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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 04.04.2006
Aktenzeichen: 6 K 121/06 KA
Rechtsgebiete: AO, FGO


Vorschriften:

AO § 5
AO § 237
AO § 350
AO § 361 Abs. 2
FGO § 40 Abs. 2
FGO § 44 Abs. 1
FGO § 100 Abs. 1 Satz 4
FGO 102 Satz 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tatbestand

Die Klägerin betreibt ein Unternehmen "im Bereich der Telekommunikation" in Deutschland.

Im Anschluss an eine Außenprüfung für den Zeitraum 1996 bis 1998 hat der Beklagte u. a. einen Änderungsbescheid zur Körperschaftsteuer 1996, über Zinsen zur Körperschaftsteuer 1996 und zum Solidaritätszuschlag zur Körperschaftsteuer 1996 vom 31.03.2005 erlassen. Mit diesem Änderungsbescheid ist der Beklagte den Vorschlägen der Betriebsprüfer im Betriebsprüfungsbericht vom 16.12.2004 gefolgt. Den von der Klägerin erhobenen Einspruch hat der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 25.06.2005 zurückgewiesen. Mit ihrer Klage vom 29.07.2005 (6 K 3224/05) wendet sich die Klägerin wie im Einspruchsverfahren u.a. gegen die vom Beklagten vorgenommene Auflösung eines aktiven Rechnungsabgrenzungspostens. Dieser war vom Beklagten für sog. "A-" Subventionen gebildet worden. "...". Über die Klage ist noch nicht entschieden.

Während des noch laufenden Einspruchsverfahrens hob der Beklagte die Vollziehung des Bescheides zur Körperschaftsteuer 1996, über Zinsen zur Körperschaftsteuer 1996 und über den Solidaritätszuschlag zur Körperschaftsteuer 1996 mit Verfügung vom 31.05.2005 bis einen Monat nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Einspruch auf (wegen des genauen Inhalts wird auf das Schreiben des Beklagten vom 31.05.2005 Bezug genommen). Mit Schreiben vom 09.06.2005 legte die Klägerin gegen die Verfügung über die Aufhebung der Vollziehung Rechtsmittel ein. Der Beklagte wertete das Schreiben als Einspruch und verwarf diesen durch Einspruchsentscheidung vom 08.12.2005 als unzulässig, da die Aufhebung der Vollziehung einen begünstigenden Verwaltungsakt darstelle und die Klägerin folglich nicht i. S. d. § 350 Abgabenordnung -AO- beschwert sei.

Mit ihrer Klage vom 10.01.2006 macht die Klägerin geltend, der Einspruch gegen die Verfügung über die Aufhebung der Vollziehung vom 31.05.2005 sei entgegen der Auffassung des Beklagten zulässig gewesen. Zwar stelle die Aufhebung der Vollziehung grundsätzlich einen begünstigenden Verwaltungsakt dar, der keine Rechtsverletzung auf Seiten des Begünstigten auslösen könne, jedoch sei zu berücksichtigen, dass eine Verletzung von Rechten auch dann vorliege, wenn ein Vorteil in späteren Jahren zu einem Nachteil umschlagen könne. Dieses sei vorliegend der Fall, da die Klägerin bei einem Unterliegen in der Hauptsache verpflichtet sei, Aussetzungszinsen nach § 238 AO zu zahlen. Da insoweit auch kein Ermessensspielraum auf Seiten des Beklagten bestehe, habe die Klägerin nur die Möglichkeit, die Verfügung über die Aufhebung der Vollziehung selbst anzufechten. Hinzu komme, dass die Klägerin auf Grund des derzeitigen allgemeinen Kapitalmarktzinsniveaus bei einer Zinspflicht mit 6 % wirtschaftliche Nachteile erleide, die noch dadurch gesteigert würden, dass die von ihr zu zahlenden Aussetzungszinsen nicht abzugsfähig sind.

Die Klage sei auch begründet, da Voraussetzung für die Aufhebung der Vollziehung von Amts wegen sei, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der streitigen Steuerbescheide bestünden. Der Beklagte sei jedoch, wie die Klage in der Hauptsache zeige, der Auffassung, die von ihm erlassenen Bescheide seien rechtmäßig.

