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Gericht: Finanzgericht Hamburg
Beschluss verkündet am 15.01.2008
Aktenzeichen: 3 K 118/07
Rechtsgebiete: SGB II, FGO, ZPO, EStG


Vorschriften:

SGB II § 24
FGO § 142
ZPO § 114
EStG §§ 62 ff.
EStG § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Hamburg

3 K 118/07

Gründe:

I. Die Beteiligten streiten darum, ob dem Kläger Kindergeld in voller Höhe oder nur zur Hälfte zusteht.

1. Der Kläger wohnt seit 1987 in Deutschland (vgl. Bl. 111 der Beklagten-Akte), ist deutscher Staatsangehöriger und von Beruf Gabelstaplerfahrer. Seine beiden Kinder (A, geboren ...1985; B, geboren 1987) wohnen mit ihrer Mutter, der geschiedenen Ehefrau des Klägers, in Polen.

Der Kläger erhält Arbeitslosengeld II (im Folgenden: ALG II) nach Sozialgesetzbuch II (SGB II). Bis zum Mai 2006 erhielt er den befristeten Zuschlag nach Bezug von Arbeitsgeld gemäß § 24 SGB II, seit dem Juni 2006 erhält er ALG II ohne den Zuschlag (vgl. Bl. 46, 85R, 117f d. Beklagten-Akte). Sonstige Einnahmen erzielt er nicht.

2. Die Kindesmutter erhielt in Polen antragsgemäß Familienleistungen für die Kinder (Bl. 22f d. Beklagten-Akte). Nachdem sie ihren entsprechenden Antrag zum 01. Januar 2005 zurückgenommen hatte (Bl. 55f, 111 d. Beklagten-Akte), wurde die Zahlung der polnischen Familienleistungen eingestellt (vgl. Bl. 28 d. Beklagten-Akte).

3. Auf seinen in Deutschland gestellten Kindergeldantrag erhielt der Kläger vom Beklagten zunächst den Differenzbetrag zwischen den in Polen gewährten Familienleistungen und dem deutschen Kindergeld, ab dem 1. Januar 2005 sodann das Kindergeld in voller Höhe von EUR 154 je Kind (Bescheid vom 24. Februar 2006, Bl. 63 d. Beklagten-Akte).

4. Mit Bescheiden vom 25. Januar (Bl. 97, 99 d. Beklagten-Akte) wurde Kindergeld dahingehend (geändert) festgesetzt, dass er ab Juni 2006 nur noch die Hälfte, also pro Kind EUR 77 erhält. Zur Begründung führte der Bescheid aus, dass ein Kindergeldanspruch des Klägers eigentlich vollständig ausgeschlossen sei, weil der Anspruch auf Familienleistungen in Polen vorrangig sei (§ 65 Abs. 1 Satz 2 Einkommensteuergesetz, im Folgenden: EStG) und der Kläger als ALG II-Bezieher nicht dem Anwendungsbereich der EG-Verordnung für Arbeitnehmer und Selbständige unterfalle.

5. Der Kläger legte am 22. Februar Einspruch ein (Bl. 102 d. Beklagten-Akte). Er meinte, als arbeitsloser Arbeitnehmer und Bezieher von ALG II dem persönlichen Geltungsbereich der Art. 72a ff VO (EG) Nr. 1408/1971 zu unterfallen. Das Kindergeld sei gemäß Art. 74 VO (EG) Nr. 1408/1971 in voller Höhe an ihn auszuzahlen. Die Prioritätsregel des Art. 76 VO (EG) Nr. 1408/1971 greife nicht, weil die Kindesmutter in Polen keiner Erwerbstätigkeit nachgehe. Insofern wirke auch Art. 10 VO (EG) Nr. 574/72 nicht anspruchsbeschränkend.

6. Der Beklagte änderte daraufhin die Kindergeldfestsetzung mit Bescheid vom 05. Juni 2007 aus formellen Gründen dahingehend, dass das Kindergeld erst ab dem Februar 2007 halbiert wird. Den Einspruch gegen den geänderten Bescheid wies der Beklagte am 07. Juni 2007 als unbegründet zurück (Bl. 124 d. Beklagten-Akte) und verwies auf die Art. 12 Abs. 2 VO (EG) Nr. 1408/1971 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 VO (EG) Nr. 574/1972.

