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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 05.04.2006
Aktenzeichen: 14 K 4432/05 Kg
Rechtsgebiete: EStG


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 4 Satz 2
EStG § 70 Abs. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tatbestand

Streitig ist, ob dem Kläger Kindergeld für den Zeitraum Januar bis April 2005 gewährt werden kann.

Der Kläger ist Vater der am 13.03.1986 geborenen Tochter Anna. Die Tochter befand sich seit dem 01.09.2004 in einer Ausbildung zur Industriekauffrau. Sie bezog im Jahre 2005 ein Bruttogehalt von 10.219 €. Ausweislich des Einkommensteuerbescheides 2005 der Tochter belaufen sich die Werbungskosten auf insgesamt 1.613 €. Die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge betragen nach der vorliegenden Verdienstbescheinigung insgesamt 2.188 €.

Mit der Erklärung zu den voraussichtlichen Einkünften und Bezügen der Tochter für das Kalenderjahr 2005 vom 11.03.2005 hatte der Kläger einen Bruttoarbeitslohn von 9.457 € erklärt und keine Angaben zu den Werbungskosten gemacht. Der Beklagte errechnete danach im Rahmen einer Prognose eine voraussichtliche Überschreitung der Einkommensgrenze von 7.680 € für das Jahr 2005. Dabei zog er von den Einkünften aus nichtselbstständiger Tätigkeit lediglich den Arbeitnehmerpauschbetrag in Höhe von 920 € ab.

Mit Bescheid vom 22.04.2005 hob der Beklagte die Festsetzung des Kindergeldes für das Kind Anna ab dem 01.01.2005 auf. Zur Begründung führte er aus, die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen seien nicht erfüllt, da das Kind Einkünfte und Bezüge von mehr als 7.650 € im Kalenderjahr 2005 habe. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Mit Schreiben vom 01.06.2005 teilte der Kläger unter Hinweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2005 - Az. 2 BvR 167/02 - dem Beklagten mit, dass die Einkünfte seiner Tochter unter Abzug der Sozialversicherungsbeiträge sowie einer Werbungskostenpauschale in Höhe von 920 € deutlich unter der Höchstgrenze von 7.650 € lägen. Er bat um Wiederaufnahme und Nachzahlung des Kindergeldes.

Mit Bescheid vom 08.08.2005 gewährte der Beklagte Kindergeld für den Zeitraum ab 01.05.2005 in Höhe von 154 € monatlich. Für den Zeitraum vom 01.01. bis 30.04.2005 lehnte er hiergegen die Kindergeldzahlung ab. Zur Begründung führte er aus, der Kindergeldgewährung für diesen Zeitraum stehe auch unter Berücksichtigung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts die Bestandskraft des Bescheides vom 22.04.2005 entgegen.

Dagegen hat der Kläger nach erfolglos gebliebenem Einspruchsverfahren Klage erhoben, mit der er sein Begehren auf Gewährung von Kindergeld für den Zeitraum 01.01. bis 30.04.2005 weiter verfolgt. Ergänzend macht er geltend, die Berufung des Beklagten auf die Bestandskraft des rechtswidrigen Aufhebungsbescheides sei arglistig. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sei bereits im Januar 2005 ergangen und dem Beklagten spätestens im Mai 2005 bekannt geworden. Daher hätte er bei der Entscheidung vom 08.08.2005 die geänderte Rechtsprechung berücksichtigen müssen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 08.08.2005 und der Einspruchsentscheidung vom 21.09.2005 zu verpflichten, ihm für seine Tochter Anna für den Zeitraum Januar bis April 2005 Kindergeld in der gesetzlichen Höhe zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er ist weiterhin der Auffassung, dass die begehrte Änderung des Aufhebungsbescheides mangels einer Korrekturform nicht mehr möglich sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorganges Bezug genommen.

Gründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Die Klage ist begründet.

Der Bescheid vom 8. August 2005 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 100 Abs. 1 Satz 2 FGO). Der Beklagte ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass eine Änderung des Bescheides vom 22.04.2005 bezüglich der Monate Januar bis April 2005 nicht mehr möglich ist.

Für ein Kind, dass - wie im Streitfall die Tochter des Klägers - das 18., aber noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat, wird auf Antrag Kindergeld gewährt, wenn die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 EStG vorliegen (§§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 2, 67 Abs. 2, 72 Abs. 7 EStG). Danach besteht ein Anspruch auf Kindergeld u. a. dann, wenn das Kind für einen Beruf ausgebildet wird (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 a EStG). Im Streitfall lagen die Kindergeldvoraussetzungen nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG während des gesamten Jahres 2005 vor. Die Tochter des Klägers befand sich in dem gesamten Zeitraum in einer Ausbildung zur Industriekauffrau. Die Einkünfte der Tochter des Klägers überschreiten im Jahr 2005 auch nicht den Jahresgrenzbetrag von 7.680 € (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG), was sich bereits dann ergibt, wenn man vom Bruttogehalt von 10.219 € die Sozialversicherungsbeiträge von 2.188 € und lediglich den Arbeitnehmer-Pauschbetrag von 920 € abzieht. Insofern kann dahinstehen, ob und inwieweit die im Rahmen des Einkommensteuerbescheides berücksichtigten Werbungskosten zutreffend sind. Dies ist im Übrigen zwischen den Beteiligten auch unstreitig, zumal der Beklagte Kindergeld für die Monate Mai bis Dezember 2005 bereits gewährt hat.

