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Gericht: Finanzgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 12.01.2006
Aktenzeichen: 14 K 4361/05 Kg
Rechtsgebiete: EStG, BVerfGG, VwVfG, AO


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 4 Satz 2
EStG § 70
BVerfGG § 79 Abs. 2
AO § 89
AO § 110
AO § 121 Abs. 1
AO § 126 Abs. 3
AO § 130
AO § 131
AO § 172 Abs. 1 Ziff. 2 d
AO § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
VwVfG § 48
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tatbestand

Der Kläger bezog fortlaufend Kindergeld für seine am 20. Januar 1984 geborene Tochter Angela, die sich in den Jahren 2003 und 2004 in einer Berufsausbildung befand.

Nach der Vorlage der Gehaltsabrechnung der Tochter für das Jahr 2003 hob der Beklagte im Bescheid vom 8. Juni 2004 die Kindergeldfestsetzung rückwirkend ab 1. Januar 2003 gemäß § 70 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf. Zur Begründung führte er aus, es sei nachträglich bekannt geworden, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den für das Jahr 2003 maßgeblichen Grenzbetrag von 7.188 Euro überschreiten.

Am 25. Juni 2005 beantragte der Kläger die Gewährung von Kindergeld für die Jahre 2003 und 2004 und machte geltend, in beiden Jahren lägen die Ausbildungsvergütungen abzüglich der Werbungskostenpauschale und Sozialversicherungsbeiträge mit 6.036 Euro bzw. 6.647 Euro unter den maßgeblichen Einkunftsgrenzen.

Der Beklagte nahm im Bescheid vom 18. August 2005 lediglich eine Kindergeldfestsetzung ab dem 1. Juli 2004 vor und lehnte im Übrigen eine Festsetzung ab. Einem Kindergeldanspruch für die Zeit vor Juli 2004 stehe die Bindungswirkung des Bescheides vom 8. Juni 2004 entgegen.

Gegen den Bescheid legte der Kläger fristgerecht Einspruch ein. Zur Begründung machte er geltend, aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ergebe sich, dass der Bescheid vom 8. Juni 2004 rechtswidrig gewesen sei. Deshalb könne er auch keine Bestandskraft entwickeln. Zudem sei in dem Bescheid nur dass Kindergeld für das Jahr 2003 abgelehnt worden, nicht aber für das Jahr 2004.

In der Einspruchsentscheidung vom 21. September 2005 wies der Beklagte den Einspruch zurück und führte aus: Die Bestandskraft des Bescheides vom 8. Juni 2004 bestehe bis einschließlich des Monats seiner Bekanntgabe, vorliegend also bis Juni 2004. Die Änderung einer bestandskräftigen Kindergeldfestsetzung sei nur möglich, wenn als Rechtsgrundlage eine Korrekturnorm existiere, was hier nicht der Fall sei.

§ 70 Abs. 2 EStG greife nicht, da die Änderung einer Rechtsauffassung, wie sie durch den Beschluss des BVerfG vom 11. Januar 2005 eingetreten sei, keine Änderung in der für die Kindergeldfestsetzung erheblichen Verhältnisse darstelle.

§ 70 Abs. 3 EStG ermögliche nur eine zukünftige Korrektur auf Grund materieller Fehler der letzten Festsetzung.

Gemäß § 70 Abs. 4 EStG sei die Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt werde, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG über- oder unterschritten. Vorliegend fehle es an einer solchen nachträglichen Änderung der Einkünfte-/Bezügesituation.

Schließlich scheide auch eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) aus, da die Änderung einer Rechtssauffassung keine neue Tatsache darstelle.

Mit seiner am 19. Oktober 2005 erhobenen Klage macht der Kläger geltend:

Auf Grund der Entscheidung des BVerfG stehe nachträglich fest, dass Sozialversicherungsbeiträge nicht in die Bemessungsgrundlage bei der Ermittlung der Einkünfte und Bezüge einzubeziehen seien. Da das BVerfG ausgeführt habe, dass die steuerrechtliche Norm schon immer entsprechend seiner Entscheidung auszulegen gewesen sei, hätten von Anfang an keine Einkünfte vorgelegen, die den Grenzbetrag überschritten. § 70 Abs. 4 EStG und § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO seien deshalb nicht einschlägig.

