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Gericht: Finanzgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 08.02.2007
Aktenzeichen: 14 K 5102/05 Kg
Rechtsgebiete: EStG, FGO
Vorschriften:
EStG § 32 Abs. 1 Nr. 1 | |
EStG § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 | |
EStG § 33b | |
FGO § 76 Abs. 1 S. 1 |
Finanzgericht Düsseldorf
14 K 5102/05 Kg
Tenor:
Unter Aufhebung des Bescheides vom 28. November 2002 und der Einspruchsentscheidung vom 2. November 2005 wird der Beklagte verpflichtet, den Kindergeldantrag des Klägers für seine Tochter Sarah unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger ist der Vater der am 24. Februar 1974 geborenen Sarah. Seit dem Sommersemester 1997 war die Tochter des Klägers an der Universität L-Stadt eingeschrieben für das Lehramt Primarstufe mit den Fächern Deutsch, Mathematik und Textilgestaltung.
Im Dezember 1999 ging beim Beklagten eine Mitteilung des Klägers ein, wonach die Tochter in den Abendstudiengang Kommunikationswirtin einer Akademie für Kommunikation aufgenommen worden war. Das Studium sollte im November 1999 beginnen. Zugleich legte der Kläger einen Arbeitsvertrag zwischen seiner Tochter und der "P-Agentur GmbH" vor, der am 1. November 1999 beginnen und am 31. Oktober 2001 enden sollte.
Mit Bescheid vom 2. April 2001 hob der Beklagte die Festsetzung des Kindergeldes mit Wirkung vom 1. März 2001 auf. Zur Begründung führte er aus, die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen seien nicht mehr erfüllt, weil das Kind mit Ablauf des 23. Februar 2001 das 27. Lebensjahr vollendet habe.
Mit Schreiben vom 30. August 2001 legte der Kläger dagegen Einspruch ein und machte geltend, dass in einem anhängigen Klageverfahren demnächst mit der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft seiner Tochter zu rechnen sei.
Auf einen Hinweis des Beklagten, dass der Bescheid rechtskräftig geworden sei, beantragte der Kläger vorsorglich die Gewährung von Kindergeld rückwirkend bis zum Wirksamkeitszeitpunkt der letzten Aufhebung.
Unter dem 5. Juni 2002 teilte der Kläger mit, dass für die Tochter ausweislich des Schwerbehindertenausweises des Versorgungsamtes L-Stadt ein Grad der Behinderung von 80 % und das Merkzeichen "G" festgestellt worden seien. Der Ausweis ist gültig ab dem 21. Mai 1999.
Darüber hinaus legte der Kläger das röntgenologische Gutachten des Herrn Prof. Dr. B. vom 23. Januar 2001, das neurologischpsychiatrisch Gutachten der Herrn Dr. med. K. vom 23. August 2000 und das Gutachten der Herren Dres. S, T. und J. vor, auf die Bezug genommen wird.
Außerdem gab der Kläger an, seine Tochter habe bis zum 31. Oktober 2001 eine monatliche Ausbildungs-/ Praktikumsvergütung in Höhe von monatlich 800,- DM brutto bezogen. Seit Beendigung dieses Beschäftigungsverhältnisses, mithin sei dem 1. November 2001 beziehe seine Tochter kein eigenes Einkommen mehr; sie lebe von Unterstützungshilfe aus der Familie.
Unter dem 25. November 2002 ging beim Beklagten ein Schreiben der Reha/SB-Stelle vom 22. November 2002 ein, wonach die Tochter des Klägers in der Lage sein soll, eine arbeitslosenversicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des in Betracht kommenden Arbeitsmarktes auszuüben.
Mit Bescheid vom 28. November 2002 lehnte der Beklagte daraufhin die Gewährung von Kindergeld für Sarah ab. Zur Begründung verwies er auf das Schreiben der Reha/SB-Stelle.
Dagegen legte der Kläger mit Schreiben vom 19. Dezember 2002 Einspruch ein.
