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Gericht: Finanzgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 05.05.2008
Aktenzeichen: 17 K 692/07 E
Rechtsgebiete: AO


Vorschriften:

AO § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Düsseldorf

17 K 692/07 E

Tenor:

Unter Aufhebung der Ablehnungsbescheide vom 16.01.2007 und der Einspruchsentscheidung vom 08.02.2007 wird der Beklagte verpflichtet, die Einkommensteuerbescheide für 2001 vom 23.09.2002 und für 2002 vom 05.12.2003 dahin zu ändern, dass die Einkünfte des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit um 2.013,67 DM (2001) und 1.053,78 EUR (2002) niedriger festgesetzt werden.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens tragen die Beteiligten je zur Hälfte.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtserheblichkeit einer nachträglich bekannt gewordenen Tatsache im Sinne des § 173 Abgabenordnung AO.

Die Kläger werden gemeinsam zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger hat als Beschäftigter der Stadtsparkasse F Ansprüche aus einer betrieblichen Altersversorgung erworben. Im Rahmen der Umstellung des Altersversorgungssystems wechselte die Stadtsparkasse F zum 1. Januar 2001 zur Zusatzversorgungskasse Z (VK Z). Anlässlich dieses Wechsels musste die Stadtsparkasse neben der allgemeinen Umlage in Höhe von 4,25 % einen sog. "Nachteilsausgleich" in Höhe von 2,15 % entrichten, den sie auf den Lohnsteuerkarten des Klägers als Teil des Arbeitslohns erfasste. Auf die Lohnsteuerkarten als Bestandteile der Steuerakten wird verwiesen.

Zu der steuerlichen Behandlung des sog. Nachteilsausgleichs erging am 5. Dezember 2001 eine Mitteilung der Oberfinanzdirektion Düsseldorf OFD für den Lohnsteueraußendienst (Nr. 12/2001) und am 28. Juni 2004 eine Kurzinformation Einkommensteuer der OFD (Nr. 043/2004). In den Schreiben wird die Rechtsauffassung vertreten, die Ausgleichszahlungen seien als Arbeitslohn anzusehen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf Bl. 67 und 68 der Gerichtsakten verwiesen wird.

In den Einkommensteuerbescheiden für 2001 vom 23. September 2002, für 2002 vom 5. Dezember 2003, für 2003 vom 12. Januar 2005 und für 2004 vom 1. August 2005 wurden die (Sonder-)Zahlungen des Nachteilsausgleichs als Arbeitslohn des Klägers versteuert.

Von der Einbeziehung des Nachteilsausgleichs in seinen Arbeitslohn erfuhr der Kläger erstmals auf Grund einer "Allgemeinen Information" der Stadtsparkasse vom 15. März 2006. Zeitgleich teilte der Arbeitgeber dem Kläger mit, dass die Versteuerung fehlerhaft gewesen sei, wie sich aus dem zwischenzeitlich ergangenen Urteil des Bundesfinanzhofs BFH vom 14. September 2005 VI R 148/98 (Bundessteuerblatt BStBl II 2006, 532) ergebe.

Die Kläger beantragten mit Schreiben vom 23. Dezember 2006, die bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide der Jahre 2001 bis 2004 wegen der nachträglich bekannt gewordenen Tatsache der lohnsteuerlichen Erfassung der Sonderumlage nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO dahingehend zu ändern, dass die zu Unrecht erfolgte Besteuerung dieser Sonderzahlungen an die VK Z als Arbeitslohn rückgängig gemacht werde.

Der Beklagte (das Finanzamt FA ) lehnte den Antrag mit der Begründung ab, die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO seien nicht erfüllt; die neue Tatsache sei nicht rechtserheblich, weil auch bei früherer Kenntnis von der Lohnversteuerung keine andere Entscheidung getroffen worden wäre.