Entgegen der Auffassung des Beklagten hindert die Bestandskraft des Aufhebungsbescheides vom 22.04.2005 die Kindergeldgewährung für die Monate Januar bis April 2005 nicht, da § 70 Abs. 4 EStG eine entsprechende Berichtigung ermöglicht.

Nach § 70 Abs. 4 EStG ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG über- oder unterschreiten. Die Vorschrift soll sicher stellen, dass eine Kindergeldfestsetzung für ein volljähriges Kind auch nach Ablauf des Kalenderjahres korrigiert werden kann, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG entgegen einer früheren Prognose der Familienkasse über- oder unterschreiten. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass eine steuerliche Entscheidung wegen des Jährlichkeitsprinzips grundsätzlich rückblickend erfolgt, die Steuervergütung Kindergeld jedoch bereits im Laufe des Kalenderjahres monatlich gezahlt wird (Bundestagsdrucksache 14/6160, S. 14).

Im Streitfall hat sich nach Erlass des Aufhebungsbescheides heraus gestellt, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes unter Berücksichtigung der nicht in die Bemessungsgröße des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einzubeziehenden gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/2002 Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFH/NV - 2005, Beilage 3, 260 bis 266) den Grenzbetrag unterschreiten.

Der Auffassung des Beklagten, § 70 Abs. 4 EStG komme deshalb nicht zum Tragen, weil die auf Grund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts geänderte Rechtsauffassung bezüglich der Behandlung der Sozialversicherungsbeiträge kein nachträgliches Bekanntwerden im Sinne des § 70 Abs. 4 EStG darstelle, vermag der Senat nicht zu folgen.

Die Vorschrift des § 70 Abs. 4 EStG trägt - wie bereits erwähnt - dem Umstand Rechnung, dass eine abschließende Entscheidung darüber, ob die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrages überschreiten oder nicht, regelmäßig erst nach Ablauf des betreffenden Kalenderjahres getroffen werden kann (vgl. BFH-Urteile vom 26. Juli 2001 VI R 55/00, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofes - BFHE - 196, 270, Bundessteuerblatt - BStBl - II 2002, 86; vom 30. November 2004 VIII R 6/03, BFH/NV 2005, 890). Vor Ablauf des Kalenderjahres steht die tatsächliche Höhe der Einkünfte und Bezüge zwangsläufig nicht fest, vielmehr ist insoweit nur eine mehr oder weniger sichere Prognose möglich, nach der die Familienkasse die Entscheidung über die Gewährung oder Nichtgewährung des Kindergeldes für das noch laufende Kalenderjahr trifft. Insofern wird die tatsächliche Höhe der Einkünfte und Bezüge nach Ablauf des betreffenden Kalenderjahres gegenüber der Prognoseentscheidung zwangsläufig nachträglich bekannt.

Damit eröffnet § 70 Abs. 4 EStG stets eine Berichtigungsmöglichkeit, soweit die abschließende Überprüfung nach Ablauf des Jahres ein Unter- oder Überschreiten des Grenzbetrages abweichend von der Prognoseentscheidung ergibt. Die Berichtigungsmöglichkeit besteht nach der vom Senat als zutreffend erachteten Entscheidung des BFH vom 26. Juli 2001 (VI R 55/00, BFHE 196, 270, BStBl II 2002, 86) z. B. auch dann, wenn die Familienkasse bei ihrer Prognoseentscheidung voraussichtliche Aufwendungen des Kindes als Werbungskosten berücksichtigt hat, die sie bei abschließender Prüfung dann doch nicht als Werbungskosten anerkennt - die Korrektur also auf einer geänderten Rechtsauffassung beruht. Entsprechendes muss auch für den umgekehrten Fall gelten, dass bestimmte Aufwendungen im Rahmen einer Prognoseentscheidung als nicht abzugsfähig behandelt wurden, was sich nachträglich als rechtlich unzutreffend heraus stellt. Insofern tragen derartige Prognoseentscheidungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht den Charakter der Vorläufigkeit in sich.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 135 Abs. 1 FGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

Die Revision war zuzulassen, da die Rechtssache im Hinblick auf die Frage der Anwendbarkeit des § 70 Abs. 4 EStG in einer Vielzahl gleich gelagerter, bereits anhängiger Verfahren von Relevanz ist und somit grundsätzliche Bedeutung hat (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).

Ende der Entscheidung

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