Hinzu komme, dass es sich bei der Aufhebung der Vollziehung von Amts wegen um eine Ermessensentscheidung i. S. d. § 5 AO handele. Der Beklagte habe aber bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt, dass nach Sinn und Zweck des § 361 AO der Schutz des Steuerpflichtigen beabsichtigt sei, die Klägerin aber diesen Schutz nicht beanspruchen wolle. Auch wolle der Beklagte im Gegensatz zur gesetzgeberischen Wertung ihr den finanziellen Nachteil der Zinspflicht gemäß § 237 AO aufbürden. Darüber hinaus liege ein Ermessensfehlgebrauch vor, weil der Beklagte mit der Aufhebung der Vollziehung gegen Treu und Glauben verstoßen habe. Denn einerseits fordere er im Hauptsacheverfahren die Klageabweisung mit der Begründung, der Bescheid sei rechtmäßig, gleichzeitig stelle er sich für Zwecke der Aufhebung der Vollziehung jedoch auf den Standpunkt, es bestünden ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Steuerbescheides. Beide Auffassungen seien aber miteinander unvereinbar.

Die Klägerin beantragt,

festzustellen, dass die Anordnung der Aufhebung der Vollziehung des Bescheides für 1996 über Körperschaftsteuer, Zinsen zur Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag durch Verwaltungsakt vom 31.05.2005 rechtswidrig war,

hilfsweise, die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er ist weiterhin der Auffassung, dass die Klägerin durch die Gewährung des vorläufigen Rechtschutzes in Gestalt der Aufhebungsverfügung vom 31.05.2005 nicht in ihren Rechten verletzt werden könne. Folglich könne die Klägerin aus dieser Maßnahme keine Beschwer i. S. d. § 350 AO herleiten. Soweit sie im Falle eines möglichen Unterliegens im Hauptsacheverfahren einen Zins zu entrichten habe, der den derzeitig erzielbaren Marktzins übersteige und zudem ertragsteuerlich nicht abziehbar sei, handele es sich lediglich um eine bloße wirtschaftliche Interessenbeeinträchtigung, die eine Beschwer i. S. d. § 350 AO aber gerade nicht herbeiführen könne.

Hinzu komme, dass der Beklagte zwar der Auffassung sei, die im Hauptsacheverfahren angefochtenen Steuerbescheide seien rechtmäßig, jedoch sei angesichts der unklaren rechtlichen Lage nicht ausgeschlossen, dass zugleich ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit angenommen würden (wegen der Begründung im Einzelnen wird auf den Schriftsatz des Beklagten vom 20.02.2006 Bezug genommen). Soweit die Klägerin einen Ermessensfehlgebrauch erkenne, sei dem nicht zu folgen. Denn der Beklagte sei berechtigt, bei der Ermessensausübung neben den finanziellen Interessen der Klägerin auch die finanzielle Belastung des Staates zu berücksichtigen. Der Staat habe die Möglichkeit und die Verpflichtung, im Rahmen seiner Entscheidungen "budgetäre Risikovorsorge" zu betreiben und unter voller Wahrung rechtsstaatlicher Bedingungen beim Vorliegen besonderer Umstände "fiskalische Interessen" zu berücksichtigen.

Gründe

Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig.

Die Aufhebung der Vollziehung vom 31.05.2005 ist - unstreitig - als Verwaltungsakt i. S. d. § 118 AO anzusehen (vgl. § 361 Abs. 5 AO; Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spittaler, AO/FGO, § 361 AO Rz. 325 und § 69 FGO Rz. 128 und 132 zum insoweit wortgleichen § 69 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung -FGO-). Dieser Verwaltungsakt hat sich auch einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung erledigt, da die mit dem Verwaltungsakt ausgesprochene Aufhebung der Vollziehung zu diesem Zeitpunkt endete, womit sich der Regelungsgehalt erschöpft hat (vgl. dazu Bundesfinanzhof -BFH-, Urteil vom 16. April 1986 I R 32/84, Sammlung der Entscheidungen des BFH -BFHE- 147, 14, Bundessteuerblatt -BStBl.- II 1986, 736, 737).

Insbesondere steht § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO der Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage nicht entgegen. Zwar erfasst § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO seinem Wortlaut nach nur den Fall der Erledigung des Verwaltungsaktes nach Klageerhebung; eine Fortsetzungsfeststellungsklage ist jedoch auch zulässig, wenn sich der Verwaltungsakt schon vor Klageerhebung oder - wie im Streitfall - vor Beendigung des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens erledigt hat (vgl. BFH-Urteile vom 10. April 1990 VIII R 415/83, BFHE 160, 409, BStBl. II 1990, 721, 722; vom 7. November 1985 VI R 6/85, BFHE 145, 23, BStBl. II 1986, 435).

