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Gericht: Finanzgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 06.08.2007
Aktenzeichen: 1 K 3800/06 E
Rechtsgebiete: AO


Vorschriften:

AO § 173
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Düsseldorf

1 K 3800/06 E

Tenor:

Unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 01.08.2006 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 30. 08. 2006 wird der Beklagte verpflichtet, die Einkommensteuerbescheide 2001 vom 23.05.2002, 2002 vom 07.03.2003, 2003 vom 24.05.2004 und 2004 vom 16.03.2005 dahin zu ändern, dass die Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit um 2.194,73 DM (2001), 1.343,07 EUR (2002), 1.313,28 EUR (2003) und 1.417,80 EUR (2004) herabgesetzt werden.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe:

Die Beteiligten streiten über die Rechtserheblichkeit einer nachträglich bekannt gewordenen Tatsache i. S. von § 173 der Abgabenordnung -AO-.

Der mit seiner Ehefrau, der Klägerin, zusammenveranlagte Kläger hat als Beschäftigter der Stadtsparkasse A-Stadt Ansprüche aus einer betrieblichen Altersversorgung erworben. Bedingt durch die Ablösung der Zusatzversorgungskasse der Stadt A (ZVKA) wechselte die Stadtsparkasse A-Stadt zur Durchführung der betrieblichen Altersvorsorge zum 01. 01. 2001 zur Zusatzversorgungskasse B-Stadt (ZVKB). Anlässlich dieses Wechsels musste die Sparkasse - neben der allgemeinen Umlage (4,25 %) - einen sog. Nachteilsausgleich von 2,15 % entrichten, den sie in der Lohnsteuerkarte als Teil des Arbeitslohns bescheinigte. Von dieser Einbeziehung in seinen Arbeitslohn erfuhr der Kläger erstmals aufgrund einer "Allgemeinen Information" der Sparkasse vom 15. 03. 2006. Zeitgleich teilte der Arbeitgeber ihm mit, dass die Versteuerung fehlerhaft gewesen sei, wie sich zwischenzeitlich aus dem Urteil des Bundesfinanzhofs -BFH- vom 14. 09. 2005 (VI R 148/98, Bundessteuerblatt -BStBl- II 2006, 532) ergeben habe. Daraufhin beantragte der Kläger, die - bereits bestandskräftigen - Einkommensteuerbescheide der Streitjahre wegen der nachträglich bekannt gewordenen Tatsache dahin zu ändern, dass die zu Unrecht erfolgte Besteuerung der Sonderzahlungen an die ZVKB als Arbeitslohn rückgängig gemacht werde. Der Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass die Voraussetzungen einer Änderung nach § 173 AO nicht erfüllt seien; die neue Tatsache sei nicht rechtserheblich, weil er auch bei früherer Kenntnis der Lohnversteuerung keine andere Entscheidung getroffen hätte.

Hiergegen richtet sich nach erfolglosem Einspruch die Klage.

Erstmals in der mündlichen Verhandlung vom 23.02.2007 hat der Beklagte das vorgetragene Fehlen einer Rechtserheblichkeit damit begründet, dass im Zeitpunkt der Veranlagung entsprechende Verwaltungsanweisungen vom 28. 06. 2004 und 11. 04. 2006 (s. Anlage zum Sitzungsprotokoll) bestanden hätten, die auch auf eine Anweisung aus dem Jahr 2001 verwiesen hätten; an die dortige Vorgabe - Besteuerung der Umlage - sei er gebunden gewesen. Die Sache ist daraufhin auf unbestimmte Zeit vertagt worden; für das weitere Verfahren haben die Beteiligten auf die Durchführung einer (erneuten) mündlichen Verhandlung verzichtet. Mit Schriftsatz vom 04.07.2007 hat der Beklagte präzisiert, dass es sich bei der für das Jahr 2001 bezeichneten Unterlage um eine "Kurzinformation" gehandelt habe (s. Anlage zum o. a. Schriftsatz), die eine "Arbeitshilfe" sei und "praktisch" wie eine Verwaltungsanweisung angewendet werde.

Die Kläger machen geltend, die vom Beklagten angeführte Verwaltungsanweisung aus dem Jahr 2006 sei schon vom Datum her nicht geeignet, die Veranlagungen für die Streitjahre 2001 bis 2004 zu beeinflussen. Gleiches gelte für die Anweisung aus dem Jahr 2004 jedenfalls betreffend Einkommensteuer 2001 bis 2003; aus dieser Unterlage ergebe sich zudem, dass die Finanzämter schon ab 2003 entsprechende Zahlungen nicht mehr der Besteuerung hätten unterwerfen sollen. Die "Kurzinformation" aus dem Jahr sei keine Verwaltungsanweisung, sondern lediglich eine Arbeithilfe, zudem gerichtet (nur) an den Lohnsteueraußendienst. Damit sei dem Beklagten nicht der Nachweis einer damals einschlägigen Verwaltungsübung gelungen.