Unter dem 25. August 2003 teilte die Bundesanstalt für Arbeit, Arbeitsamt L-Stadt mit, dass aufgrund des ärztlichen Gutachtens vom 20. August 2003 derzeit weiterhin Vermittelbarkeit der Tochter Sarah auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe. Frau D. stelle sich auch weiterhin zur Vermittlung in eine Arbeitsstelle bei der Vermittlung für Schwerbehinderte zur Verfügung und bewerbe sich regelmäßig. Somit bleibe die Entscheidung vom 22. November 2002 bestehen.
Dem beigefügt war ein ärztliches Gutachten vom 20. August 2003, auf das Bezug genommen wird. Danach sind Arbeiten unter Zeitdruck, Nässe, Kälte, Zugluft, Temperaturschwankungen, Hitzearbeiten, Zwangshaltungen, häufiges Heben und Tragen ohne mechanische Hilfsmittel für die Tochter des Klägers auszuschließen. In der Rubrik "ergänzendes Leistungsbild" finden sich die Eintragungen: keine Tätigkeiten mit besonderen Stressbelastungen. Keine Tätigkeiten mit erhöhter Anforderung an die soziale oder emotionale Kompetenz. Keine anhaltenden Zwangshaltungen der Wirbelsäule. Keine hohen Anforderungen an die Fingerfertigkeit.
Weiter heißt es in dem Gutachten, im Vordergrund stehe eine seelische Minderbelastung mit zunehmender Leistungsminderung und einem allgemeinen Krankheitsgefühl.
Mit Einspruchsentscheidung vom 2. November 2005 (versandt am 7. November 2005) wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück.
Mit der am 9. Dezember 2005 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
Ergänzend macht er geltend, im Oktober 1996 sei bei seiner Tochter das sog. Pagetvon SchroetterSyndrom diagnostiziert worden. Dabei bilde sich ein Blutgerinnsel (Thrombose) in der Arm oder Achselvene. Dies führe zu einer Schwellung des Arms mit roter bis bläulicher Verfärbung. In den Tagen nach dieser Diagnose habe sich der Zustand der Tochter verschlechtert. Sie habe eine deutlich zunehmende Luftnot und Einschränkung der körperlichen Belastbarkeit bei kleinster Anstrengung verspürt. Bei einer sich anschließenden stationären Behandlung sei ein sog. cor pulmonale diagnostiziert worden. Darunter sei eine Druckbelastung im rechten Herzen aufgrund einer Drucksteigerung im Lungenkreislauf zu verstehen. Dieser Bluthochdruck sei durch eine Verstopfung der Lunge mit Embolien ausgelöst worden. Das dabei auftretende Leitsymptom sei Atemnot. Trotz eingeleiteter Behandlung hätten die Atembeschwerden der Tochter nicht gebessert werden können. Die körperliche Leistungsfähigkeit sei eingeschränkt geblieben. Im Dezember 1996 habe die Tochter infolge einer plötzlichen Hirndurchblutungsstörung vorübergehend unter Sprechstörungen und einer Bewegungseinschränkung der Arme gelitten. Im April 1997 sei sie im Herzzentrum GStadt operiert worden. Zwar habe sich daraufhin ihr körperlicher Gesamtzustand gebessert. Jedoch sei sie in ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit dauerhaft eingeschränkt. Die Leistungsfähigkeit der Lunge betrage nach wie vor nur 40 % der ursprünglichen Leistungsfähigkeit. Es komme bis heute regelmäßig zu spontanen Bewegungsstörungen an allen Extremitäten. Langes Sprechen falle ihr ebenso schwer wie ausdauerndes Schreiben. Sie leide seit der Erkrankung unter Angstattacken, die mehrfach am Tag auftreten könnten.
Eine zwischenzeitlich vom Arbeitsamt für den Zeitraum 2. Dezember 2002 bis 13. Juni 2003 bewilligte Fortbildungsmaßnahme für Schwerbehinderte an der Akademie für Wirtschaft und Bildung habe die Tochter aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen abbrechen müssen. Die Tochter sei im Rahmen dieser Fortbildungsmaßnahme seitens der Seminarleitung auf ihren Gesundheitszustand angesprochen worden. Sie habe auf Dritte abgeschlagen, müde und insgesamt wenig aufnahmefähig gewirkt.