Es kann dahinstehen, ob bei einer Erledigung vor dem Ablauf der Einspruchsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 AO eine unmittelbare Klageerhebung zulässig ist (so: BVerwG, Urteil vom 9. Februar 1967 1 C 49/64, BVerwGE 26, 161, 165 zu § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO; krit.: v. Beckerath in Beermann/Gosch, Steuerliches Verfahrensrecht, § 44 FGO Tz. 33 f.), weil die für die Anfechtungsklage vorgeschriebenen Prozessvoraussetzungen nur bis zum Eintritt des den Verwaltungsakt erledigenden Ereignisses zu beachten sind (so BFH-Urteil vom 24. Februar 1989 III R 36/88, BFHE 156, 54, BStBl. II 1989, 445, 447). Denn selbst wenn eine Fortsetzungsfeststellungsklage der Sache nach als Unterfall der Anfechtungsklage anzusehen sein sollte (so BFH-Urteile vom 2. Juni 1987 VIII R 192/83, BFH/NV 1988, 104; vom 24. Februar 1989 III R 36/88, BFHE 156, 54, BStBl. II 1989, 445, 447) und folglich gemäß § 44 Abs. 1 FGO nur nach einem erfolglos durchgeführten Vorverfahren zulässig ist, wird im Streitfall mit der Einspruchsentscheidung vom 08.12.2005 die Voraussetzung des § 44 Abs. 1 FGO erfüllt.

Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist - entgegen der Ansicht des Beklagten - auch nicht wegen Fehlens des allgemeinen Rechtschutzbedürfnisses (§ 40 Abs. 2 FGO) ausgeschlossen. Zwar fehlt es regelmäßig an der nach § 40 Abs. 2 FGO erforderlichen Klagebefugnis, wenn ein Steuerpflichtiger im Klageverfahren die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines ihn begünstigenden Verwaltungsaktes begehrt. Denn in diesem Fall fehlt es an einer möglichen Verletzung des Klägers in seinen - eigenen - Rechten (vgl. z. B. Tipke in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 40 FGO Tz. 40 a). Auch begünstigende Verwaltungsakte können jedoch eine - subjektive - Rechtsverletzung auslösen, wenn der gegenwärtige Vorteil (durch den begünstigenden Verwaltungsakt) später einen den Steuerpflichtigen belastenden Verwaltungsakt auslösen kann und der Steuerpflichtige in einem Verfahren gegen den belastenden Verwaltungsakt keine Einwendungen mehr gegen die Rechtmäßigkeit des ihn begünstigenden Verwaltungsakts geltend machen kann (vgl. BFH-Urteile vom 30. November 2005 I R 1/05, BB 2006, 929; vom 30. April 2002 X B 207/01, BFH/NV 2002, 1313; FG Düsseldorf, Urteil vom 23. November 2004 6 K 3922/02, EFG 2005, 399 mit Anm. Trossen; Tipke in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 40 FGO Tz. 41; Bartone in Kühn/v. Wedelstädt, AO/FGO, § 40 FGO Rz. 14; anderer Ansicht: v. Groll in Gräber, FGO, 5. Aufl., § 40 Rz. 89 f).

So ist es im Streitfall. Die vom Beklagten bekannt gegebene Entscheidung über die Aufhebung der Vollziehung stellt einen begünstigenden Verwaltungsakt dar (Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spittaler, AO/FGO, § 69 FGO Rz. 132). Jedoch kommt ihm im Hinblick auf die Festsetzung von Aussetzungszinsen Tatbestandswirkung zu. Daher bestimmt der Ausspruch verbindlich Umfang und Dauer der Aussetzung. Unerheblich ist im Verfahren über die Festsetzung der Aussetzungszinsen nach § 237 AO, ob die Aufhebung der Vollziehung zu Recht oder zu Unrecht ausgesprochen wurde (vgl. zu allem: BFH-Urteil vom 9. Dezember 1998 XI R 24/98, BFHE 187, 400, BStBl. II 1999, 201; vom 18. Juli 1994 X R 33/91, BFHE 175, 294, BStBl. II 1995, 4; Beschluss vom 23. November 1994 V B 166/93, BFH/NV 1995, 662; FG Rheinland-Pfalz vom 3. April 1998 3 K 1197/96, EFG 1998, 1111; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spittaler, AO/FGO, § 237 AO Tz. 22; Wagner in Kühn/v. Wedelstädt, AO/FGO, § 237 AO Rz. 10). Da die Entscheidung über die Festsetzung von Aussetzungszinsen gemäß § 237 AO auch nicht dem Ermessen der Finanzbehörde unterliegt, führt die für den Steuerpflichtigen im Grundsatz begünstigende Entscheidung über die Aufhebung der Vollziehung im Falle des Unterliegens in der Hauptsache zwangsläufig zur einem rechtlichen Nachteil. Da die Klägerin - unwidersprochen - vorgetragen hat, ihr sei es möglich, sich auf dem allgemeinen Kapitalmarkt zu einem günstigeren Zinssatz als 6 % zu refinanzieren, ist nicht ausgeschlossen, dass der mögliche Nachteil den durch den begünstigenden Verwaltungsakt erlangten Vorteil überwiegt.