Darüber hinaus sei der Beklagte nach § 48 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) zu einer Korrektur der rechtswidrigen Entscheidung verpflichtet. Die genannte Vorschrift finde als allgemeine Regelung auch auf Kindergeldfestsetzungen Anwendung, da die Kindergeldvorschriften des EStG eine reine Rechtswegzuweisung darstellten.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 18. August 2005 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21. September 2005 zu verpflichten, Kindergeld für das Kind Angela zusätzlich von Januar 2003 bis Juni 2004 festzusetzen,

hilfsweise, die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung nimmt er Bezug auf die Einspruchsentscheidung.

Gründe

Die Klage ist teilweise begründet.

Der Kläger hat auf Grund seines Antrages vom 25. Juni 2005 einen Anspruch auf Kindergeld auch für den Zeitraum Januar 2004 bis Juli 2004. Insoweit hindert die Bestandskraft des Aufhebungsbescheides vom 8. Juni 2004 die Kindergeldgewährung nicht, da § 70 Abs. 4 EStG eine entsprechende Korrektur ermöglicht. Für das Jahr 2003 steht demgegenüber einer Kindergeldfestsetzung die Bindungswirkung des vorgenannten Bescheides entgegen und es ist auch keine der Korrekturnormen des EStG oder der AO einschlägig.

Materiell-rechtlich sind die Voraussetzungen für ein Kindergeldanspruch sowohl im Jahr 2003 als auch im Jahr 2004 erfüllt. Im Streitfall hat sich nach Erlass des Aufhebungsbescheides herausgestellt, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes unter Berücksichtigung der nach dem Beschluss des BVerfG vom 10. Januar 2005 2 BvR 167/02 (Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFH/NV - 2005, Beilage 3, 260 bis 266) nicht in die Bemessungsgröße des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einzubeziehenden gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge die maßgeblichen Grenzbeträge von 7.188 Euro für 2003 und 7.680 Euro für 2004 unterschreiten. Dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) kommt einer bestandskräftigen Entscheidung über die Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung Bindungswirkung bis zum Ende des Monats seiner Bekanntgabe, vorliegend also bis Juni 2004 zu. Auf einen danach erneut gestellten Antrag kann - soweit keine die Bestandskraft durchbrechende Korrekturnorm einschlägig ist - Kindergeld nur rückwirkend ab dem auf die Bekanntgabe des Bescheides folgenden Monat bewilligt werden (vgl. BFH-Urteile vom 25. Juli 2001 VI R 78/98, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFHE - 96, 253, Bundessteuerblatt - BStBl - II 2002, 88; vom 28. Januar 2004 VIII R 12/03, BFH/NV 2004, 786).

Der Bescheid vom 8. Juni 2004 ist bestandskräftig. Der Kläger hat gegen den Bescheid, der mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehen ist, nicht innerhalb der Monatsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 AO Einspruch eingelegt.

Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO sind nicht erfüllt. Der neue Antrag vom 25. Juni 2005 könnte zwar möglicherweise als Einspruch und somit als Nachholung der versäumten Rechtshandlung i. S. des § 110 Abs. 2 Satz 3 AO angesehen werden. Auch war die Jahresfrist seit dem Ende der versäumten Handlung (§ 110 Abs. 3 Satz 1 AO) im Zeitpunkt der Antragstellung noch nicht abgelaufen.

Jedoch war der Kläger nicht ohne Verschulden gehindert, die gesetzliche Frist - hier die Einspruchsfrist - einzuhalten. Eine Fristversäumnis ist nur dann als entschuldigt anzusehen, wenn sie durch die äußerste, den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhindert werden konnte (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 20. Februar 2001 IX R 48/98, BFH/NV 2001, 1010). Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH kann ein Irrtum über die materielle Rechtslage eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand grundsätzlich nicht rechtfertigen (vgl. BFH-Urteil vom 9. November 1990 III R 103/98, BFHE 162, 183, BStBl II 1991, 168). Diese Auffassung hält der Senat für zutreffend, weil in diesen Fällen regelmäßig nur ein Irrtum über die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs vorliegt. Da das Steuerrecht davon ausgeht, dass es grundsätzlich Sache des Adressaten eines Verwaltungsaktes ist, seine Interessen durch die fristgerechte Einlegung von Rechtsbehelfen und Rechtsmitteln zu wahren, muss dieser auch das Risiko für seine Handlungen bzw. Unterlassungen tragen.

