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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht Bremen
Gerichtsbescheid verkündet am 16.03.2000
Aktenzeichen: I 192/81 K
Rechtsgebiete: EStG, ZPO


Vorschriften:

EStG § 26 Abs. 1 S. 1
EStG § 26 Abs. 2 S. 2
ZPO § 616 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Bremen

I 192/81 K

Einkommensteuer 1976 und 1977

In dem Rechtsstreit

hat der I. Senat des Finanzgerichts Bremen

unter Mitwirkung

des Präsidenten des Finanzgerichts Ranft als Vorsitzenden und

der Richter am Finanzgericht Wendebourg und Dr. Junker

am 16. März 1982

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1976 und 1977 vom ... und die Einspruchsentscheidung vom ... werden aufgehoben. Das Finanzamt wird verpflichtet, den Kläger und die Beigeladene zusammen zu veranlagen.

Die Kosten fallen dem Beklagten zur Last.

Die Zuziehung des Bevollmächtigten für das Vorverfahren war notwendig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf ... DM festgesetzt.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision nach § 115 Abs. 2 FGO an den Bundesfinanzhof in München wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger und die Beigeladene waren seit 1963 verheiratet. Am ... zog der Kläger aus der Familienwohnung ... aus. Am ... erhob die Beigeladene gegen den Kläger Scheidungsklage. Am ... wurde die Ehe geschieden.

In ihren Steuererklärungen für die Streitjahre beantragten der Kläger und die Beigeladene die Zusammenveranlagung. Angaben über ein Getrenntleben machten sie nicht. Das Finanzamt (FA) folgte dem Antrag nicht, sondern führte für den Kläger Einzelveranlagungen durch. Als Begründung gab es an, die Eheleute hätten seit dem Auszuge des Klägers aus der gemeinsamen Wohnung dauernd getrennt gelebt.

Zur Begründung der nach erfolglosem Vorverfahren erhobenen Klage trägt der Kläger vor, die Annahme des FA, daß die eheliche Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft am ... geendet habe, treffe nicht zu. Die Gemeinschaft sei bis zur Scheidung aufrechterhalten worden. Sogar nach der Scheidung hätten er und die Beigeladene noch auf die Versöhnung hingearbeitet. Es sei zwar richtig, daß sie vor dem Landgericht behauptet hätten, sie lebten getrennt. Doch sei dies nur geschehen, um die Scheidung zu ermöglichen.

Die Beigeladene hat unter dem ... schriftlich erklärt, nach ihrer Auffassung habe die eheliche Lebensgemeinschaft bis zur Scheidung fortbestanden. Obwohl sie und der Kläger in verschiedenen Wohnungen gelebt hätten, sei bis zur Scheidung eine Versöhnung versucht worden. Während des Scheidungsprozesses seien noch Pläne über den Ausbau des gemeinsamen Hauses ... gemacht worden. Ziel dieser Pläne sei es gewesen, das Haus wieder gemeinsam zu bewohnen.

Der Kläger beantragt,

das FA zu verurteilen, ihn und die Beigeladene für die Jahre 1976 und 1977 zusammen zur Einkommensteuer zu veranlagen.

Das FA beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Es meint, weil die Ehegatten im Scheidungsprozeß behauptet hätten, seit ... getrennt zu leben, könne die mit Schreiben vom ... abgegebene anderslautende Darstellung der Ehefrau (Beigeladenen) ebensowenig eine Aussagekraft haben wie die der Klageschrift beigefügte Erklärung. Wenn der Kläger jetzt das Gegenteil von dem vortrage, was er vor dem Landgericht behauptet habe, setze er sich "in unzulässiger Weise" in Widerspruch zu seinem eigenen früheren Verhalten. - Im übrigen sei es dem FA verwehrt, zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts in den persönlichen Lebensbereich des Klägers einzudringen.

Entscheidungsgründe:

Ehegatten, die beide unbeschränkt steuerpflichtig sind und nicht dauernd getrennt leben und bei denen diese Voraussetzungen zu Beginn des Veranlagungszeitraums vorgelegen haben oder im Laufe des Veranlagungszeitraums eingetreten sind, können zwischen getrennter Veranlagung und Zusammenveranlagung wählen (§ 26 Abs. 1 Satz 1 EStG). Ehegatten werden zusammenveranlagt, wenn beide Ehegatten die Zusammenveranlagung wählen (§ 26 Abs. 2 Satz 2 EStG). Diese Voraussetzungen hält der Senat im Streitfall für gegeben. Nach der von der Beigeladenen bestätigten Darstellung des Klägers hat die eheliche Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft nach dem Auszug des Klägers aus der ehelichen Wohnung fortbestanden. Da der Senat es für unwahrscheinlich hält, daß die Beigeladene in mündlicher Verhandlung eine andere Darstellung geben wird, und sie ihre schriftliche Erklärung auch näher begründet hat, geht der Senat davon aus, daß die damaligen Eheleute im steuerrechtlichen Sinne nicht dauernd getrennt gelebt haben. Es muß nicht gegen die Richtigkeit dieser Annahme sprechen, daß der Kläger und die Beigeladene im Scheidungsprozeß das Gegenteil behauptet haben. Es ist allgemein bekannt, daß Scheidungswillige, um die Scheidung zu ermöglichen oder zu erleichtern, der Wahrheit zuwider übereinstimmend behaupten, getrennt zu leben. Ein solches Vorbringen pflegt das Scheidungsgericht, auch wenn es von dessen Richtigkeit nicht überzeugt ist, dem Scheidungsurteil zugrunde zu legen, mag auch eine rechtliche Bindung wegen der in Scheidungssachen eingeschränkten sogen. Parteimaxime (§ 616 Abs. 2, vor dem 1. Juli 1977 § 622 Abs. 2 ZPO) nicht bestehen. - Im übrigen gibt es keinen Erfahrungssatz des Inhalts, daß von zwei einander widersprechenden Behauptungen die zuerst aufgestellte in der Regel der Wahrheit entspreche. Ein solcher Satz würde den Senat wegen des Amtsermittlungsgrundsatzes auch nicht von der Verpflichtung entbinden, festzustellen, ob die im Besteuerungsverfahren aufgestellte Behauptung, die Eheleute hätten nicht dauernd getrennt gelebt, richtig oder falsch ist.