Nach erfolglosem Einspruchsverfahren haben die Kläger Klage erhoben. Zur Begründung tragen sie vor, die Ausgleichszahlungen des Arbeitsgebers an die VK Z stellten keinen Arbeitslohn dar. Der BFH habe entschieden, dass Sonderzahlungen eines Arbeitsgebers an Zusatzversorgungskassen, die anlässlich der Systemumstellungen auf das Kapitaldeckungsverfahren, der Überführung einer Mitarbeiterversorgung an eine andere Zusatzversorgungskasse oder anlässlich seines Ausscheidens aus der Versorgungsanstalt des Bundes oder der Länder geleistet würden, nicht zu Arbeitslohn bei aktiven Arbeitnehmern führten (Urteile vom 14. September 2005 VI R 32/04, BStBl II 2006, 500 und VI R 148/98, a.a.O. sowievom 15. Februar 2006 VI R 92/04, BStBl II 2006, 528). Die bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide seien nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO wegen neuer Tatsachen zu ändern. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH sei eine Änderung nach dieser Vorschrift nur dann ausgeschlossen, wenn die Finanzbehörde in Kenntnis des vollen Sachverhaltes mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gleich entschieden hätte; die bloße Möglichkeit, dass die Behörde bei Kenntnis der neuen Tatsache zum selben Ergebnis gekommen wäre, stehe einer Änderung nicht entgegen. In den genannten Entscheidungen sei die Rechtslage so wiedergegeben, wie sie auch zum Zeitpunkt des Erlasses der ursprünglichen Bescheide, deren Änderung begehrt werde, gewesen sei; vor allem habe der BFH zuvor keine andere Rechtsauffassung vertreten, so dass eine Änderung der Rechtslage oder der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht gegeben sei. Es könne daher nicht jedenfalls nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die Finanzbehörde bei Kenntnis der wahren Sachlage unabhängig von der in der Einspruchsentscheidung behaupteten angeblichen Weisungslage seinerzeit zu der gleichen Rechtserkenntnis wie der BFH gelangt wäre. Den Nachweis der behaupteten Weisungslage sei das FA schuldig geblieben.

Soweit das FA im Verlauf des Klageverfahrens auf eine Mitteilung der Oberfinanzdirektion für den Lohnsteueraußendienst Nr. 12/2001 und eine Kurzinformation Einkommensteuer Nr. 043/2004 verweise, in denen die Steuerfreiheit der in Rede stehenden Zahlungen verneint werde, handele es sich nicht um Schreiben mit Weisungscharakter. Bestehe keine verbindliche Weisung habe jeder Sachbearbeiter die Rechtslage einer eigenständigen und eigenverantwortlichen Prüfung und Beurteilung zu unterziehen. Zwar könnten unverbindliche Meinungsäußerungen der übergeordneten Behörde eine Orientierungshilfe sein, sie könnten den Bearbeiter indes nicht von der Verpflichtung zur eigenen Prüfung und Entscheidung entbinden. Demzufolge könne nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Finanzbehörde in voller Kenntnis des Sachverhaltes gleich entschieden hätte. Zur Begründung verweisen die Kläger ergänzend auf das Urteil des Finanzgerichts -FG- Düsseldorf vom 6. August 2007 1 K 3800/06 E, [...]). Im Übrigen sei im Zweifel von der Rechtserheblichkeit einer Tatsache auszugehen (BFHUrteil vom 13. Mai 1998 II R 67/96, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH BFH/NV 1999, 1); die Finanzbehörde trage insoweit die Feststellungslast.