Dieser Grundsatz gilt auch in Fällen wie dem Streitfall, in dem sich der Kläger letztlich über die Verfassungsmäßigkeit bzw. Verfassungswidrigkeit eines Steuergesetzes irrte. Diese Auffassung findet ihre Bestätigung in § 79 Abs. 2 Satz 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGE). Danach können nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, in ihrer Existenz nicht mehr in Frage gestellt werden. Das BVerfG entnimmt § 79 Abs. 2 BVerfGG den allgemeinen Vorrang der Erhaltung des Rechtsfriedens, auch wenn er zur Beibehaltung der Wirkungen fehlerhafter Akte der öffentlichen Gewalt führt (vgl. BVerfG-Beschluss vom 21. Mai 1974, 1 BvL 22/71, Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts

- BVerfGE - 37, 217, 263; zuletzt auch Beschluss vom 6. Dezember 2005 1 BvR 1905/02, Pressemitteilung Nr. 129/2005). § 79 Abs. 2 BVerfGG ist entsprechend anzuwenden, wenn das BVerfG nicht die Norm selbst, sondern eine bestimmte Auslegungsvariante der Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hat (vgl. BVerfG-Beschluss vom 6. Dezember 2005, a.a.O.). Diese Regelung bedeutet für das Steuerrecht, dass eine Nichtigkeitserklärung oder verfassungskonforme Auslegung nur denjenigen zugute kommt, die gegen die auf dieser Norm beruhenden Steuerbescheide Rechtsbehelfe oder Rechtsmittel eingelegt haben. Eine andere Beurteilung stünde im Widerspruch zu dem vom Gesetzgeber im § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG erlassenen "Wiederaufrollungsverbot" (vgl. Urteil des Finanzgerichts - FG - Nürnberg vom 23. Oktober 1992 VII 83/92, n. v., juris-Dokument Nr. DVRE000120671). Der Ausgleich fehlerhafter rechtlicher Beurteilungen ist nicht Aufgabe der Wiedereinsetzungsvorschriften (vgl. BFH, BFHE 162, 183, BStBl II 1991, 168).

Eine Ausnahme gilt nur für den Fall, dass die Rechtslage im höchsten Maße unsicher ist und die Frist versäumt wird, weil es der Betroffene aufgrund vertretbarer rechtlicher Überlegungen unterlässt, einen Rechtsbehelf einzulegen (vgl. BFH-Urteil vom 14. Dezember 1989 III R 116/85, BFH/NV 1990, 530). Dieser Ausnahmefall greift hier schon deshalb nicht, weil der Kläger nicht geltend macht, er hätte nach dem Ergehen des Bescheides vom 8. Juni 2004 eine Rechtslage vorgefunden, die unsicher gewesen sei und es deshalb von ihm unterlassen worden sei, Einspruch einzulegen.

Der für die verspätete Einspruchseinlegung ursächliche Rechtsirrtum ist auch nicht deshalb entschuldbar, weil er durch ein Verhalten der Behörde veranlasst worden ist. Ein Fehlverhalten des Beklagten käme allenfalls dann in Betracht, wenn er es pflichtwidrig unterlassen hätte, den Kläger auf die verfassungsrechtlichen Bedenken und die spätestens ab Februar 2002 anhängige Verfassungsbeschwerde hinzuweisen (§ 89 AO) oder seiner Begründungspflicht (§§ 121 Abs. 1, 126 Abs. 3 AO) nicht nachgekommen wäre (dies bejahend Geckle/Schneider, Die Information über Steuer und Wirtschaft 2005, 495). Nach § 89 AO trifft die Behörde die Verpflichtung, die Beteiligten bei der Abgabe von Erklärungen und der Stellung von Anträgen zu beraten, wenn diese offensichtlich nur versehentlich oder aus Unkenntnis unterblieben oder unrichtig abgegeben worden sind, und den Beteiligten, soweit erforderlich, über ihre Rechten und Pflichten Auskunft zu geben. Die Auskunfts- und Betreuungspflichten sind auf die formellen Rechte und Pflichten der Beteiligten beschränkt (vgl. Klein/Brockmeyer, AO, 8. Aufl., § 89 Rn. 4; Kurella in Pump/Leibner, AO, § 89 Rz.9; a. A. Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 89 Rz. 37). Eine Verpflichtung, den Bürger unaufgefordert auf die materielle Rechtlage hinzuweisen, kann aus § 89 AO nicht abgeleitet werden (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 2. Oktober 2003 III ZR 420/02, Die öffentliche Verwaltung, 2004, 217). Ebenso hat der Beklagte seine Begründungspflicht gemäß § 121 Abs. 1 AO nicht verletzt, indem er keinen Hinweis auf das Verfahren vor dem BVerfG erteilt hat. Nach § 121 Abs. 1 AO ist ein Bescheid zu begründen, soweit dies zu seinem Verständnis erforderlich ist. Dem Bescheid vom 8. Juni 2004 ist die Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung zu entnehmen. Weshalb der Beklagte diese Rechtsauffassung vertreten hat, musste er nicht im Einzelnen darlegen. Insoweit wäre es Sache des Klägers gewesen, auf Grund der Begründung die Hintergründe zu erfragen und - im Einspruchsverfahren - dazu Stellung zu nehmen.

