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Gericht: Finanzgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 10.11.2009
Aktenzeichen: 14 K 3927/08 Kg
Rechtsgebiete: EStG


Vorschriften:

EStG § 62 Abs. 1
EStG § 62 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 29.08.2008 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.09.2008 verpflichtet, dem Kläger für die Kinder Masoud und Hossein in der Zeit von September 2006 bis Juli 2008 Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger besitzt die iranische Staatsangehörigkeit. Nach dem Inhalt der vom Gericht beigezogenen Ausländerakte reiste der Kläger im Jahr 1999 in die Bundesrepublik ein und stellte am 31.05.1999 einen Asylantrag. Dieser wurde zunächst rechtskräftig abgelehnt und auch spätere Asylanträge des Klägers hatten keinen Erfolg. Im Rahmen dieser Verfahren wurden dem Kläger fortlaufend Duldungen erteilt. Auf Grund eines weiteren Antrages von September 2006 stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schließlich im Bescheid vom 06.08.2008 fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) hinsichtlich der islamischen Republik Iran vorliegen. Dem Kläger sei Flüchtlingsschutz zuzuerkennen, weil davon auszugehen sei, dass im Falle einer Rückkehr in die islamische Republik Iran der Kläger zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Vollstreckungsmaßnahmen im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt sein werde.

Am 24.01.2008 beantragte der Kläger die Festsetzung von Kindergeld für seine Kinder Masoud (geb. am 18.08.1999) und Hossein (geb. am 25.04.2003) und legte zugleich eine Haushaltsbescheinigung vor, wonach er und die Kinder in Duisburg gemeldet sind. Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers im Bescheid vom 26.05.2008 mit der Begründung ab, dass der Kläger nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels sei, der einen Anspruch auf Gewährung von Kindergeld begründe.

Gegen den Bescheid legte der Kläger am 18.06.2008 Einspruch ein, woraufhin die Beklagte den Bescheid vom 26.05.2008 im Bescheid vom 29.08.2008 aufhob. Mit weiterem Bescheid vom 29.08.2008 setzte die Beklagte Kindergeld für die beiden Kinder des Klägers ab August 2008 fest. Zur Begründung führte sie aus, dass der Kläger ab August 2008 anerkannter Flüchtling sei und somit die aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen für die Bezug von Kindergeld erfülle.

Gegen den Bescheid legte der Kläger am 09.09.2008 Einspruch ein und beantragte, Kindergeld auch für die Zeit von September 2006 bis Juli 2008 festzusetzen. Zur Begründung führte er aus, dass die Flüchtlingsanerkennung im August 2008 auf einem entsprechenden Asylfolgeantrag beruhe, der bereits im September 2006 gestellt worden sei. Es habe nicht in seiner Hand gelegen, wann das Bundesamt die Flüchtlingsanerkennung aussprechen werde. Bei früherer Entscheidung des Bundesamtes hätte vorher ein Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 2 AufenthG bestanden.

Die Beklagte wies den Einspruch in der Einspruchsentscheidung vom 15.09.2008 als unbegründet zurück.

Dagegen hat der Kläger am 13.10.2008 Klage erhoben und trägt zur Begründung ergänzend vor: Die Flüchtlingseigenschaft habe unabhängig vom Entscheidungsdatum des Bundesamtes seit der Antragstellung im September 2006 vorgelegen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verpflichten, ihm unter Änderung des Bescheides vom 29.08.2008 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.09.2008 Kindergeld für die Kinder Masoud und Hossein in der Zeit von September 2006 bis Juli 2008 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung führt sie aus. Die Kindergeldberechtigung nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer knüpfe gemäß § 62 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) an den Aufenthaltstitel an, den der Betroffene "besitzt", d. h. tatsächlich in den Händen halte. Ein bloßer Anspruch auf Erteilung einer anderen Art der Aufenthaltsgenehmigung begründe demgegenüber noch keinen Kindergeldanspruch. Der Gesetzeswortlaut sei eindeutig. Der Zubilligung des Aufenthaltstitels durch Verwaltungsakt komme Tatbestandswirkung für den Kindergeldanspruch zu.

Ein anderes Ergebnis lasse sich auch nicht aus der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs (DA-FamEStG) 62.4.2 Abs. 1 Satz 2 ableiten. Die genannte Regelung sei dahin auszulegen, dass nur anerkannte Flüchtlinge und Asylberechtigte einen Anspruch haben, sofern sie seit mindestens sechs Monaten im Vertragsstaat wohnten. Voraussetzung sei somit, dass zunächst eine Anerkennung als Flüchtling durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erfolgen müsse und erst im Anschluss daran entfielen, soweit der Flüchtling sich bereits sechs Monate im Bundesgebiet aufhalte, die zusätzlichen Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 EStG.