Da der Senat, wie oben ausgeführt, davon überzeugt ist, daß der Kläger und die Beigeladene zu der maßgeblichen Zeit nicht dauernd getrennt gelebt haben, kam es für die Entscheidung darauf an, ob es dem Kläger verwehrt ist, sich darauf zu berufen, d.h. ob er sich an der vor dem Landgericht gegebenen Darstellung, obwohl diese unrichtig gewesen ist, festhalten lassen muß. Diese Frage ist zu verneinen:

Zu Unrecht beruft das FA sich für seine gegenteilige Auffassung auf den Grundsatz, daß einem Vorgehen, mit dem sich jemand zu eigenem früheren Verhalten in Widerspruch setzt, die rechtliche Anerkennung zu versagen ist. Der Grundsatz gilt zwar auch im öffentlichen Recht, insbesondere im Steuerrecht, jedoch nicht ausnahmslos. Er dient nämlich dem Vertrauensschutz und kann deshalb nur dort eingreifen, wo ein Teil auf das Verhalten des anderen vertraut und mit Rücksicht darauf Dispositionen getroffen hat (Tipke, Steuerrecht, 8. Aufl., Seite 516). Es ist aber nicht zu erkennen, inwiefern das FA auf die vor dem Landgericht abgegebene (falsche) Erklärung (von der es kaum Kenntnis haben konnte) vertraut und welche Dispositionen es daraufhin getroffen haben könnte. Fehlt es aber an einem Vertrauen des FA, das rechtlichen Schutz verdient, so läuft die Einzel Veranlagung, die es durchgeführt hat, obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Zusammenveranlagung vorliegen, auf eine Art Bestrafung des Klägers hinaus; nämlich auf eine Bestrafung dafür, daß er vor dem Landgericht die Unwahrheit gesagt hat. Sanktionen für (tatsächliches oder vermeintliches) moralisches Fehlverhalten zu verhängen, ist jedoch nicht Aufgabe der Finanzämter. Deshalb tritt der Senat dem Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf, Senate in Köln, vom 10. Januar 1968 VIII 631/66 L (EFG 1968, 334), auf welches das FA sich berufen hat, nicht bei. (Dagegen auch Tipke-Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Tz 61 zu § 4 AO.) - Der Bundesfinanzhof (BFH) hat allerdings in seinem Urteil vom 11. Februar 1965 V 37/63 U (BStBl III 1965, 270, BFHE 82, 67) in einer Hilfsbegründung den Staat als Einheit angesehen und einen steuerlichen Nachteil, nämlich die Behandlung eines Vorgangs als Hilfsumsatz anstatt als nicht steuerbar, damit gerechtfertigt, daß der Steuerpflichtige zwar nicht das FA, aber eine andere staatliche Einrichtung, nämlich die Bundesanstalt für den Güterfernverkehr, getäuscht habe. Diese vom BFH nicht einmal andeutungsweise begründete Auffassung teilt der erkennende Senat nicht. Unklar ist schon, was der BFH in dem genannten Urteil unter dem "Staat als Einheit" versteht. (Besteht eine "staatliche Einheit" zum Beispiel auch zwischen zwei Bundesländern oder zwischen einer Gemeindebehörde und einem Gericht des Bundes?) Der Senat folgt vielmehr dem Finanzgericht Köln (Urteil vom 26. November 1981 II (XIV) 17/80 E, demnächst in EFG 1982) insoweit, als allenfalls im Bereich materieller Leistungen der Staat als Einheit angesehen werden und widersprüchliches Verhalten unzulässig sein kann. (Offen bleiben kann daher im Streitfall auch, ob nicht aus widersprüchlichem Verhalten nur dann nachteilige Folgerungen abgeleitet werden dürfen, wenn die im Vertrauen auf früheres Verhalten getroffenen Dispositionen nicht mehr rückgängig zu machen sind, s. Tipke-Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Tz 63 zu § 4 AO.) - Aber selbst dann, wenn der Senat trotz aller Bedenken dem BFH darin folgen würde, daß der Staat eine Einheit sei, könnte er die Rechtsauffassung des FA nicht teilen. Es wäre nämlich wirklichkeitsfremd, anzunehmen, daß der Staat (in Gestalt des Landgerichts) auf die Erklärung des Klägers, er und die Beigeladene lebten getrennt, "vertraut" habe. Die Ehe wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit auch dann geschieden worden, wenn das Landgericht die Richtigkeit dieser Behauptung bezweifelt hätte. Auch kann man eine Ehescheidung schwerlich als eine "Disposition" des Staates bezeichnen. (Beides Voraussetzungen dafür, daß widersprüchlichem Verhalten eines Steuerpflichtigen die rechtliche Anerkennung zu versagen ist.)

Den Streitwert hat der Senat gem. § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG auf ... DM festgesetzt.

Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, weil dem Senat die Frage, inwieweit widersprüchliches Verhalten eines Steuerpflichtigen im Steuerrecht hingenommen werden muß, noch nicht hinreichend geklärt erscheint. Deshalb war gem. § 115 Abs. 2 FGO die Revision zuzulassen.

Ende der Entscheidung

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