Eine Änderungsmöglichkeit des vorausgegangenen bestandskräftigen Bescheides besteht nur für den Zeitraum Januar 2004 bis Juni 2004 gemäß § 70 Abs. 4 EStG. Nach dieser Änderungsvorschrift ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG über- oder unterschreiten. Die Vorschrift soll sicher stellen, dass eine Kindergeldfestsetzung für ein volljähriges Kind auch nach Ablauf des Kalenderjahres korrigiert werden kann, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag entgegen einer früheren Prognose der Familienkasse über- oder unterschreiten. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass eine steuerliche Entscheidung wegen des Jährlichkeitsprinzips grundsätzlich rückblickend erfolgt, die Steuervergütung für Kindergeld jedoch bereits im Laufe des Kalenderjahres monatlich gezahlt wird (Bundestagsdrucksache 14/6160, S. 14) und eine abschließende Entscheidung darüber, ob die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag überschreiten oder nicht, regelmäßig erst nach Ablauf des betreffenden Kalenderjahres getroffen werden kann (vgl. BFH-Urteile vom 26. Juli 2001 VI R 55/00, BFHE 196, 270, BStBl II 2002, 86; vom 30. November 2004 VIII R 6/03, BFH/NV 2005, 890). Vor Ablauf des Kalenderjahres steht die tatsächliche Höhe der Einkünfte und Bezüge zwangsläufig nicht fest, vielmehr ist insoweit nur eine mehr oder weniger sichere Prognose möglich, nach der die Familienkasse die Entscheidung über die Gewährung oder Nichtgewährung des Kindergeldes für das noch laufende Kalenderjahr trifft. Insofern wird die tatsächliche Höhe der Einkünfte und Bezüge nach Ablauf des betreffenden Kalenderjahres gegenüber der Prognoseentscheidung zwangsläufig nachträglich bekannt. Damit eröffnet § 70 Abs. 4 EStG stets eine Berichtigungsmöglichkeit, soweit die abschließende Überprüfung nach Ablauf des Jahres ein Unter- oder Überschreiten des Grenzbetrages abweichend von der Prognoseentscheidung ergibt. Dies gilt nach der vom Senat als zutreffend erachteten Entscheidung des BFH vom 26. Juli 2001 VI R 55/00 (a. a. O.) auch dann, wenn die Familienkasse bei ihrer Prognoseentscheidung voraussichtliche Aufwendungen des Kindes als Werbungskosten berücksichtigt hat, die bei abschließender Prüfung nicht als Werbungskosten abzugsfähig sind, insoweit also ihre Rechtsauffassung geändert hat. Entsprechendes muss auch für den umgekehrten Fall gelten, dass bestimmte Aufwendungen im Rahmen der Prognoseentscheidung als nicht abzugsfähig behandelt wurden, was sich nachträglich als rechtlich unzutreffend herausstellt. Insofern tragen derartige Prognoseentscheidungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht den Charakter der Vorläufigkeit in sich. Der Auffassung des Beklagten und gegenteiligen Literaturmeinungen (vgl. DAFamEStG 70.6 Satz 6 1. Spiegelstrich; Seewald/Felix, Kindergeldrecht, § 70 EStG Rn. 72; Lange/Novak/Sander/Stahl/Weinhold, Kommentar zum Kindergeldrecht im öffentlichen Dienst, § 70 EStG III/A. 90, S. 88), wonach § 70 Abs. 4 EStG deshalb nicht zum Tragen komme, weil die auf Grund des Beschlusses des BVerfG geänderte Rechtsauffassung kein nachträgliches Bekanntwerden im Sinne der Vorschrift darstelle, vermag der Senat demgegenüber nicht zu folgen.

