inländischen Einkünften und geringen Betriebsausgaben oder Werbungskosten) zu einer tariflichen Begünstigung des dem Steuerabzug unterworfenen beschränkt Steuerpflichtigen gegenüber dem in der Bundesrepublik ansässigen Steuerpflichtigen oder dem nach § 50 EStG 1996 zu veranlagenden beschränkt Steuerpflichtigen führen. Der Kläger gehört aber - wie gesehen - nicht zu diesen Begünstigten, da seine Veranlagungssteuer für die im Inland bezogenen Einkünfte sowohl im Falle der unbeschränkten Steuerpflicht als auch im Falle einer beschränkten Steuerpflicht mit zu veranlagenden Einkünften 0,00 DM betragen würde. Schließlich hält der BFH, a.a.O., in Übereinstimmung mit etlichen Stimmen im Schrifttum ja sogar die Gemeinschaftsrechtskonformität der vergleichsweise weniger belastenden Vorschrift des § 50 Abs. 3 Satz 2 EStG 1996 für "ernstlich zweifelhaft" (vgl. Herzig / Dautzenberg, Der Betrieb - DB - 1997, 8, 13, Kramer, RIW 1996, 951, 954, Saß, DB 1996, 1607, 1608, de Weerth, RIW 1997, 482, 484, Waterkamp-Faupel, Finanz-Rundschau - FR - 1996, 669, 670, Strunk, in: Korn, EStG, § 50 Rz. 41; s.a. H. Schaumburg, a.a.O., S. 175, der in der Nichtberücksichtigung von Kinderfreibeträgen und in dem nur eingeschränkten Sonderausgabenabzug im Rahmen eines Veranlagungsverfahrens nach §§ 25, 50 EStG 1996 weitere Verstöße gegen den EGV sieht).

c.) Eine Lösung des Rechtskonflikts im konkreten Fall könnte darin bestehen, dem Kläger auch die Möglichkeit einer Einkommensteuerveranlagung nach Maßgabe des § 50 EStG 1996 zu eröffnen.

Ein anderer Vorschlag geht dahin, einen Anspruch auf Durchführung eines Einkommensteuerveranlagungsverfahrens zu bejahen und in diesem auf die nach §§ 18 i.V. mit 4 Abs. 3 EStG 1996 zu ermittelnden Einkünfte des Klägers aus seiner Tätigkeit für den Radiosender im Hinblick auf seine weiteren, nicht unerheblichen Einkünfte im Wohnsitzstaat unter Berücksichtigung der o.g. EuGH-Rechtsprechung zum Kohärenzprinzip die Einkommensteuer-Grundtabelle unter Außerachtlassung des Grundfreibetrags anzuwenden (vgl. dazu Lüdicke, IStR 2001, 286; ähnlich Froesch, IStR 2001, 51 ff., 52 / 53). In diesem Fall beliefe sich die zu veranlagende Einkommensteuer auf 1.337,00 DM und der Solidaritätszuschlag auf 100,28 DM, so daß dem Kläger insgesamt 177,25 DM zu erstatten wären. Bei dieser Lösung erscheint aber auch die Auffassung denkbar, daß ganz geringfügige Besteuerungsunterschiede europarechtlich nicht relevant sind, weil sie keine effektive Hürde für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im EU-Ausland darstellen. Dem EuGH soll mit der Vorlage Gelegenheit gegeben werden, sich ggf. auch zu diesem Aspekt des Falles zu äußern.

Nach Auffassung des Senats bedarf es einer Grundsatzentscheidung, ob Art. 52 EGV a.F. (= Art. 43 EGV n.F.) die im EStG angeordnete partielle Höherbesteuerung etlicher beschränkt Steuerpflichtiger, die einem definitiven Steuerabzug unterworfen werden, im Vergleich zu den Inlandsansässigen sowie zu anderen beschränkt Steuerpflichtigen, bei denen ein Einkommensteuerveranlagungsverfahren durchgeführt wird, vor dem Hintergrund des Gesamtkonzepts des deutschen Einkommensteuerrechts erlaubt.

Ende der Entscheidung

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