Entgegen der Auffassung des FA habe Vermerken auf der Lohnsteuerkarte auch nicht entnommen werden können, dass gerade der Nachteilsausgleich der Lohnversteuerung unterzogen worden sei. Aus dem Vermerk "ZUK STPFL. IN Z 3 ENTH." könne zwar ein Sachbearbeiter möglicherweise erkennen, dass Beiträge an eine Zukunftssicherungseinrichtung gezahlt worden seien. Es sei aber weder ersichtlich, welcher Art die Einrichtung sei, noch, welche Teile in welcher Weise bzw. höher versteuert worden seien. Als neue Tatsache sei nicht zur Kenntnis gegeben worden, dass "irgendwelche" Zahlungen an "eine" Zukunftssicherungseinrichtung versteuert worden seien, sondern genau die im Antrag geschilderten Sachverhalte, die zu einer fälschlichen Versteuerung geführt hätten. Diese Informationen seien dem FA bis zur Antragstellung nicht bekannt gewesen. Die Vermutung des FA, dass die in Rede stehenden Zahlungen aus den Lohnabrechnungen ersichtlich gewesen seien, sei unzutreffend. Das FA habe auch den Nachweis, dass die Tatsache nicht neu gewesen sei, nicht erbracht. Schon der Umstand, dass die Behörde diesen Einwand nicht bereits im Einspruchsverfahren, sondern erst im Klageverfahren geltend gemacht habe, belege das Gegenteil.

Die Kläger beantragen,

1. den Beklagten unter Aufhebung der Ablehnungsbescheide vom 16. Januar 2007 und der Einspruchsentscheidung vom 8. Februar 2007 zu verpflichten, die Einkommensteuerbescheide 2001 bis 2004 dahin zu ändern, dass die Einkünfte des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit um 2.013,67 DM (2001), 1.053,78 EUR (2002), 1.111,56 EUR (2003) und 1.169,15 EUR (2004) niedriger festgesetzt werden,

2. im Unterliegensfall, die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

1. die Klage abzuweisen,

2. im Unterliegensfall, die Revision zuzulassen.

Zur Begründung führt das FA aus, bei umfassender Kenntnis der Sachlage wäre aus folgenden Gründen keine andere Steuerfestsetzung vorgenommen worden:

Der Stadt F sei in den Jahren 2000 bzw. 2001 anlässlich der Übertragung der Zusatzversorgung für die Arbeitnehmer der Stadt und der Kapitalgesellschaften sowie Einrichtungen, an denen die Stadt beteiligt ist, von Seiten der Finanzverwaltung (Finanzministerium des Landes Nordrhein-Westfalen -NRW- bzw. Betriebsstättenfinanzamt) mitgeteilt worden, dass die Zusatzbeiträge (Sonderumlage) im Zeitpunkt der Zahlung lohnsteuerlich zu erfassen seien und in dem von § 40 b Abs. 2 Satz 1 Einkommensteuergesetz gezogenen Rahmen pauschaliert besteuert werden dürften.

Zu der streitigen Problematik habe zudem eine Mitteilung der OFD für den Lohnsteueraußendienst vom Nr. 12/2001 und eine Kurzinformation Einkommensteuer Nr. 043/2004 vorgelegen. In diesen Unterlagen sei die Steuerfreiheit der in Rede stehenden Zahlung verneint worden. Die Informationen der OFD hätten zwar formal keinen Weisungscharakter, tatsächlich würden die materiellrechtlichen Hinweise jedoch wie Weisungen behandelt. Beispielhaft werde auf die Kurzinformation Einkommensteuer Nr. 057/2005 vom 22. Dezember 2005 über die damalige Nichtanwendung des BFHUrteils zur Steuerfreiheit der Umlagezahlung verwiesen. Das FA ist der Auffassung, wenn nach dem BFHUrteil vom 10. März 1999 II R 99/97 (BStBl II 1999, 433) bereits mündliche Weisungen eines Sachgebietsleiters zur Herstellung einer eindeutigen Weisungslage ausreichten, sei nicht ersichtlich, weshalb schriftlichen Hinweisen auf die Rechtslage bzw. zur Auffassung der Finanzverwaltung durch die OFD eine andere Bedeutung zukommen solle. Nicht zuletzt aus der Kurzinformation Nr. 043/2004, in der auf ein Musterverfahren hingewiesen und die Zustimmung zum Ruhen der Einsprüche erklärt werde, werde deutlich, dass die Finanzverwaltung die in Rede stehenden Zahlungen stets als steuerpflichtigen Arbeitslohn behandelt habe.