Nach den vorstehenden Grundsätzen handelt es sich bei der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung im Bescheid vom 8. Juni 2004 für das Jahr 2004 um eine Prognoseentscheidung des Beklagten, die auf Grund des nachträglichen Bekanntwerdens des Unterschreitens des Grenzbetrages abzuändern ist.

Demgegenüber stellt die behördliche Entscheidung für das Jahr 2003 keine Prognoseentscheidung dar und ist deshalb einer Änderung nach § 70 Abs. 4 EStG nicht zugänglich. Zum Zeitpunkt der Entscheidung im Juni 2004 war der maßgebliche Beurteilungszeitraum für die Einkommensgrenze bereits abgelaufen, sodass die Entscheidung keine Prognose zum Inhalt hatte. Das fehlende Bekanntsein der Verpflichtung, die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge nicht in die Bemessungsgrundlage einzubeziehen, rechtfertigt nach Ablauf des Prognosezeitraums keine Änderung nach § 70 Abs. 4 EStG (anders wohl Geckle/Schneider, a.a.O.).

Für das Jahr 2003 ergibt sich eine Änderungsmöglichkeit auch nicht aus § 70 Abs. 2 EStG. Danach ist die Festsetzung von Kindergeld zu ändern oder aufzuheben, soweit sich die für den Anspruch auf Kindergeld erheblichen Verhältnisse nach Ergehen der Festsetzung geändert haben (vgl. BFH-Urteil vom 26. Juli 2001 VI R 164/98, BFHE 196, 257, BStBl II 2002, 89). Die Aufhebung der Änderung erfolgt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse. Eine Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 70 Abs. 2 EStG ist die Änderung der (persönlichen) tatsächlichen oder auch rechtlichen Verhältnisse des Anspruchsberechtigten oder des Kindes (vgl. BFH-Urteil vom 25. Juli 2001, VI R 18/99, BFHE 196, 260, BStBl II 2002, 81; Beschluss des FG Düsseldorf vom 14. April 1998 14 V 904/98 A (KG), Entscheidungen der Finanzgerichte 1998, 1072). Ändern sich die Verhältnisse, die der ursprünglich rechtmäßigen Kindergeldfestsetzung zugrunde lagen, wird die Festsetzung in der Regel rechtwidrig. Es besteht deshalb die Notwendigkeit, die Festsetzung durch Aufhebung oder Änderung den tatsächlichen Verhältnissen anzupassen. Die Vorschrift ist eine spezialgesetzliche Regelung zur Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung bei nachträglicher Veränderung der Verhältnisse. Die Vorschrift greift nicht, wenn nachträglich festgestellt wird, dass das Recht von Anfang an unrichtig angewandt worden ist, also eine fehlerhafte Rechtsanwendung korrigiert werden soll (vgl. Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach, Kommentar zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer, § 70 Anm. 13; Felix in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 70 Rdnr. C 8; anders im Hinblick auf den Beschluss des BVerfG vom 10. Januar 2005 2 BvR 167/02 wohl Wenner, Soziale Sicherheit 2005, 176 ohne nähere Begründung).

Im Streitfall liegt eine Änderung der maßgeblichen Verhältnisse nicht vor. Die eigenen Einkünfte der Tochter haben sich gegenüber den Verhältnissen im Zeitpunkt der Entscheidung des Beklagten im Juni 2004 nicht geändert. Der Beklagte ist lediglich zunächst zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Sozialversicherungsbeiträge in der Grenzbetragsberechnung nicht zum Ansatz kommen.

Eine Änderungsmöglichkeit besteht auch nicht nach § 70 Abs. 3 EStG. Nach dieser Vorschrift können materielle Fehler der letzten Festsetzung durch Neufestsetzung oder durch Aufhebung der Festsetzung beseitigt werden. Neu festgesetzt oder aufgehoben wird mit Wirkung ab dem auf die Bekanntgabe der Festsetzung oder der Aufhebung der Festsetzung folgenden Monat. Die Vorschrift setzt nach ihrem Wortlaut eine positive Kindergeldfestsetzung voraus und kann daher zur Korrektur eines rechtswidrigen Ablehnungs- oder Aufhebungsbescheides - wie im Streitfall - nicht herangezogen werden (vgl. BFH-Urteile vom 25. Juli 2001 VI R 78/98, BFHE 196/253, BStBl II 2002, 88; vom 21. Januar 2004 VIII R 15/02, BFH/NV 2004, 910).

