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Gericht: Finanzgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 15.11.2007
Aktenzeichen: 14 K 1342/06 Kg
Rechtsgebiete: EStG


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 1 Nr. 1
EStG § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3
EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1
EStG § 63 Abs. 1 S. 2
EStG § 64
EStG § 67 S. 2
EStG § 74 Abs. 1 S. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Düsseldorf

14 K 1342/06 Kg

Tenor:

Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 2. Februar 2006 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 27. Februar 2006 verpflichtet, zugunsten der Mutter ab September 2005 Kindergeld für die Tochter Bettina festzusetzen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die am 16. April 1982 geborene Klägerin ist behindert. Der seit dem 21. November 2001 festgestellte Grad der Behinderung (GdB) beträgt 60, zusätzlich ist das Merkmal RF (ständig gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen jeder Art teilzunehmen) gegeben. Nach der Beendigung der Sonderschule besuchte die Klägerin in 1999/2000 die Vorklasse (Textil/Hauswirtschaft) und in 2000/2001 einen Qualifikationslehrgang (Praktikum Floristin) zur Erlangung arbeitsmarktorientierter Grundfertigkeiten an dem Westfälischen Kolleg für Hörgeschädigte in D-Stadt. Seit März 2002 war die Klägerin mit dem Berufswunsch Floristenhelferin/Verkäuferin im Lagerbereich arbeitslos gemeldet. Im Jahr 2004 nahm die Klägerin an einer Berufsvorbereitungsmaßnahme für Behinderte, zunächst in der Grundstufe und ab 2005 in der Förderstufe teil. Nach der Beendigung des Lehrganges meldete sich die Klägerin erneut arbeitslos und erhielt Arbeitslosengeld II. Seit August 2005 wird die Klägerin bei der Berufsberatung nicht mehr als Bewerberin für eine berufliche Ausbildungsstelle geführt.

Das Kindergeld für die Klägerin wurde in der Vergangenheit zu Gunsten der Kindesmutter festgesetzt und im Wege der Abzweigung bis einschließlich August 2005 unmittelbar an die Klägerin gezahlt, weil die Kindesmutter keinen Unterhalt an die Klägerin leistet. Am 19. Juli/14. August 2005 beantragte die Kindesmutter die erneute Festsetzung des Kindergeldes unter gleichzeitiger Abtretung des Kindergeldes an die Klägerin.

Die Klägerin stellte am 18. August 2005 einen Antrag auf Auszahlung des Kindergeldes und teilte mit, sie sei Hartz IV Empfängerin. Sie bitte um einen begründeten Ablehnungsbescheid und werde in jedem Fall mit Hilfe des Sozialamtes Einspruch einlegen.

Die Beklagte lehnte den Antrag auf Kindergeld im an die Kindesmutter gerichteten Bescheid vom 2. Februar 2006 ab. Zur Begründung stellte sie darauf ab, dass die Klägerin weder als ausbildungsplatzsuchend gemeldet sei noch als behindertes Kind berücksichtigt werden könne, weil nach den vorliegenden Unterlagen die Behinderung nicht ursächlich dafür sei, dass die Tochter ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten könne.

Einen Abdruck der Entscheidung übersandte die Beklagte mit Schreiben vom 2. Februar 2006 an die Klägerin. Die Klägerin legte am 13. Februar 2006 Einspruch ein und machte geltend: Nach einem psychologischen Test des Arbeitsamtes E-Stadt sei ihr mitgeteilt worden, dass ihr schulisches Grundwissen nicht ausreichend sei und sie deshalb keine Ausbildung absolvieren könne. Leider sei ihre Schwerhörigkeit erst zu spät festgestellt worden. Nach dem Test sei sie auf Grund einer Maßnahme des Arbeitsamtes in einer Werkstätte in F-Stadt untergebracht worden und habe von Hartz IV gelebt. Ihre Schwerhörigkeit sei für sie auch eine seelische Behinderung, denn sobald die Umwelt ihre Hörgeräte sehe, bestünde Angst, mit ihr umzugehen. Jedes Vorstellungsgespräch ende mit einem "Nein, danke, Sie können ja nicht richtig hören". Sie leide deshalb seit Monaten an Alpträumen und werde sich in eine psychologische Behandlung begeben müssen. Ein neuer Test sei schon vom Arbeitsamt angeregt worden.