Der auf Anraten der Seminarleitung aufgesuchte Arzt habe die Tochter sofort krank geschrieben und eine Behandlung eingeleitet. Nachdem sich in der Folgezeit der gesundheitliche Zustand der Tochter weiter verschlechtert habe, sei sie anschließend in der Zeit vom 25. März 2003 bis zum 31. März 2003 im Krankenhaus stationär behandelt worden. Die behinderungsbedingten seelischen Belastungen seiner Tochter seien zwischenzeitlich so stark gewesen, dass eine psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung notwendig geworden sei.
Die besonderen Umstände, aufgrund derer eine Erwerbsunfähigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes ausgeschlossen erscheine, lägen hier in der erheblichen behinderungsbedingt psychischen Beeinträchtigung der Tochter.
Das Gutachten des Arbeitsamtes L-Stadt vom 20. August 2003 sei oberflächlich und widersprüchlich. Es berücksichtige die psychischen Erkrankungen der Tochter nicht in gebührendem Maße, sondern stelle ausschließlich auf die rein körperliche Leistungsfähigkeit ab. Angesichts der Anforderungen, die in der heutigen Arbeitswelt auch an einfachste Arbeitstätigkeiten zu stellen seien, müsse sich der Gutachter ernsthaft fragen lassen, welche Arbeiten nach seiner Auffassung denn noch von der Tochter ausgeführt werden könnten. Hinzu komme, dass das Gutachten selbst unter Ziffer IV lit. b der Tochter eine zunehmende Leistungsminderung bescheinige.
Maßgeblich für die Frage, ob die Vorausetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Einkommensteuergesetz -EStG- vorlägen, sei, ob das Kind sich trotz der Behinderung selbst unterhalten könne. Dafür komme es neben der grundsätzlichen Frage, welche Tätigkeiten überhaupt ausgeführt werden könnten, auch darauf an, ob es für diese Tätigkeiten einen entsprechenden Markt gebe. Angesichts von beinahe 5 Millionen Arbeitslosen dürften Personen mit einem Behinderungsgrad von 80 %, die dazu behinderungsbedingt auch noch seelisch nur äußerst eingeschränkt bzw. gar nicht belastbar seien, überhaupt nicht vermittelbar seien.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 28. November 2002 und der Einspruchsentscheidung vom 2. November 2005 zu verpflichten, den Kindergeldantrag für seine Tochter Sarah unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.
Zur Begründung nimmt er Bezug auf den Bescheid vom 28. November 2002 und die Einspruchsentscheidung vom 2. November 2005.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist begründet.
Die Ablehnung der Kindergeldgewährung mit Bescheid vom 28. November 2002 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 2. November 2005 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Entgegen der Ansicht des Beklagten scheitert die kindergeldrechtliche Berücksichtigung von Sarah über das 27. Lebensjahr hinaus nicht daran, dass Sarah trotz der nachgewiesenen Behinderung von 80 % imstande wäre, sich selbst zu unterhalten.
Der Beklagte kann jedoch nur zu Neubescheidung des Klägers verpflichtet werden (§ 101 Finanzgerichtsordnung -FGO-).
Gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG wird ein im ersten Grad mit dem Steuerpflichtigen verwandtes Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, berücksichtigt, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außer Stande ist, sich selbst zu unterhalten und die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.
Die Behinderung Sarahs ist unstreitig vor Vollendung ihres 27. Lebensjahres (= 23.02.2001) eingetreten. Ihr wurde der "Grad der Behinderung von 80"und das Merkzeichen "G" ab dem 21. Mai 1999 zuerkannt.
Ein behindertes Kind ist dann außer Stande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Das ist der Fall, wenn die Behinderung einer Erwerbstätigkeit entgegensteht und das Kind über keine anderen Einkünfte und Bezüge verfügt ( BFH-Urteil vom 12. November 1996 III R 53/95, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofes -BFH/NV- 1997, 243). § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG stellt nicht allein darauf ab, dass ein Kind körperlich, geistig oder seelisch behindert ist; vielmehr muss es wegen seiner Behinderung außer Stande sein, sich selbst zu unterhalten. Ist folglich das Kind trotz seiner Behinderung (z. B. aufgrund hoher Einkünfte oder Bezüge) in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu. Nur diese Auslegung entspricht dem gesetzgeberischen Willen, bei hinreichender Leistungsfähigkeit des behinderten Kindes kein Kindergeld bzw. keinen Kinderfreibetrag zu gewähren (vgl. BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999 VI R 182/98, Bundessteuerblatt -BStBl- II 2000, 79). Ein behindertes Kind ist - positiv ausgedrückt - erst dann im Stande sich selbst zu unterhalten, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten notwendigen Lebensbedarfs ausreicht. Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist folglich anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen, nämlich des gesamten Lebensbedarfs des Kindes einerseits sowie der finanziellen Mittel des Kindes andererseits, zu prüfen.