7. Der Kläger hat am 02. Juli 2007 Klage erhoben gegen die Kindergeldfestsetzungsbescheide vom 25. Januar 2007 und vom 05. Juni 2007, jeweils in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 07. Juni 2007. Die Klagerhebung hat er unter die Bedingung gestellt, dass ihm Prozesskostenhilfe gewährt wird. Zur Begründung hat er Bezug genommen auf seinen Einspruch vom 22. Februar 2007.

8. Der Beklagte hält die Klage für unbegründet. Zur Begründung nimmt er Bezug auf seine Einspruchsentscheidung, die er in seiner Klagerwiderung vom 14. August 2007 weiter erläutert.

9. Dem Gericht liegt die Kindergeldakte des Beklagten zur Kindergeldnummer ...vor.

II. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe gemäß § 142 Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. §§ 114 ff Zivilprozessordnung (ZPO) kommt nicht in Betracht, weil eine Erfolgsaussicht der Klage auf Gewährung von weiterem Kindergeld nicht erkannt werden kann.

Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 100 S.1 Finanzgerichtsordnung - FGO - ), weil gemäß § 65 Abs. 1 S.1 Nr. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) die Gewährung von deutschem Kindergeld aufgrund des im Polen gegebenen Anspruchs von Familienleistungen für seine beiden dort lebenden Kinder ausgeschlossen ist. Die Vorschriften der Verordnung (EWG) Nr. 1408/1971 vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (konsolidierte Fassung - ABl. Nr. 1 28 vom 30.01.1997, S. 1 - im Folgenden: VO) und die hierzu ergangene Verordnung (EWG) Nr. 547/1972 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der VO (konsolidierte Fassung - ABl. Nr. 1 28 vom 30.01.1997, S. 1 - im Folgenden: DVO) finden auf ihn keine Anwendung.

1. Rechtsgrundlage für einen Anspruch des Klägers auf Kindergeld in Deutschland sind §§ 62 ff. EStG. Die auch von den Beteiligten angesprochenen, oben zitierten Verordnungen enthalten grundsätzlich keine eigenständigen, abschließenden Regelungen über Ansprüche auf Familienleistungen, also auch auf Kindergeld. Sie sollen den begünstigten Personen einerseits den Zugang zu den Ansprüchen nach den jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften eröffnen, andererseits allerdings auch den unberechtigten Bezug von Mehrfachleistungen verhindern (so auch Hess. Finanzgericht, Urteil vom 12. Juli 2007 2 K 2908/06, [...]).

Zwar ist der Tatbestand der § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG zu Gunsten des Klägers erfüllt. Die Berechtigung des im Inland wohnenden Klägers ist nicht deswegen ausgeschlossen, weil seine Kinder nicht auch im Inland leben, denn nach § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG reicht es aus, dass sie einen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union - hier in Polen - haben.

Die Zahlung von Kindergeld ist jedoch nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift wird Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt, für das Leistungen, die dem Kindergeld vergleichbar sind, im Ausland gewährt werden oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären. Im Streitfall bestand grundsätzlich ein Anspruch auf die dem deutschen Kindergeld entsprechenden Familienleistungen nach polnischem Recht. Darauf, wer hinsichtlich der ausländischen Leistungen Anspruchsinhaber ist - hier die Kindesmutter - kommt es für den Ausschluss nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht an (vgl. Felix in Kirchhof, EStG Kompaktkommentar, § 65, Rdnr. 4 m.w.N.). Dass die Kindesmutter auf die polnischen Leistungen verzichtet hat (Bl. 111 d. Beklagten-Akte) ist ebenfalls unbeachtlich, weil § 65 EStG insoweit nur auf das Recht auf Leistungsbezug abstellt, nicht jedoch auf den Leistungsbezug selbst.

2. Auch unter Berücksichtigung des europäischen Gemeinschaftsrechts, kann der Kläger jedenfalls nicht mehr als das hälftige Kindergeld beanspruchen und seine Klage bleibt deshalb ohne Erfolgsaussicht.

a) Als überlagerndes Gemeinschaftsrecht kommen hier die oben zitierten VO und DVO in Betracht. Das deutsche Kindergeld fällt in den sachlichen Geltungsbereich der VO. Es ist eine "Familienleistung" gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchst. h in Verbindung mit Art. 1 Buchst. u Ziff. i VO (BFH, Urteil vom 13. August 2002 VIII R 54/00, BFHE 200, 204, BStBl II 2002, 869 mit ausführlicher Begründung und weiteren Nachweisen).

b) Eine Anwendbarkeit dieser Vorschriften kommt jedoch deswegen nicht in Betracht, weil der Kläger nicht dem persönlichen Geltungsbereich der VO unterfällt.