Die Beklagte wies in der Entscheidung vom 27. Februar 2006 den Einspruch der Klägerin als unbegründet zurück und führte aus: Es lasse sich nicht feststellen, ob die Klägerin auf Grund ihrer Behinderung nicht in der Lage sei, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Sie habe sich mit einem mindestens dreistündigen täglichen Leistungsvermögen dem allgemeinen Arbeitsmarkt bei der Arbeitsagentur F-Stadt zur Verfügung gestellt und beziehe laufend Geldleistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II. Es lägen eher arbeitsmarktliche Gründe vor, die auf Grund der Schwerhörigkeit die Ausübung einer Beschäftigung verhinderten. Die Aufnahme eines Ausbildungsverhältnisses scheitere indes an einem defizitären schulischen Grundwissen.

Mit ihrer am 23. März 2006 erhobenen Klage wiederholt die Klägerin ihr bisheriges Vorbringen und macht ergänzend geltend: Auf Grund ihrer Schwerhörigkeit gebe ihr auf dem heutigen Arbeitsmarkt niemand eine Chance, sich zu beweisen. Sie sei beim Arbeitsamt F-Stadt gemeldet. Sie habe einen 1EuroJob im Kindergarten angenommen, der bis August 2006 verlängert worden sei. Die Vermittlung gehe auf das Arbeitsamt und das Sozialamt zurück. Ab Juni 2006 nehme sie an einer Therapie teil, um sicherer zu werden. Sie stehe immer zwischen den Gesetzen, zu dumm für eine Ausbildung und zu wenig behindert für eine Behindertenwerkstatt.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 2. Februar 2006 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 27. Februar 2006 zu verpflichten, zugunsten ihrer Mutter Kindergeld ab September 2005 festzusetzen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie macht geltend: Das Vorbringen der Klägerin sei widersprüchlich. Da sie Arbeitslosenhilfe bzw. Arbeitslosengeld II beziehe, habe sie Leistungen in Anspruch genommen, die lediglich Erwerbstätigen zustünden. Dies schließe die Annahme eines behinderungsbedingten Außerstandeseins, sich selbst zu unterhalten, aus. Auch nach den vorliegenden ärztlichen Gutachten sei von einer Fähigkeit der Klägerin, vollschichtig leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben, auszugehen.

Vor der Berichterstatterin hat am 19.12.2006 ein Erörterungstermin stattgefunden. Hinsichtlich des Ergebnisses wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.

Das Gericht hat die Akten des Arbeitsamtes E-Stadt und des Versorgungsamtes Dortmund beigezogen sowie ein Gutachten der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. G. zu der Frage eingeholt, ob die Klägerin in der Lage ist, eine arbeitslosenversicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des in Betracht kommenden Arbeitsmarktes auszuüben. Auf das schriftliche Gutachten vom 4. Mai 2007 wird verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

I.

Die Klägerin ist klagebefugt. Sie gehört zwar selbst nicht zum Kreis der in § 64 des Einkommensteuergesetzes (EStG) genannten Kindergeldberechtigten. Jedoch räumt § 67 Satz 2 EStG neben den Anspruchsberechtigten auch solchen Personen ein Antragsrecht ein, die ein berechtigtes Interesse an der Leistung des Kindergeldes haben. Ein solches Interesse haben Personen, die die Auszahlung von Kindergeld an sich an Stelle der Auszahlung an den Berechtigten verlangen können. Das kann gemäß § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG auch ein Kind sein, wenn der Kindergeldberechtigte - wie dies vorliegend der Fall ist - seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Aus der eigenen Antragsbefugnis resultiert zugleich die Klagebefugnis (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 26. Januar 2001 VI B 310/00, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFH/NV - 2001, 896).