Erst wenn sich daraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes ergibt, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der die steuerliche Leistungsfähigkeit mindert. Dann ist es auch gerechtfertigt, für behinderte Kinder kein Kindergeld bzw. keinen Kinderfreibetrag zu gewähren (vgl. BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999 VI R 182/98, BStBl. II 2000, 79).
Der gesamte existentielle Lebensbedarf des behinderten Kindes setzt sich typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen. Der Grundbedarf kann für das Jahr 2001 mit dem am Existenzminimum orientierten Betrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in Höhe von 7.188 Euro beziffert werden (vgl. BFH-Urteil vom 16. März 2004 VIII R 88/02 , zit. nach juris m. w. N.). Darüber hinaus ist ein behindertenbedingter Mehrbedarf anzuerkennen. Dazu gehören alle mit einer Behinderung unmittelbar und typischerweise zusammenhängenden Belastungen, z. B. allgemeine Hilfeleistungen, Erholung, typische Erschwernisaufwendungen. Erfolgt insoweit seitens des Steuerpflichtigen kein Einzelnachweis, so kann der maßgebliche Behindertenpauschbetrag (§ 33 b Abs. 1 bis 3 EStG ) als Anhalt für den behinderungsbedingten Mehrbedarf dienen, soweit nicht die Kosten einer stationären Unterbringung angesetzt werden, in denen verschiedene Bestandteile enthalten sind, die von den Pauschbeträgen nach § 33 b EStG typisierend miterfasst werden (vgl. BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999 VI R 182/98, BStBl II 2000, 79).
Im Streitfall dürften die Bezüge des Kindes im Jahr 2001 schon den als Grundbedarf zu berücksichtigenden Jahresgrenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht erreicht haben. Der Kläger hat unter Hinweis auf den Ausbildungsvertrag unter anderem erklärt, dass seine Tochter seit Oktober 2001 keine Einkünfte und Bezüge mehr und davor (von Mai bis Oktober 2001) monatliche Einkünfte von 800,- DM brutto gehabt habe. In einer "Erklärung zu den Einkünften und Bezügen eines über 18 Jahre alten Kindes" vom 27. März 2001 hatte der Kläger angegeben, seine Tochter werde im Jahr 2001 Einnahmen in Höhe von "11 x 600,- DM" haben. Auf den behindertenbedingten Mehrbedarf, der hier in Höhe des Behinderten-Pauschbetrages nach § 33b Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 Sätze 1 und 2 EStG von 570 Euro angesetzt werden könnte, käme es danach voraussichtlich nicht mehr an. Eine genaue Ermittlung der Einkünfte und Bezüge - für das Jahr 2001 unter Einbeziehung von etwaige Sondervergütungen - sowie des Bedarfs des Kindes ist bislang jedoch unterblieben, da sich der Beklagte für seine ablehnende Entscheidung allein die Mitteilung der Reha/SB Stelle zueigen gemacht hat, wonach Sarah nicht außerstande ist, sich selbst unterhalten zu können.
Entgegen der vom Beklagten vertretenen Ansicht ist die Behinderung des Kindes Sarah nach Auffassung des Gerichts jedoch ursächlich dafür, dass das Kind nicht in der Lage ist, sich selbst zu unterhalten.