Als Rechtsgrundlage für eine Änderung der Kindergeldfestsetzung 2003 kommt auch § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO nicht in Betracht. Die Vorschrift findet grundsätzlich neben den Änderungsvorschriften des EStG Anwendung (vgl. BFH, BFHE 196, 260, BStBl II 2002, 81 m. w. N.). Nach ihr sind Steuerbescheide bzw. Kindergeldbescheide als Festsetzung einer Steuervergütung (§§ 31 Satz 3 EStG, 155 Abs. 4 AO) aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer bzw. vorliegend höheren Steuervergütung führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden trifft, dass die Tatsachen/Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. "Tatsache" ist jeder Lebensvorgang, der insgesamt oder teilweise den gesetzlichen Steuertatbestand oder ein gesetzliches Merkmal dieses Tatbestandes erfüllt, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (vgl. BFH-Urteile vom 31. März 1981 VII R 1/79, BFHE 133, 13, BStBl II 1981, 507; vom 28. September 1984 VI R 48/82, BFHE 141, 532, BStBl II 1985, 117). Nicht erfasst werden rechtliche Beurteilungen sowie die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Steuergesetzes durch das BVerfG (vgl. BFH-Urteil vom 18. März 1988 V R 206/83, BFH/NV 1990, 1; Tipke/Kruse, a.a.O., § 173 AO Tz. 3). Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH führen Tatsachen nur dann zu einer niedrigeren Steuer i. S. des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO, wenn die Behörde bei rechtzeitiger Kenntnis der Tatsache schon bei der ursprünglichen Veranlagung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer anderen Steuer gelangt wäre (vgl. Beschluss des Großen Senats des BFH vom 23. November 1987 1 GrS 1/86, BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180; BFH-Urteil vom 20. Juni 2001 VI R 70/00, BFH/NV 2001, 1527; a. A. Tipke/Kruse, a. a. O., § 173 AO Tz. 55). Denn § 173 AO bietet keine Rechtsgrundlage für die Beseitigung von Rechtsfehlern (vgl. BFH-Beschluss vom 14. September 2005 VI R 18/03, n. v., juris-Dokument Nr. STRE200551465). Vorliegend fehlt es bereits an der Voraussetzung eines nachträglichen Bekanntwerdens, da die Tatsache der Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen durch die Tochter des Klägers dem Beklagten bereits vor dem Erlass des Bescheides vom 8. Juni 2004 bekannt war. Denn der Kläger hatte mit der Erklärung zu den Einkünften und Bezügen seiner Tochter vom 17. Mai 2004 zugleich eine Lohn- und Gehaltsabrechnung für das Jahr 2003 vorgelegt.

Die Regelungen der §§ 130 und 131 AO gelten für Kindergeldfestsetzungen nicht (§§ 31 Satz 3 EStG, 155 Abs. 4 AO i. V. m. § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 d, 2. Halbsatz AO).

Eine Korrektur kommt schließlich auch nicht nach § 48 VwVfG in Betracht. Das Kindergeld ist nach dem X. Abschnitt des EStG als Steuervergütung ausgestaltet und unterliegt nicht den Vorschriften des VwVfG sondern nur der AO (vgl. BFH-Beschluss vom 19. Januar 2004 VIII B 238/03, n. v., juris-Dokument Nr. STRE200450108).

Die Frage einer abweichenden Festsetzung des Kindergeldes gemäß § 163 AO aus Billigkeitsgründen ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. Die Festsetzung von Kindergeld nach den gesetzlichen Vorschriften und die abweichende Festsetzung aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 AO sind zwei Verwaltungsakte, die in zwei gesonderten, wenn auch ggf. gleichzeitigen Verfahren vorzunehmen sind (vgl. BFH-Beschlüsse vom 8. Juli 1998 I B 111/97, BFHE 186, 313, BStBl II 1998, 702; vom 21. Januar 2003 VIII B 202/02, n. v., juris-Dokument Nr. STRE200350304).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) zuzulassen.

Ende der Entscheidung

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