Die Klägerin hat auch ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts über die Aufhebung der Vollziehung. Berechtigt in diesem Sinne ist jedes konkrete, vernünftigerweise anzuerkennende schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art (vgl. BFH-Urteil vom 9. November 1994 XI R 33/93, BFH/NV 1995, 621). Dabei muss die begehrte Feststellung geeignet sein, in einem dieser Bereiche zu einer Positionsverbesserung der Klägerin zu führen. Erforderlich ist jedoch ein gewisser, die Verfahrensfortsetzung aus prozessökonomischen Gründen rechtfertigender Zusammenhang (vgl. BFH-Urteile vom 18. Mai 1976 VII R 108/73, BFHE 119, 26, BStBl. II 1976, 566; vom 11. März 1992 X R 116/90, BFH/NV 1992, 757).

Bei einem erledigten Bescheid über die Aufhebung der Vollziehung hat der Steuerpflichtige ein solches berechtigtes Interesse, denn er kann auf Grund der Tatbestandswirkung des Verwaltungsakts über die Aufhebung der Vollziehung nur auf diesem Wege die später mögliche Festsetzung von Aussetzungszinsen verhindern (vgl. für den Fall eines erledigten Mitwirkungsverlangens: BFH-Urteile vom 9. November 1994 XI R 33/93, BFH/NV 1995, 621, 622; vom 20. Februar 1990 IX R 83/88, BFHE 160, 391BStBl II 1990, 789).

Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist auch begründet.

Der Bescheid über die Aufhebung der Vollziehung vom 31.05.2005 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 08.12.2005 war rechtswidrig.

Nach § 361 Abs. 2 Sätze 1 und 2 AO kann die Finanzbehörde, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, die Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen. Auf Antrag soll die Aussetzung erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, tritt an die Stelle der Aussetzung der Vollziehung die Aufhebung der Vollziehung.

Es kann dahinstehen, ob an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts ernstliche Zweifel bestanden und ob für eine Aufhebung der Vollziehung von Amts wegen (§ 361 Abs. 2 Satz 1 AO) überhaupt ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen müssen. Denn bei der Entscheidung nach § 361 Abs. 2 AO über die Aufhebung der Vollziehung eines Verwaltungsaktes handelt es sich um eine Ermessensentscheidung (Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spittaler, AO/FGO, § 361 AO Rz. 325). Dieses wird bereits aus dem Wortlaut des § 361 Abs. 2 AO deutlich. So bestimmt § 361 Abs. 2 AO, dass die Vollziehung ausgesetzt werden "kann". Dass es sich hierbei nicht um eine bloße Kompetenzzuweisungsnorm handelt, wird aus § 361 Abs. 2 Satz 2 AO deutlich, der das in § 361 Abs. 2 Satz 1 AO eingeräumte Ermessen dadurch eingrenzt, dass die Aussetzung erfolgen "soll", wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen und der Steuerpflichtige die Aussetzung der Vollziehung beantragt. Soweit der Beklagte ausweislich eines Vermerks in den Steuerakten davon ausgeht, dass kein Ermessensspielraum besteht, wenn die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes ernstlich zweifelhaft ist und der Steuerpflichtige keinen Antrag gestellt hat (vgl. den Vermerk des Beklagten auf dem Schreiben der Klägerin vom 09.06.2005), ist dem nicht zu folgen. Ein solches Auslegungsergebnis findet keine Grundlage im Gesetz und ergibt sich insbesondere auch nicht aus dem Umstand, dass es sich bei dem Tatbestandsmerkmal "ernstliche Zweifel" um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, der der Finanzbehörde kein Ermessen einräumt (vgl. Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spittaler, AO/FGO, § 69 FGO Rz. 282, 285 m. w. N.). Denn hierdurch ist nicht ausgeschlossen, dass ein anderes Tatbestandsmerkmal (hier "kann") den entsprechenden Ermessensspielraum im Hinblick auf die festgelegte Rechtsfolge eröffnet (vgl. Birk in Hübschmann/Hepp/Spittaler, AO/FGO, § 5 AO Rz. 90).

Der Beklagte hat das ihm eingeräumte Ermessen nicht in der notwendigen Weise ausgeübt.