Darüber hinaus habe der BFH bereits im Jahre 1996 zu der Frage Stellung genommen, ob die Sonderzahlungen pauschaliert besteuert werden könnten. Er habe das verneinende Urteil des FG Düsseldorf aufgehoben und die Sache an das Gericht zurückverwiesen (BFH-Urteil vom 22.09.1995 VI R 52/95, BStBl II 1996, 136). Dieses habe daraufhin entschieden, dass die Zahlungen steuerpflichtig seien, woraufhin der BFH erneut angerufen worden sei. Letzterer habe dann - nachdem das Verfahren seit dem Jahr 1998 anhängig gewesen sei - mit Urteil vom 14. September 2005 VI R 148/98 (a.a.O.) entschieden, dass kein steuerbarer Arbeitslohn vorliege. Es sei nicht ersichtlich, weshalb die Finanzverwaltung von der Steuerfreiheit der Beträge hätte ausgehen sollen, um dann vor dem BFH die gegenteilige Auffassung zu vertreten.

Zudem sei darauf hinzuweisen, dass die für die Jahre 2001 bis 2003 vorliegenden Lohnsteuerkarten den Vermerk "ZUK STPFL. IN Z 3 ENTH." hinsichtlich der Zukunftsleistungen enthielten. Der dort genannte Betrag sei jeweils höher als die Ausgleichszahlung gemäß der nachgereichten entsprechenden Bescheinigung des Arbeitsgebers. Zusätzlich sei im Jahr 2003 noch aufgeführt "Betr. Zeile 19....". Die Zeile 19 betreffe steuerfreie Beträge des Arbeitsgebers an eine Pensionskasse oder an einen Pensionsfonds. ZUK weise auf eine ZukunftssicherungsUnterstützungskasse hin. Danach sei auch dem FA bekannt gewesen, dass Zahlungen an eine Zusatzversorgungskasse bzw. Zukunftssicherungs-/Unterstützungskasse erfolgt seien. Damit sei das Merkmal des nachträglichen Bekanntwerdens einer neuen Tatsache zu verneinen. Schließlich gehe aus der allgemeinen Information der Stadtsparkasse F vom 15. März 2006 (Bl. 128 der Gerichtsakte) hervor, dass für den Kläger die steuerliche Behandlung der Zahlungen bereits aus den Lohnabrechnungen ersichtlich gewesen sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze vom 4. und 28. April 2008 verwiesen.

Das Gericht hat die Steuerakten des FA zum Verfahren beigezogen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist hinsichtlich der Streitjahre 2001 und 2002 begründet, im Übrigen ist sie unbegründet.

Die Ablehnung der Änderung der Einkommensteuerbescheide 2001 und 2002 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 101 Satz 1 Finanzgerichtsordnung FGO ); die Sache ist spruchreif, das FA ist zur Durchführung der geltend gemachten Änderung nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO verpflichtet. Die Ablehnung der Änderung der Einkommensteuerbescheide 2003 und 2004 ist hingegen rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO); das FA ist insoweit zutreffend davon ausgegangen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Änderung dieser Bescheide gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO nicht vorliegen.

I. Gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.

1. Tatsachen im Sinne dieser Vorschrift sind alle Sachverhaltsbestandteile, die Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein können, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art. Nachträglich werden Tatsachen oder Beweismittel bekannt, wenn sie nach dem Zeitpunkt, in dem die Willensbildung über die Steuerfestsetzung abgeschlossen ist, bekannt werden. Hierbei kommt es nicht auf die Kenntnis des Steuerpflichtigen, sondern allein auf die der Finanzbehörde an. Jeder Stelle innerhalb der Finanzverwaltung ist grundsätzlich das bekannt, was sich aus dem Inhalt der von ihr geführten Akten ergibt, ohne dass es auf die individuelle Kenntnis des Sachbearbeiters ankommt.