Da der Streitfall die Festsetzung eines fremden Steuervergütungsanspruchs gemäß § 67 Satz 2 EStG und nicht die hiervon gesondert zu behandelnde Frage der Auszahlungsberechtigung nach § 74 EStG zum Gegenstand hat, ist kein Fall einer notwendigen Beiladung gemäß § 60 Abs. 3 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO), wie er bei Streitigkeiten über die Frage der Auszahlungsberechtigung vom BFH angenommen wird (vgl. BFH-Urteil vom 9. Februar 2004 VIII R 21/03, BFH/NV 2004, 662), gegeben.

Der Mutter der Klägerin steht ein Kindergeldanspruch für die Klägerin ab September 2005 zu. Die Beklagte ist insoweit zur Gewährung von Kindergeld verpflichtet (§ 101 Satz 1 FGO).

Gemäß §§ 62 Abs. 1 Nr. 1, 63 Abs. 1 Satz 2, 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG wird ein im ersten Grad mit dem Steuerpflichtigen verwandtes Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, berücksichtigt, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außer Stande ist, sich selbst zu unterhalten und die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist. Die Klägerin ist unstreitig seit ihrer Geburt behindert. Ihr wurde ein GdB von 60 ab dem 21. November 2001 zuerkannt.

Ein behindertes Kind ist dann außer Stande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Der gesamte existenzielle Lebensbedarf des behinderten Kindes setzt sich aus dem allgemeinen Lebensbedarf als Grundbedarf und einem individuellen behindertenbedingten Mehrbedarf zusammen. Der Grundbedarf kann mit dem am Existenzminimum orientierten Betrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG (für 2005 beträgt dieser 7.680 Euro) beziffert werden (vgl. BFH-Urteil vom 16. März 2004 VIII R 88/02, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2004, 996). Zum behindertenbedingten Mehrbedarf gehören alle mit einer Behinderung unmittelbar und typischerweise zusammenhängenden Belastungen, z. B. allgemeine Hilfeleistungen, Erholung, typische Erschwernisaufwendungen. Erfolgt insoweit seitens des Steuerpflichtigen kein Einzelnachweis, so kann der maßgebliche Behindertenpauschbetrag (§ 33 b Abs. 1 bis 3 EStG) als Anhalt für den behindertenbedingten Mehrbedarf dienen (vgl. BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999 VI R 182/98, Bundessteuerblatt - BStBl - II 2000, 79). Für 2005 beträgt der Pauschbetrag bei einem GdB von 55 bis 60 720 Euro.

Im Streitfall decken die Einkünfte und Bezüge der Klägerin weder den Grundbedarf noch den behinderungsbedingten Mehrbedarf ab. Die Klägerin bezieht Arbeitslosengeld II und hatte lediglich zeitweise einen 1-Euro-Job.