Ein behindertes Kind kann sowohl wegen der Behinderung als auch wegen der allgemeinen ungünstigen Situation auf dem Arbeitsmarkt als auch wegen weiterer Umstände (z.B. mangelnde Mitwirkung bei der Arbeitsvermittlung) arbeitslos und damit außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Nach den einschlägigen Verwaltungsanweisungen kann die Ursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt grundsätzlich angenommen werden, wenn im Schwerbehindertenausweis oder im Feststellungsbescheid das Merkmal "H" (hilflos) eingetragen ist oder der Grad der Behinderung 50 v.H. oder mehr beträgt und besondere Umstände hinzutreten, aufgrund derer eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausgeschlossen erscheint (H 180d, erster Querstrich des Amtlichen Einkommensteuer-Handbuchs - EStH - 2001; DA-FamEStG 63.3.6.3.1 Abs. 2 Satz 1, BStBl I 2002, 366, 369, 398). Es handelt sich bei diesen Regelungen um eine im Interesse der Rechtsanwendungsgleichheit vorgenommene Konkretisierung des zuvor aufgestellten Grundsatzes, dass die Frage, ob die Behinderung ursächlich für das Außerstandesein des Kindes zum Selbstunterhalt ist, nach den Gesamtumständen des Einzelfalles zu beurteilen ist (vgl. BFH-Urteil vom 26. August 2003 VIII R 58/99, BFH/NV 2004, 326; BFH-Beschluss vom 14. Dezember 2001 VI B 178/01, BStBl II 2002, 486 ). Die in den Verwaltungsanweisungen erfolgte Konkretisierung und Pauschalisierung der Einzelfallprüfung führt indessen nicht zu deren Aufgabe. Ist nach den genannten Grundsätzen die Ursächlichkeit einer Behinderung für die Unfähigkeit eines Kindes zum Selbstunterhalt zu vermuten, kann die Einzelfallprüfung gleichwohl Umstände zu Tage fördern, die einen Ausnahmefall begründen und die Behinderung als Causa für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt überlagern. Umgekehrt kann in Fällen, in denen die Voraussetzungen für die Vermutung des Kausalzusammenhanges zwischen Behinderung und Unfähigkeit zum Selbstunterhalt nicht gegeben sind, ein solcher Kausalzusammenhang nicht ohne Einzelfallprüfung ausgeschlossen werden. Das gilt auch dann, wenn das behinderte Kind grundsätzlich in der Lage ist, eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben und deshalb der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stand (vgl. BFH-Urteil vom 26. August 2003 VIII R 58/99, BFH/NV 2004, 326).
Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG muss die Behinderung nicht alleinige Ursache dafür sein, dass das Kind außer Stande ist, sich selbst zu unterhalten. Ausreichend ist, dass eine Mitursächlichkeit der Behinderung festgestellt werden kann (Sächsisches Finanzgericht, Urteil vom 26. September 2001, 5 K 1366/00 (Kg), Entscheidung der Finanzgerichte -EFG- 2001, 1614 und Urteil vom 26. Juni 2006, 1 K 1565/04 (Kg), n.v.). Nur in den Fällen, in denen ein anderer Umstand die Behinderung als Ursache dafür überlagert, dass die Einkünfte und Bezüge nicht zur Bestreitung des erforderlichen Lebensbedarfes ausreichen, entfällt eine Berücksichtigung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn einem behinderten Kind eine offene Stelle in einem Beruf angeboten werden kann, den es mit seiner Behinderung ausüben kann, und die Stelle geeignet ist, die Bestreitung des Lebensbedarfs des Kindes zu sichern. Tritt das Kind eine solche Stelle ohne triftige Gründe nicht an, wird seine mangelnde Mitwirkung bei der Arbeitsvermittlung und nicht mehr die Behinderung Ursache für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt sein. Nicht überlagert wird eine Behinderung hingegen - unabhängig von ihrer Schwere - allein durch die allgemein ungünstige Arbeitsmarktsituation (Sächisches FG, Urteil vom 26. Juni 2006, 1 K 1565/04 (Kg), n.v.; Beschluss des Sächischen FG vom 19. August 2005, 5 V 1797/04 (Kg), n.v.). Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die theoretische Möglichkeit einer Vermittelbarkeit des behinderten Kindes am allgemeinen Arbeitsmarkt nicht geeignet, die Ursächlichkeit der Behinderung für die im Ergebnis gleichwohl erfolglose Vermittlung zu beseitigen. Vielmehr kann - was im Einzelfall zu prüfen ist - gerade die Behinderung ursächlich dafür sein, dass ein behindertes Kind auf einem ungünstigen Arbeitsmarkt seinen Unterhalt nicht selbst verdienen kann.