Die Kläger beantragen sinngemäß,

den Beklagten zu verpflichten, unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 01.08.2006 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 30.08.2006 die Einkommensteuerbescheide 2001 bis 2004 dahin zu ändern, dass die Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit um 2.194,73 DM (2001), 1.343,07 EUR (2002), 1.313,28 EUR (2003) und 1.417,80 EUR (2004) herabgesetzt werden,

hilfsweise

die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,

hilfsweise

die Revision zuzulassen.

Das Gericht entscheidet gemäß § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -FGO- ohne mündliche Verhandlung.

Die Klage ist begründet.

Die Ablehnung der Änderung der Einkommensteuerbescheide ist rechtswidrig; der Beklagte ist zur Durchführung der geltend gemachten Änderung nach § 173 AO verpflichtet, vgl. § 101 Abs. 1 Satz 1 FGO.

Gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 AO sind Steuerbescheide zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren (Nr. 1) oder niedrigeren (Nr. 2) Steuer führen. Die neue Tatsache muss zudem rechtserheblich sein; das ist der Fall, wenn die Finanzbehörde bei rechtzeitiger Kenntnis einer ihr zunächst unbekannt gebliebenen Tatsache schon bei der ursprünglichen Steuerfestsetzung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem anderen steuerlichen Ergebnis gelangt wäre. Wie das Finanzamt bei Kenntnis bestimmter Tatsachen oder Beweismittel einen Sachverhalt in seinem ursprünglichen Bescheid gewürdigt hätte, ist im Einzelfall aufgrund des Gesetzes, wie es nach der damaligen Rechtsprechung des BFH ausgelegt wurde, und der die Finanzämter bindenden Verwaltungsanweisungen zu beurteilen, die im Zeitpunkt des ursprünglichen Bescheiderlasses gegolten haben (Beschluss des Bundesfinanzhofs -BFH- vom 23. 11. 1987 GrS 1/86, Bundessteuerblatt -BStBl- II 1988, 180; BFH-Urteil vom 20. 06. 2001 VI R 70/00, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH -BFH/NV- 2001, 1527). Für die Rechtserheblichkeit einer nachträglich bekannt gewordenen Tatsache i. S. von § 173 AO kann der Stand der Rechtsprechung und der Verwaltungserlasse zum Zeitpunkt des Ergehens des ursprünglichen Bescheides indes im Einzelfall ausnahmsweise unerheblich sein, wenn anderweitig feststeht, dass die Steuer auch bei rechtzeitiger Kenntnis der Tatsache nicht anders festgesetzt worden wäre (BFH-Urteil vom 10. 03. 1999 II R 99/97, BStBl II 1999, 433: dort Weisung des Sachgebietsleiters, an die sich die Sachbearbeiterin gehalten hatte). Die Änderung oder Aufhebung eines Steuerbescheides nach § 173 Abs. 1 Satzn 1 Nr. 1 und 2 AO ist nicht schon dann ausgeschlossen, wenn das Finanzamt in Kenntnis des vollen Sachverhalts möglicherweise nicht anders entschieden hätte, sondern erst dann, wenn das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Fall gewesen wäre. Infolgedessen kommt eine Änderung oder Aufhebung in Betracht, sobald das Finanzamt bei voller Kenntnis auch nur möglicherweise die Steuer anders festgesetzt hätte. Gab es damals zur maßgeblichen Rechtsfrage bereits eine Rechtsprechung des BFH oder eine die Finanzämter bindende Verwaltungsanweisung, ist anzunehmen, dass sich die Behörde auch daran gehalten hätte; mangelte es an beidem, wird dagegen regelmäßig die Möglichkeit einer abweichenden Entscheidung vorliegen (BFH-Urteil vom 29. 07. 2002 II R 39/96, BFH/NV 1999, 154). Im Zweifel ist also von der Rechtserheblichkeit der Tatsache auszugehen (vgl. BFH-Urteil vom 13. 05. 1998 II R 67/96, BFH/NV 1999, 1); die Finanzbehörde trägt insoweit die Feststellungslast (Balmes in Kühn/von Wedelstädt, AO, 18. A., § 173 Rdn. 8; Koenig in Pahlke/Koenig, AO, § 173 Rdn. 90).

Vorliegend sind die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO, die den Beklagten zur begehrten Änderung der bestandskräftigen Bescheide verpflichten, erfüllt. Dass hier die neue Tatsache - Sonderumlage als Teil des besteuerten Arbeitslohns - (ausnahmsweise) nicht rechtserheblich ist, kann nicht festgestellt werden; nach den Umständen kann nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass der Beklagte, wenn ihm die Tatsache bereits im Zeitpunkt der Zeichnung des Eingabewertbogens (vgl. BFH-Urteil vom 20. 06. 2001 VI R 70/00, BFH/NV 2001, 1527) bekannt gewesen wäre, die Umlage nicht als Arbeitslohn erfasst hätte. Zum hier maßgeblichen Zeitpunkt fehlten nicht nur - unstreitig - eine einschlägige Rechtsprechung des BFH, sondern auch den Beklagten bindende Verwaltungsanweisungen.