Auch die erforderliche Kausalität zwischen der Behinderung der Klägerin und der Unfähigkeit, sich selbst zu unterhalten, ist gegeben. Ein behindertes Kind kann sowohl wegen der Behinderung als auch wegen der allgemeinen ungünstigen Situation auf dem Arbeitsmarkt oder wegen weiterer Umstände (z.B. mangelnde Mitwirkung bei der Arbeitsvermittlung) arbeitslos und damit außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Die Entscheidung ist nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zu beurteilen. Nach der Rechtsprechung des BFH kann die Ursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt entsprechend der Dienstanweisung der Kindergeldkassen grundsätzlich angenommen werden, wenn im Schwerbehindertenausweis oder im Feststellungsbescheid das Merkmal "H" (hilflos) eingetragen ist oder der Grad der Behinderung 50 v.H. oder mehr beträgt und besondere Umstände hinzutreten, auf Grund derer eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausgeschlossen erscheint (H 180d, erster Querstrich des Amtlichen Einkommensteuer-Handbuchs EStH - 2001; DA-FamEStG 63.3.6.3.1 Abs. 2 Satz 1, BStBl I 2002, 366, 369, 398). Es handelt sich bei diesen Regelungen um eine im Interesse der Rechtsanwendungsgleichheit vorgenommene Konkretisierung (vgl. BFH-Urteil vom 26. August 2003 VIII R 58/99, BFH/NV 2004, 326; BFH-Beschluss vom 14. Dezember 2001 VI B 178/01, BStBl II 2002, 486). Die in den Verwaltungsanweisungen erfolgte Konkretisierung und Pauschalisierung der Einzelfallprüfung führt in D-Stadt nicht zu deren Aufgabe. Ist nach den genannten Grundsätzen die Ursächlichkeit einer Behinderung für die Unfähigkeit eines Kindes zum Selbstunterhalt zu vermuten, kann die Einzelfallprüfung gleichwohl Umstände zu Tage fördern, die einen Ausnahmefall begründen und die Behinderung als causa für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt überlagern. Umgekehrt kann in Fällen, in denen die Voraussetzungen für die Vermutung des Kausalzusammenhanges zwischen Behinderung und Unfähigkeit zum Selbstunterhalt nicht gegeben sind, ein solcher Kausalzusammenhang nicht ohne Einzelfallprüfung ausgeschlossen werden. Das gilt auch dann, wenn das behinderte Kind grundsätzlich in der Lage ist, eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben und deshalb der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stand (vgl. BFH-Urteil vom 26. August 2003 VIII R 58/99, BFH/NV 2004, 326). Bei dem Bezug von Arbeitslosengeld II des Kindes ist die Schlussfolgerung, die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit könne nur auf Grund der Arbeitsmarktlage gescheitert sein, nicht gerechtfertigt. Der Bezug von Arbeitslosengeld II setzt zwar voraus, dass der Arbeitslose u.a. nach § 7 Abs. 1 Nr. SGB II erwerbsfähig ist und eine Erwerbsfähigkeit ist nach § 8 Abs. 1 SGB II gegeben, wenn die Fähigkeit besteht, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Aus der Bejahung dieser Voraussetzungen ergibt sich jedoch keine Bindungswirkung in dem Sinne, dass aus der festgestellten Erwerbsfähigkeit als Voraussetzung für den Bezug von Arbeitslosengeld II nur der Schluss gezogen werden kann, die Erwerbslosigkeit des Kindes sei zwangsläufig auf die allgemeine Lage auf dem Arbeitsmarkt zurück zu führen. Für die zu entscheidende Frage, ob ein Kind wegen seiner Behinderung außer Stande ist, sich selbst zu unterhalten, ist § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG seiner Funktion entsprechend, die verfassungsrechtlich gebotene steuerliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes bei den Eltern zu bewirken, eigenständig auszulegen. Dabei kommt der Entscheidung der Behörde, dem behinderten Kind Arbeitslosengeld II zu bewilligen zwar Indizwirkung zu, da aber nach der Rechtsprechung des BFH das Gesamtbild der Verhältnisse ausschlaggebend ist, sind auch die weiteren bekannt gewordenen Umstände in Betracht zu ziehen (vgl. Finanzgericht - FG - Baden-Württemberg Urteil vom 14. Juli 2004 13 K 7/03, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 2004, 1700, entgegen FG Köln Urteil vom 25. Juni 2004 10 K 6286/03, EFG 2004, 1782).

Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG muss die Behinderung nicht alleinige Ursache dafür sein, dass das Kind außer Stande ist, sich selbst zu unterhalten. Ausreichend ist, dass eine Mitursächlichkeit der Behinderung festgestellt werden kann (ebenso Sächsisches Finanzgericht, Urteil vom 26. September 2001, 5 K 1366/00 (Kg), EFG 2001, 1614 und Urteil vom 26. Juni 2006, 1 K 1565/04 (Kg), n.v.; FG Düsseldorf Urteil des Senats vom 8. Februar 2007 14 K 5101/05 Kg, Revisionsverfahren III R 16/07, EFG 2007, 1339). Um die Kindergeldberechtigung arbeitsloser oder unzureichend verdienender behinderter Kinder in Zeiten erhöhter Arbeitslosigkeit nicht leer laufen zu lassen, kann nicht gefordert werden, dass die Behinderung alleinige Ursache für die fehlende Möglichkeit zum Selbstunterhalt ist. In aller Regel ist die Arbeitsmarktsituation zumindest mitursächlich für den unzureichenden beruflichen Erfolg (vgl. Sächsisches FG Urteil vom 17. August 2004 3 K 2367/03 (Kg), EFG 2005, 391).