2. Den Steuerpflichtigen darf kein grobes Verschulden daran treffen, dass die Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt geworden sind. Grobes Verschulden setzt Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit voraus. Letztere liegt vor, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zuzumutende Sorgfalt in besonders schweren Maß und in nicht entschuldbarer Weise verletzt. Zweifel über das Vorliegen eines groben Verschuldens gehen zu Lasten der Finanzbehörde (Klein/Rüsken, AO, 9. Aufl., § 173 Rz. 120).

3. Die Änderung eines Steuerbescheides gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO setzt zudem die Rechtserheblichkeit einer neuen Tatsache, d. h. die Ursächlichkeit der Unkenntnis des FA von dieser Tatsache für die ursprüngliche Veranlagung voraus.

Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 AO scheidet aus, wenn die Unkenntnis der später bekannt gewordenen Tatsache für die ursprüngliche Veranlagung nicht ursächlich (rechtserheblich) gewesen ist. Denn der rechtfertigende Grund für die Durchbrechung der Bestandskraft nach § 173 AO ist nicht die Unrichtigkeit der Steuerfestsetzung selbst, sondern der Umstand, dass die Behörde bei ihrer Entscheidung von einem unvollständigen Sachverhalt ausgegangen ist. Eine Änderung ist daher nur gerechtfertigt, wenn die Finanzbehörde bei Kenntnis des vollständigen Sachverhaltes die Steuer zutreffend festgesetzt hätte. Eine Tatsache ist folglich nicht rechtserheblich, wenn das FA bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen und Beweismittel - mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - nicht anders entschieden hätte, die Entscheidung also ebenso unrichtig ergangen wäre (ständige Rechtsprechung; z.B. BFH-Beschluss vom 10. Oktober 2007 VI B 48/06, BFH/NV 2008, 191 m.w.N.).

Wie die Finanzbehörde zur Zeit ihrer ursprünglichen Entscheidung bei Kenntnis der Tatsache entschieden hätte, ist auf Grund objektiver Maßstäbe zu entscheiden (vgl. Frotscher in Schwarz, AO, 11. Aufl., § 173 Rz. 31 ff mit ausführlichen Hinweisen zum Meinungsstand). Dies muss im Einzelfall regelmäßig auf Grund des Gesetzes, wie es nach der damaligen Rechtsprechung des BFH ausgelegt wurde, und der die Finanzbehörden bindenden Verwaltungsanweisungen im Zeitpunkt des Erlasses des ursprünglichen Steuerbescheides beurteilt werden; auch an Hand interner Schreiben der Verwaltung kann festgestellt werden, wie eine die maßgebliche Rechtsfrage offenlassende Verwaltungsanweisung von den Finanzämtern ausgelegt wurde (von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO und FGO, § 173 AO Rz. 28 m.w.N.; BFH-Urteil vom 15. Dezember 1999 XI R 38/99, BFH/NV 2000, 820). Für die Rechtserheblichkeit einer nachträglich bekannt gewordenen Tatsache kann der Stand der Rechtsprechung und der Verwaltungserlasse im Einzelfall unerheblich sein, wenn anderweitig feststeht, dass die Steuer auch bei rechtzeitiger Kenntnis der Tatsache nicht anders festgesetzt worden wäre (vgl. BFH-Urteil vom 10. März 1999 II R 99/97, a.a.O. zum Fall der Weisung des Sachgebietsleiters). Die Feststellung, wie die Behörde bei der ursprünglichen Veranlagung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entschieden hätte, kann nicht nur mit Hilfe ganz bestimmter Beweismittel getroffen werden (BFH-Urteil vom 15. Dezember 1999 XI R 38/99, a.a.O.; BFH in BStBl II 1999, 433; vgl. aber Frotscher in Schwarz, § 173 Rz. 32 - 33).