Die vom Beklagten in der mündlichen Verhandlung zu den Akten gereichte Unterlage vom 11. 04. 2006 war, wie die Kläger zutreffend einwenden, schon von ihrem Datum her nicht geeignet, die Festsetzung der Einkommensteuer 2001 bis 2004 zu beeinflussen; die entsprechenden Veranlagungen waren hier bereits in den Jahren 2002 bis 2005 erfolgt. Gleiches gilt für die Unterlage vom 28. 06. 2004, soweit die Veranlagungen 2001 bis 2003 betroffen sind; der jüngste dieser Bescheide datiert vom 24. 05. 2004. Auch für das Streitjahr 2004 gilt im Ergebnis nichts Anderes:

Die betreffende Unterlage der Finanzverwaltung enthält Hinweise auf ein zur Streitfrage geführtes Musterverfahren beim Finanzgericht -FG- Düsseldorf und erklärt im Hinblick hierauf ein Ruhen entsprechender Einspruchsverfahren für zulässig. Da somit abweichende Veranlagungen offen gehalten werden sollen, stellt diese Verwaltungsmitteilung gerade keine bindende Anweisung dar, Umlagen i. S. des Musterverfahrens der Lohnversteuerung zu unterwerfen.

Bei der darüber hinaus vorgelegten "Mitteilung für den Lohnsteueraußendienst" Nr. 12/2001 der Oberfinanzdirektionen -OFD- Düsseldorf und Münster handelt es sich schon vom Rechtscharakter her nicht um eine Verwaltungsanweisung, nämlich weder um eine Steuerrichtlinie noch um ein Schreiben des Bundesministers der Finanzen -BMF-, einen Ministeriumserlass oder eine Verfügung der OFD (vgl. Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO und FGO, § 347 AO Rdn. 23). Wie auch der Beklagte vorträgt, ist die Mitteilung als Hinweis bzw. Arbeitshilfe zu verstehen. Will eine OFD eine steuerliche Zweifelsfrage für ihren Geschäftsbereich allgemein verbindlich regeln, weist sie die ihr nachgeordneten Finanzämter entsprechend an, indem sie eine Allgemeinverfügung (auch Rundverfügung genannt) erlässt (Neumann in Beermann/Gosch, AO und FGO, § 4 AO Rdn. 50); hiervon hat die OFD vorliegend indes keinen Gebrauch gemacht. Adressat der Mitteilung Nr. 12/2001 ist zudem nicht der Veranlagungssachbearbeiter, sondern der Lohnsteueraußenprüfer. Ob derartige Mitteilungen, wie der Beklagte vorbringt, "praktisch" wie eine Verwaltungsanweisung behandelt werden, kann für die vorliegende Entscheidung dahin stehen. Eine solche Handhabung in der Praxis könnte allenfalls dann von Bedeutung sein, wenn im Einzelfall mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststände, dass der Beklagte die betreffende Hinweismitteilung zur Kenntnis genommen und tatsächlich wie eine bindende Anweisung befolgt hätte. Das ist hier indes nicht der Fall; der Beklagte selbst hat, auch auf Vorhalte hin, nicht näher dargelegt, worauf sich eine derartige, hier erforderliche Feststellung stützen könnte. Ist damit die Möglichkeit einer abweichenden Entscheidung bei rechtzeitiger Kenntnis der Tatsache nicht ausgeräumt, verbleibt es nach den Regeln der - hier vom Beklagten zu tragenden - Feststellungslast bei der Rechtserheblichkeit der neuen Tatsache. Für die Richtigkeit dieses Ergebnisses sprechen auch die Folgerungen, die aus dem BMF-Schreiben IV C 5-S 2333-53/06 I vom 30. 05. 2006 (Anwendungserlass zu den BFH-Urteilen vom 14. 09. 2005 und 15. 02. 2006 zur steuerlichen Nichterfassung der Sonderumlagen) gezogen worden sind; in deren Anschluss sind ESt- bzw. LSt- Karteien BY und ST ausgereiht worden, ebenso die Verwaltungsvorschrift -VV- HA FinSen 2003-04-04 52-S 2333-24/97, indes - mangels Existenz - keine Verwaltungsregelungen für NRW.

Die Sache ist spruchreif; der Beklagte ist zum Erlass der Bescheide verpflichtet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

Die Revision war nicht zuzulassen. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung i. S. von § 115 Abs 2 Nr. 1 FGO noch sind die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung betroffen; das vorliegende Urteil beruht auf der gefestigten BFH-Rechtsprechung.

Ende der Entscheidung

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