Die Beteiligten haben sich gemäß § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist begründet.

Die Ablehnung der Kindergeldfestsetzung in dem vom Kläger beantragten Umfang ist rechtswidrig und verletzt ihn in seinen Rechten (§ 101 Satz 1 FGO).

1. Zwar kann der Kläger als nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer nach der vom Senat in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) vertretenen Rechtsauffassung kein Kindergeld nach § 62 Abs. 2 EStG in der Fassung des Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss vom 13.12.2006 (Bundesgesetzblatt - BGBl I 2006, 2915), die nach § 52 Abs. 61a Satz 2 EStG auf alle Fälle anzuwenden ist, in denen Kindergeld noch nicht rechtskräftig festgesetzt ist, beanspruchen. Denn das Aufenthaltsrecht des Klägers beruhte im Streitzeitraum September 2006 bis Juli 2008 lediglich auf Duldungen (vgl. Grundsatzurteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 15.03.2007 III R 93/03, Sammlung der Entscheidung des Bundesfinanzhofs - BFHE - 217, 443; Finanzgericht - FG - Düsseldorf vom 10.06.2008 14 K 2182/06 Kg, n. v.). Der Kläger besaß damit keinen der in § 62 Abs. 2 EStG genannten Aufenthaltstitel. Unmaßgeblich ist, ob auf Grund der im August 2008 anerkannten Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG schon zu einem früheren Zeitpunkt eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG hätte erteilt werden können. Denn maßgeblich ist nach der Rechtsprechung des BFH, der der Senat folgt, im Hinblick auf die Tatbestandswirkung der ausländerrechtlichen Entscheidung der Zeitpunkt der Erteilung des Aufenthaltstitels (vgl. BFH-Beschlüsse vom 18.12.1998 VI B 221/98, BFHE 187, 562, Bundessteuerblatt - BStBl - II 1999, 140; vom 20.02.19998 VI B 205/97, Sammlung aller nichtamtlich und amtlich veröffentlichten Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFH/NV - 1998, 963; vom 01.12.19997 VI B 147/97, BFH/NV 1998, 696 und vom 14.08.1997 VI B 43/97, BFH/NV 1998, 169).

2. Der Kläger hat jedoch als Flüchtling im Sinne der Genfer Konvention nach Art. 2 des Vorläufigen Europäischen Abkommens über Soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zu Gunsten der Hinterbliebenen vom 11.12.1953 (Bundesgesetzblatt - BGBl - II 1956, 507) i. V. m. Art. 2 des Zusatzprotokolls einen Kindergeldanspruch nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG.

Der bundesdeutsche Gesetzgeber hat dem Vorläufigen Europäischen Abkommen mit Gesetz vom 07.05.1956 zugestimmt (BGBl II 1956, 507) und damit innerstaatliche Geltung verliehen (Art. 59 Abs. 2 des Grundgesetzes - GG -). Entgegen seiner ursprünglichen Intention als "vorläufiges" Abkommen (vgl. hierzu seine Präambel) ist das Vorläufige Europäische Abkommen nach wie vor gültig (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 23.09.2004 B 10 EG 3/04 R, Sammlung der Entscheidungen des Bundessozialgerichts - BSGE - 93, 194). Insbesondere ist keine Kündigung des Abkommens nach dessen Art. 16 erfolgt.

Das Abkommen ist auf den Kläger anzuwenden. Nach Art. 2 Satz 1 des Zusatzprotokolls vom 11.12.1953 (BGBl II 1956, 347) findet das Abkommen auch auf Flüchtlinge im Sinne des Art. 1 des Genfer Abkommens unter den gleichen Voraussetzungen Anwendung, wie auf die Staatsangehörigen der Vertragschließenden. Ein Ausländer ist gemäß § 3 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) Flüchtling i. S. des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Ein - wie der Kläger anerkannter Flüchtling nach § 60 Abs. 1 AufenthG - hat somit den Status eines Konventionsflüchtlings, also eines Ausländers, der in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention Abschiebeschutz genießt, ohne einen Anspruch auf Asyl nach Art. 6a GG zu haben (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., § 60 AufenthG Rz.23; Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 2. Aufl., Rz. 702).