Die Änderung oder Aufhebung eines Steuerbescheides nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 AO ist nicht schon dann ausgeschlossen, wenn die Behörde in Kenntnis des vollen Sachverhalts möglicherweise nicht anders entschieden hätte, sondern erst dann, wenn dies mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Fall gewesen wäre. Infolgedessen kommt eine Änderung oder Aufhebung in Betracht, sobald die Finanzbehörde bei voller Kenntnis auch nur möglicherweise die Steuer anders festgesetzt hätte. Im Zweifel ist mithin von der Rechtserheblichkeit der Tatsache auszugehen, hat also der in § 173 AO zum Ausdruck kommende Grundsatz der Richtigkeit der Steuerfestsetzung Vorrang (BFH-Urteil vom 13. Mai 1998 II R 67/96, a.a.O.); die Finanzbehörde trägt insoweit die Feststellungslast (Balmes in Kühn/von Wedelstädt, AO, § 173 Rz. 8; Koenig in Pahlke/Koenig, AO, § 173 Rz. 90).

II. Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall erweisen sich die Ablehnungsbescheide für die Jahre 2001 - 2002 als rechtswidrig, die Ablehnungsbescheide für 2003 - 2004 hingegen als rechtmäßig.

1. Dem FA sind mit dem Änderungsantrag der Kläger für sämtliche Streitjahre neue Tatsachen bekannt geworden, nämlich der Lebenssachverhalt, dass Sonderzahlungen des Arbeitgebers an die VK Z in den Streitjahren vom Kläger als Arbeitslohn versteuert worden sind.

Dem kann das FA nicht mit Erfolg den - erstmals im Klageverfahren vorgetragenen - Einwand entgegenhalten, aus den Vermerken auf den Lohnsteuerkarten, wonach Zukunftssicherungsleistungen lohnversteuert worden seien, sei dieser Umstand bereits erkennbar gewesen. Den Vermerken lässt sich allenfalls entnehmen, dass überhaupt Zukunftssicherungsleistungen als Arbeitslohn versteuert worden sind, nicht hingegen, dass es sich hierbei (auch) um Sonderzahlungen im Rahmen eines sog. Nachteilsausgleichs gehandelt hat. Im Zeitpunkt der jeweiligen Veranlagung stand folglich nicht fest, ob und ggf. in welcher Höhe Zahlungen im Rahmen des Nachteilsausgleichs lohnversteuert worden sind. Hierüber hätte die Finanzbehörde allenfalls Mutmaßungen anstellen können. Vermutungen, Verdachtsmomente und Wahrscheinlichkeiten sind indes keine Tatsachen (vgl. Frotscher in Schwarz, § 173 Rz. 13).

2. Die Kläger trifft auch kein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der in Rede stehenden Tatsachen. Es fehlen jegliche Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger die Tatsache der Versteuerung des Nachteilsausgleichs der Behörde bewusst nicht zur Kenntnis gebracht hat.

Den Vermerken auf den Lohnsteuerkarten konnte auch der Kläger aus den oben dargelegten Gründen nicht entnehmen, dass Sonderzahlungen im Rahmen des Nachteilsausgleichs der Lohnsteuer unterworfen worden sind.

Soweit das FA - wiederum erstmals im Klageverfahren - meint, aus der "Allgemeinen Information" der Stadtsparkasse F vom 15. März 2006 gehe hervor, dass für den Kläger die steuerliche Behandlung der Zahlungen bereits aus den Lohnabrechnungen ersichtlich gewesen sei, ist dies schon aus tatsächlichen Gründen nicht nachvollziehbar. Diesem Schreiben zur "Versteuerung des Nachteilsausgleichs in der VK Z-Umlage" lässt sich lediglich der Hinweis entnehmen, dass ein Nachteilsausgleich im Einzelfall der individuellen Versteuerung unterworfen worden ist, wenn das Einkommen "VK-Pflicht" einen bestimmten Betrag überschritten habe. Das Schreiben dürfte somit der ersten Information der Betroffenen über den im Einzelfall versteuerten Nachteilsausgleich gedient haben. Es spricht somit gegen die Auffassung des FA, diese Umstände seien den Betroffenen und damit auch dem Kläger bereits aus den Gehaltsabrechnungen bekannt gewesen.