Im Streitfall hat die Tochter Sarah des Klägers in der Zeit vom 2. Dezember 2002 bis zum 25. März 2003 eine Fortbildungsmaßnahme für Schwerbehinderte absolviert, sich also um eine Fortbildung bemüht, die spezifisch auf behinderungsbedingte Einschränkungen ausgerichtet war. Ferner stand Sarah, wie sich aus dem Schreiben der Bundesanstalt für Arbeit, Arbeitsamt L-Stadt, vom 25. August 2003 ergibt, zur Vermittlung in eine Arbeitsstelle bei der Vermittlung für Schwerbehinderte zur Verfügung und sie hat sich auch regelmäßig beworben - bis heute konnte sie jedoch nicht vermittelt werden. Bereits aus diesen Umständen lässt sich der Rückschluss auf die (Mit-) Ursächlichkeit der Behinderung auch für die anschließende Arbeitslosigkeit ziehen.
Darüber hinaus ist den diversen ärzlichen Gutachten zu entnehmen, dass die Tochter des Klägers unter häufigen Bewegungsstörungen im Sinne von unkontrollierbaren Bewegungsimpulsen im Bereich der Arme und Beine leidet, das Schreiben ihr nur sehr schwer möglich ist, sie an Einbußen im Kurzzeitgedächtnis leidet, ihre Sprache bei allgemeiner Ermüdung unverständlich wird. Auch in Anbetracht des gutachterlich geschilderten Krankheitsbildes und der dargestellten Krankheitsgeschichte ergibt sich damit ein Gesamtbild der Verhältnisse, nach dem zur Überzeugung des Senats eine Erwerbstätigkeit der Tochter des Klägers über das 27. Lebensjahr hinaus wegen des Ausmaßes der körperlichen Behinderung mit der einhergehenden seelischen Beeinträchtigung und der gravierenden Auswirkungen der Erkrankung auf die Handlungs- und Leistungsfähigkeit des Kindes unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes ausgeschlossen erscheint.
Selbst wenn man zu Gunsten des Beklagten unterstellt, dass sich Sarah - wie zuletzt im in der mündlichen Verhandlung überreichten Gutachten der Agentur für Arbeit vom 18. November 2004 angenommen - als "vollschichtig erwerbsfähig" auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erweisen sollte, bleibt die Behinderung aufgrund der Umstände dieses Einzelfalles ursächlich dafür, dass sich Sarah nicht selbst unterhalten kann. Nach der Aktenlage steht fest, dass es den zuständigen Stellen unabhängig davon, ob Sarah aus medizinischer Sicht erwerbsfähig ist oder nicht, nicht gelungen ist, die Tochter in eine Stelle am allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln. Das erkennende Gericht ist deshalb davon überzeugt, dass die Behinderung des Kindes Sarah vor dem Hintergrund der Lage am Arbeitsmarkt als Handicap jedenfalls mitursächlich dafür ist, dass Sarah sich nicht selbst unterhalten kann. Das gilt unabhängig davon, ob die Behinderung des Kindes Sarah mit dem Grad von 80 v.H. und dem Merkzeichen "G" bereits aus medizinischer Sicht eine Erwerbsfähigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt ausschloss.
Die Sache ist jedoch nicht spruchreif, weil ein Verwaltungsverfahren zur Feststellung der Einkünfte und Bezüge sowie des Bedarfs des Kindes noch nicht stattgefunden hat. Obgleich im Finanzprozess nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, ist es nicht Aufgabe des Gerichts, zur Herbeiführung der Spruchreife insoweit das Verwaltungsverfahren nachzuholen. Das würde einen unzulässigen Eingriff in die Verteilung der Hoheitsaufgaben zwischen Exekutive und Judikative darstellen. Der Beklagte war daher nach § 101 Satz 2 FGO zu verpflichten, den Kläger neu zu bescheiden. Dabei ist er aufgrund dieses Urteils, an das er als Beteiligter nach Rechtskraft gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FGO gebunden ist, gehalten, von der Ursächlichkeit der Behinderung des Kindes dafür, dass es nicht in der Lage ist, sich selbst zu unterhalten, auszugehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Die Revision wird wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zugelassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).
Ende der Entscheidung
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