Gemäß Art. 1 Abs. 1 Buchst. d findet das Abkommen Anwendung auf alle Gesetze und Regelungen über soziale Sicherheit, die in jedem Teil des Gebietes der Vertragschließenden am Tage der Unterzeichnung Geltung haben oder in der Folge in Kraft treten und sich unter anderem auf Familienbeihilfen beziehen. Der Gewährleistungsanspruch nach den Art. 2 Abs. 1 Buchst. d, Art. 1 Abs. 1 Buchst. d des Abkommens i. V. m. dem Zusatzprotokoll, also die Gleichstellung mit einem deutschen Staatsangehörigen, umfasst dabei nach einhelliger Auffassung auch das nach deutschen Recht zu gewährende Kindergeld, dessen Leistung nicht auf Beiträgen beruht und welches sich als Familienbeihilfe im Sinne des Abkommens darstellt (BSG, BSGE 93, 194; FG Düsseldorf Urteil vom 23.06.2006 18 K 1773/05 Kg, n. v.; DA-FamEStG 62.4.3 Abs. 4 Satz 4, BStBl I 2007, 489). Denn durch das Schreiben des Ständigen Vertreters der Bundesrepublik Deutschland vom 19.08.1956 (vgl. hierzu Art. 7 Abs. 2 Vorläufiges Europäisches Abkommen; die Liste der Erklärungen zu diesem Abkommen ist aufrufbar unter www.conventions.coa.int/treaty) ist der Anhang I des Abkommens auf "family allowances" erweitert worden. In den nachfolgenden bundesdeutschen Bekanntmachungen über das Inkrafttreten sowie über den Geltungsbereich des Vorläufigen Europäischen Abkommens vom 08.01.1958 (BGBl II 1958 18, 19) und der Bekanntmachung der Neufassung der Anhänge I, II und III vom 08.03.1972 (BGBl II 1972, 175, 177) und vom 17.01.1985 (BGBl II 1985, 311, 313) wird dann in der deutschen Übersetzung der Begriff "Kindergeld" angeführt.

Neben der Flüchtlingseigenschaft sind - abgesehen von einem vorliegend unstreitig gegebenen sechsmonatigen Wohnen - weder nach dem Abkommenswortlaut noch nach der zur Abkommensauslegung heranzuziehenden Zielsetzung des Abkommens (vgl. zu den Auslegungsgrundsätzen Art. 31 Wiener Übereinkommen vom 23.05.1969 über das Recht der Verträge, Wiener Vertragsrechtskonvention, BGBl 1985 II, 926, BSG, BSGE, 93, 194) weitere Voraussetzungen für die Gleichstellung zu erfüllen. Für die Zielsetzung des Abkommens ist insbesondere dessen Präambel maßgeblich, wonach das Abkommen dem "Grundsatz der Gleichbehandlung der Angehörigen aller Vertragsschließenden" dient. Daraus folgt, dass es das Ziel der Vertragsschließenden war, in dem geregelten Umfang eine Gleichstellung mit Inländern zu erreichen. Damit scheidet eine besondere Ausländerbehandlung aus und es kann kein spezifischer Aufenthaltstitel als Anspruchsvoraussetzung verlangt werden (vgl. Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, II Kommentierung Abkommen, Vor. Europ. Abkommen D Rz. 4; Lange/Novak/Sander/Stahl/Weinhold, Kindergeldrecht im öffentlichen Dienst, Erl.D III § 62 EStG Rz. 115 und 119).

Auch nach der Dienstanweisung der Beklagten DAFamEStG 62.4.2 Abs. 1 Satz 2 haben anerkannte Flüchtlinge nach dem Genfer Flüchtlingskonventionen unabhängig davon, ob der Aufenthaltstitel bereits erteilt wurde, einen Anspruch auf Leistungen des Vertragsstaates unter denselben Bedingungen wie dessen Staatsangehörige, sofern sie seit mindestens sechs Monaten im Vertragsstaat wohnen. Nach DAFamEStG 62.4.3 Abs. 1 Satz 3 ist das Vorläufige Europäische Abkommen zudem - entgegen der von der Beklagten im Streitfall vertretenen Auffassung - auch rückwirkend auf Zeiträume anwendbar, die vor dem Zeitpunkt der unanfechtbaren Anerkennung, aber nach Ablauf der 6-Monats-Frist liegen.

Der Kläger erfüllt schließlich auch die für Inländer geltenden Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG, denn er besaß im Inland seinen Wohnsitz und die Kinder hatten nach § 63 Abs. 1 Nr. 3 EStG ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zugelassen. Der BFH hat über die Frage des Umfangs von Kindergeldansprüchen anerkannter Flüchtlingen noch nicht entschieden (vgl. BFH-Urteil vom 25.10.2007 III R 90/03, BFHE 219, 540, BFH/NV 2008, 286).

Ende der Entscheidung

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