Nur in den Fällen, in denen ein anderer Umstand die Behinderung als Ursache dafür überlagert, dass die Einkünfte und Bezüge nicht zur Bestreitung des erforderlichen Lebensbedarfes ausreichen, entfällt eine Berücksichtigung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn einem behinderten Kind eine offene Stelle in einem Beruf angeboten wird, den es mit seiner Behinderung ausüben kann, und die Stelle geeignet ist, die Bestreitung des Lebensbedarfs des Kindes zu sichern. Tritt das Kind eine solche Stelle ohne triftige Gründe nicht an, wird seine mangelnde Mitwirkung bei der Arbeitsvermittlung und nicht mehr die Behinderung Ursache für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt sein. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die theoretische Möglichkeit einer Vermittelbarkeit des behinderten Kindes am allgemeinen Arbeitsmarkt nicht geeignet, die Ursächlichkeit der Behinderung für die im Ergebnis gleichwohl erfolglose Vermittlung zu beseitigen. Vielmehr kann was im Einzelfall zu prüfen ist gerade die Behinderung ursächlich dafür sein, dass ein behindertes Kind auf einem ungünstigen Arbeitsmarkt seinen Unterhalt nicht selbst verdienen kann.

Nach der Überzeugung des Senats ist im Streitfall nach den Gesamtumständen eine erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung der Klägerin für die fehlende Möglichkeit zum Selbstunterhalt festzustellen. Zwar war die Klägerin als arbeitslos gemeldet und hat Arbeitslosengeld II bezogen. Bis heute konnte ihr jedoch keine Arbeitsstelle auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt werden. Wenn die Klägerin berufliche Tätigkeiten ausgeübt hat, beruhten diese - wie etwa der 1-Euro-Job - auf staatlich geförderten Maßnahmen, aus denen sich keine Möglichkeit zum Selbstunterhalt ergibt. Die von der Klägerin absolvierten berufsbildenden Maßnahmen für Hörgeschädigte belegen, dass sich die Klägerin ständig intensiv um eine Fortbildung bemüht hat, um eine Ausbildungsstelle oder zumindest eine Arbeitsstelle zu erhalten.

Auch nach dem Gutachten der vom Gericht beauftragten Sachverständigen vom 4. Mai 2007 und den Feststellungen des Gutachters des Arbeitsamtes vom 8. Januar 2001 kann nicht angenommen werden, dass die Erwerbslosigkeit nur auf den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes beruht. Zwar hat die Sachverständige ebenso wie der Gutachter des Arbeitsamtes festgestellt, dass die Klägerin trotz einer Einschränkung ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit in der Lage sei, eine geistig einfache angelernte Tätigkeit wie z. B. Arbeiten im Lager, Verpackung, Hauswirtschaft und als Raumpflegerin vollschichtig auszuüben. Die Leistungseinschränkungen auf Grund ihrer Lernbehinderung wegen einer frühkindlichen Hirnschädigung und ihrer Schwerhörigkeit führen aber nach Ansicht des Senats zu einer erheblichen Einschränkung der Vermittlungschancen der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Diese ergeben sich daraus, dass die Klägerin auf Grund ihrer Schwerhörigkeit trotz der von ihr getragenen Hörgeräte nur normale Unterhaltungen - nicht aber leisere Gespräche - verfolgen kann und insbesondere eine Rechenschwäche besitzt. Eine erhebliche Beeinträchtigung folgt auch aus der eingeschränkten Konzentrationsfähigkeit. Des weiteren können negative Reaktionen von Personen wie Kollegen und Kunden auf Grund der Schwerhörigkeit und der sichtbar getragenen Hörgeräte nicht ausgeschlossen werden.

Die Sache ist spruchreif. Da die Klägerin ausweislich des Akteninhalts von Sozialhilfeleistungen lebt, kommt ein Überschreiten des maßgeblichen Grenzbetrages der Einkünfte und Bezüge nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht in Betracht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 115 Abs.2 Nr. 1 FGO).



Ende der Entscheidung

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