Demzufolge kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger bei Abgabe der Steuererklärungen Kenntnis von der individuellen Versteuerung des Nachteilsausgleichs hatte, geschweige denn, dass er diesen Umstand grob schuldhaft dem FA nicht mitgeteilt hat.

3. Die nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen führen zu einer niedrigeren Steuer, da die Besteuerung des Nachteilsausgleichs als Arbeitslohn rechtswidrig war (BFH Urteil vom 14. September 2005 VI R 148/98, a.a.O.).

4. In den Streitjahren 2001 und 2002 ist das FA zur Durchführung der begehrten Änderung verpflichtet. Die neuen Tatsachen - Zahlung einer Sonderumlage als Teil des besteuerten Arbeitslohns - sind rechtserheblich; nach den in diesen Jahren gegebenen Umständen kann nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass das FA die Umlage nicht als Arbeitslohn erfasst hätte. Die Sache ist spruchreif.

Zu den insoweit maßgeblichen Zeitpunkten, nämlich den Veranlagungen in den Jahren 2002 und 2003, fehlten nicht nur - unstreitig - eine einschlägige Rechtsprechung des BFH, sondern auch bindende Verwaltungsanweisungen oder sonstige - dem Veranlagungssachbearbeiter zugängliche - Anhaltspunkte für eine maßgebliche Rechtsauffassung der Finanzverwaltung. Unabhängig davon, ob es sich bei der Mitteilung für den Lohnsteueraußendienst Nr. 12/2001 um eine Verwaltungsanweisung handelt, ist Adressat der Mitteilung nicht der Veranlagungssachbearbeiter, sondern der Lohnsteueraußenprüfer. Demzufolge kann nicht davon ausgegangen werden, dass der jeweils zuständige Veranlagungssachbearbeiter von dieser Mitteilung Kenntnis gehabt haben könnte. Ebenso wenig kann dessen Kenntnis von den seitens der Behörde angeführten Verfahren beim FG Düsseldorf zu Az. 12 K 7182/95 L (Urteil vom 17. September 1996; aufgehoben durch BFH-Urteil vom 14. September 2005 VI R 148/98, a.a.O.) bzw. 15 K 6297/03 L (Urteil vom 25. August 2005, Entscheidungen der Finanzgerichte 2005, 1769) sowie vom Schriftverkehr Dritter (Stadt F) mit dem Finanzministerium des Landes NRW angenommen werden. Unerheblich ist auch, welche Auskunft ein Veranlagungssachbearbeiter hinsichtlich der Beurteilung der in Rede stehenden Rechtsfrage von Seiten des Lohnsteuerreferats der OFD erhalten hätte, da ein solches Auskunftsersuchen nicht unterstellt werden kann. Auf der Grundlage der dargelegten Gesamtumstände ist nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellbar, wie der Veranlagungssachbearbeiter entschieden hätte. Dies geht - wie dargelegt - zu Lasten der Finanzbehörde, die insoweit die Feststellungslast trägt.

5. In den Streitjahren 2003 - 2004 besteht keine Verpflichtung des FA, die bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide zu Gunsten der Kläger zu ändern. Das Gericht ist insoweit nach Durchführung der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass das FA bei Kenntnis der Tatsache, dass in den bescheinigten und erklärten Arbeitslöhnen des Klägers Sonderzahlungen des Arbeitgebers an die VK Z enthalten sind, den Arbeitslohn nicht um diesen Nachteilsausgleich gemindert, sondern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Einkommensteuer ebenso (falsch) festgesetzt hätte, wie dies ohne Kenntnis der Tatsache geschehen ist.