Nach § 5 AO hat die Finanzbehörde ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Hierbei hat die Finanzbehörde ihr Ermessen vor Erlass der Entscheidung auszuüben, kann dies aber noch bis zum Erlass der Einspruchsentscheidung nachholen (vgl. BFH, Urteile vom 11. Juni 1997, X R 14/95 , BFHE 183, 21, BStBl. II 1997, 642, 644; vom 26. März 1991, VII R 66/90, BFHE 164, 7, BStBl II 1991, 545; Birk in Hübschmann/Hepp/Spittaler, AO/FGO, § 5 AO Rz. 240 mit umfangreichen weiteren Nachweisen), wobei die Ermessensentscheidung der Behörde von den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit nur daraufhin überprüft werden darf, ob sie rechtswidrig ist, weil die Behörde den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht einwandfrei und erschöpfend ermittelt, die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 102 FGO). Die Behörde hat die Grenzen des ihr eingeräumten Ermessens überschritten (so Brandt in Beermann/Gosch, Steuerliches Verfahrensrecht, § 102 FGO Rz. 42; v. Groll in Gräber, FGO, 5. Aufl. 2002, § 102 Rz. 2), beziehungsweise von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (so: Lange in Hübschmann/Hepp/Spittaler, AO/FGO, § 102 FGO, Rz. 105 f.), wenn sie ein ihr zustehendes Ermessen tatsächlich nicht ausgeübt hat (Ermessensnichtgebrauch bzw. Ermessensunterschreitung, vgl. Birk in Hübschmann/Hepp/Spittaler, AO/FGO, § 5 AO Rz. 155).

Der Beklagte hat das ihm eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt. Die Aussetzungsverfügung vom 31.05.2005 enthält insoweit keinerlei Begründung, die auf eine Ermessensausübung schließen lässt. Vielmehr handelt es sich um den "normalen Vordruck" für die Gewährung einer Vollziehungsaussetzung, der neben dem Ausspruch über die Vollziehungsaussetzung bis einen Monat nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Einspruch lediglich einen Widerrufsvorbehalt sowie den Hinweis auf die mögliche Verzinsungspflicht nach § 237 AO beinhaltet. Auch die Einspruchsentscheidung vom 08.12.2005 enthält insoweit keine Ermessenserwägungen. Vielmehr wird lediglich auf die Unzulässigkeit des Einspruchs im Hinblick auf die mangelnde Beschwer (§ 350 AO) verwiesen. Die Steuerakten enthalten ebenfalls keinen Anhaltspunkt für eine Ermessensausübung (zur Frage, ob Ermessenserwägungen in den Verwaltungsakten überhaupt berücksichtigt werden können, vgl. BFH-Beschluss vom 27. Dezember 2005 VII B 268/04, BFH/NV 2006, 708). Im Gegenteil heißt es in einem handschriftlichen Vermerk auf der letzten Seite des vom Beklagten richterweise als Einspruch gewerteten Schreibens der Klägerin vom 09.06.2005: "Keine Ermessensentscheidung soweit ernstliche Zweifel".

Soweit der Beklagte im Klageverfahren mit seinem Schriftsatz vom 20.02.2006 Ermessenserwägungen angestellt hat, sind diese nicht zu berücksichtigen. Zwar ermöglicht § 102 FGO der Finanzbehörde, Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens zu ergänzen. Wie aus dem Tatbestandsmerkmal "ergänzen" deutlich wird, ermöglicht die Vorschrift aber lediglich die Nachbesserung, nicht aber die Nachholung von Ermessenserwägungen (vgl. Wagner in Kühn/von Wedelstedt, AO/FGO, § 102 FGO Rz. 4). Hat die Finanzbehörde keine Entscheidung getroffen oder ist sie - wie im Streitfall - zu Unrecht von einer gebundenen Entscheidung ausgegangen ("Ermessensnichtgebrauch"), scheidet eine "Ergänzung" nach § 102 Satz 2 FGO aus, da es an einer ergänzungsfähigen Ermessensentscheidung fehlt (vgl. BFH-Urteil vom 11. März 2004 VII R 52/02, BFHE 205, 14, BStBl II 2004, 579; Beschlüsse vom 9. November 2004 VI B 39/02, BFH/NV 2005, 378; vom 2. Juni 2004 IV B 56/02, BFH/NV 2004, 1536; FG Saarland, Urteil vom 4. März 2004 2 K 116/01, EFG 2004, 1192; Kruse in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 102 FGO Tz. 12).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

Die Revision war nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

Ende der Entscheidung

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