(1) Der persönliche Geltungsbereich der VO umfasst gemäß Art. 2 Abs. 1 VO Arbeitnehmer, Selbständige, Studierende sowie deren Familienangehörige und Hinterbliebene. Im Hinblick auf die für den Kläger allein in Betracht kommende Gruppe der Arbeitnehmer ist für die Gewährung des - hier im Streit stehenden - deutschen Kindergeldes in Art. 1 Buchst a) Ziffer ii) VO i.V.m. Anhang I Nr. I. Buchst. E Buchst. a) VO bestimmt, dass als Arbeitnehmer nur gilt, wer für den Fall der Arbeitslosigkeit pflichtversichert ist oder im Anschluss an diese Versicherung Krankengeld oder entsprechende Leistungen erhält oder wer als Beamter aus dem Beamtenverhältnis eine Besoldung mindestens in dem Umfang erhält, der bei einem Arbeitnehmer zu einer Pflichtversicherung gegen Arbeitslosigkeit führen würde.

(2) Der Kläger ist Bezieher von ALG II und damit kein Arbeitnehmer in diesem Sinne. Er ist nicht gegen Arbeitslosigkeit pflichtversichert. Insbesondere ist das ALG II kein Entgeltersatzleistung - wie das in §§ 116 ff Sozialgesetzbuch III (SGB III) geregelte "Arbeitslosengeld" -, sondern eine Leistung der Grundsicherung für Arbeitssuchende, die nach § 19 ff Sozialgesetzbuch II (SGB II) erbracht und nicht aus der Arbeitslosenversicherung finanziert wird, sondern aus Steuern. Der Bezug von ALG II ist weder davon abhängig, ob vorher versicherungspflichtig gearbeitet wurde, noch von einem etwaigen vorherigen Arbeitseinkommen, sondern nur davon, was zum Leben mindestens gebraucht und nicht selbst aufgebracht werden kann (vgl. insoweit FG Hamburg, Beschluss vom 22. August 2006 3 AR 8/06, EFG 2006, 1854 m.w.N.). Es handelt sich um eine beitragsunabhängige Leistung im Sinne des Art. 4 Abs. 21 VO (LSG NRW, Beschluss vom 30. März 2007 L 19 B 102/06 AS, [...]).

Damit gilt der Kläger nicht als Arbeitnehmer und unterfällt nicht dem Regelungsbereich der VO.

Diesem Ergebnis steht nicht entgegen, dass Art. 74 VO eine Regelung im Hinblick auf Familienleistungen für Arbeitslose trifft und Arbeitslose deswegen nicht von der Anwendung der VO ausgeschlossen sein können. Denn soweit es um Arbeitslose geht, die nach deutschem Recht Arbeitslosengeld nach SGB III und damit Leistungen aus ihrer Arbeitslosenversicherung empfangen, sind sie von dem persönlichen Anwendungsbereich der VO ohne weiteres umfasst. Der genannten Vorschrift bleibt damit also trotz der speziellen Regelung des Arbeitnehmerbegriffs für deutsches Kindergeld in Anhang I Nr. I. Buchstabe E VO ein Anwendungsbereich erhalten.

(3) Dass eine Beschränkung der Gewährung von Kindergeld im Rahmen des Gemeinschaftsrechts auf Erwerbstätige, die der Solidargemeinschaft des deutschen Sozialversicherungssystems angehören, nicht zu beanstanden ist, hat der Bundesfinanzhof in seinerEntscheidung vom 13. August 2002 (VIII R 54/00, BFHE 200, 204, BStBl II 2002, 869) unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ausgeführt.

Im Ergebnis bleibt es somit beim Ausschluss des Kindergeldes nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, soweit der über die Hälfte hinausgehende weitere Betrag streitig ist.

3. Soweit dem Kläger gleichwohl Kindergeld in hälftiger Höhe gewährt wird, nämlich aufgrund einer analogen Anwendung von Art. 12 Abs. 2 VO i.V.m. Art. 7 DVO, bedarf es hierüber keiner Entscheidung (vgl. ablehnend bei tatsächlich ungekürzter Familienleistung in Polen: Hess. Finanzgericht, Urteile vom 23. Mai 2007 3 K 3143/06, EFG 2007, 127, und vom 12. Juli 2007 2 K 2908/06, [...]).

4. Eine Beschwerde gegen Beschlüsse im Prozesskostenhilfe-Verfahren ist gemäß § 128 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht gegeben.

Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.

Ende der Entscheidung

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