In Abweichung zu dem in den vorangegangenen Streitjahren maßgeblichen Sachverhalt lag im Zeitpunkt des Erlasses der Einkommensteuerbescheide 2003 und 2004 im Jahre 2005 die Kurzinformation Einkommensteuer der OFD (Nr. 043/2004) vom 28. Juni 2004 vor. In der Mitteilung ist zur Steuerpflicht des Nachteilsausgleichs beim Wechsel auf die VK Z ausgeführt, dass diese "Umlage nach Auffassung der Finanzverwaltung als Arbeitslohn der Beschäftigten zu beurteilen" ist. Ferner wird auf ein beim FG Düsseldorf anhängiges Musterverfahren hingewiesen und mitgeteilt, Einsprüche könnten nach § 363 Abs. 2 Satz 3 AO ruhen. Zudem enthält diese Unterlage die Anweisung, "Aussetzung der Vollziehung ist nicht zu gewähren".

Der Kurzinformation lässt sich die maßgebliche Rechtsauffassung der Finanzverwaltung zur Steuerpflicht der Sonderumlage zweifelsfrei entnehmen. Wenn Einsprüche ruhen sollten und der Sachbearbeiter angewiesen wurde, die Aussetzung der Vollziehung nicht zu gewähren, beinhaltet dies zwingend, dass die Sonderzahlung als steuerpflichtiger Arbeitslohn zu behandeln ist. Auf derartige Mitteilungen im (elektronischen) Informationssystem der Finanzverwaltung in NRW hat der jeweilige Bearbeiter im Veranlagungsbereich unmittelbaren Zugriff. Nach Auffassung des Senats ist bei Würdigung der Gesamtumstände des Einzelfalles und der gebotenen typisierenden Betrachtung des hypothetischen Kausalverlaufs davon auszugehen, dass diese Kurzinformation bei Prüfung der maßgeblichen Rechtsfrage vom Bearbeiter des Veranlagungsbezirks beachtet worden wäre und sich dieser mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht über die darin zum Ausdruck kommende Rechtsauffassung der Finanzverwaltung hinweggesetzt hätte. Dies hätte zur Folge gehabt, dass die Umlage als steuerpflichtiger Arbeitslohn behandelt worden wäre (ebenso im Ergebnis FG Düsseldorf, Urteil vom 30. November 2006, 8 K 2386/06 E, n. V.; a. A. FG Düsseldorf, Urteil vom 6. August 2007, 1 K 3800/06 E, a.a.O.). Ob es sich bei der Kurzinformation Einkommensteuer dem Rechtscharakter nach um eine Verwaltungsanweisung handelt bzw. derartige Mitteilungen "praktisch" wie Verwaltungsanweisungen behandelt werden (vgl. hierzu im Einzelnen FG Düsseldorf, Urteil vom 6. August 2007, 1 K 3800/06 E, a.a.O.), kann nach Auffassung des Senats dahinstehen. Denn die Feststellung, wie die Behörde bei der ursprünglichen Veranlagung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entschieden hätte, kann nicht nur mit Hilfe ganz bestimmter Beweismittel getroffen werden (BFH-Urteil vom 15. Dezember 1999 XI R 38/99, a.a.O.; BFH in BStBl II 1999, 433).

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO.

IV. Die Revision wird für alle Streitjahre wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO). Die zur Frage der Rechtserheblichkeit nachträglich bekannt gewordener Tatsachen in Einzelfragen vertretenen unterschiedlichen Auffassungen (vgl. Nachweise bei Frotscher in Schwarz, § 173 Rz. 31 ff) bedürfen der höchstrichterlichen Klärung, zumal zum entscheidungserheblichen Sachverhalt divergierende finanzgerichtlichen Entscheidungen getroffen worden sind (Senatsurteil bzw. Urteile des FG Düsseldorf vom 30. November 2006, 8 K 2386/06 E und vom 6. August 2007, 1 K 3800/06 E, a.a.O.) und eine Vielzahl gleichgelagerter Rechtsbehelfsverfahren anhängig sind.

Ende der Entscheidung

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