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Gericht: Finanzgericht Hessen
Urteil verkündet am 21.06.2006
Aktenzeichen: 1 K 2763/02
Rechtsgebiete: EStG, AO, FGO


Vorschriften:

AO § 130
AO § 37 Abs. 2
FGO § 102
EStG § 36 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Anrechnung von Vorauszahlungen bei den bestandskräftigen Veranlagungen des Klägers zur Einkommensteuer 1990 - 1992 fehlerhaft war und durch einen nachfolgenden Abrechnungsbescheid zu Ungunsten des Klägers geändert werden konnte.

Der Kläger war mit seiner früheren Ehefrau bis zum Veranlagungszeitraum 1988 einschließlich (zunächst) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt worden. Am 01.04.1991 haben sich die Eheleute getrennt. Die Ehe ist in 1994 geschieden worden.

Gegen die Eheleute, die vor und in den Streitjahren beide einkommensteuerpflichtige Einkünfte - z.T. aus gemeinsamen gewerblichen Unterbeteiligungen und aus gemeinschaftlichem Grundbesitz - erzielt haben, waren als Gesamtschuldner für die Streitjahre durch Bescheid vom 07.09.1989 bzw. Einkommensteuerbescheid 1988 vom 16.08.1991 quartalsmäßig zu entrichtende Vorauszahlungen festgesetzt worden, die auch entsprechend den im Rahmen der automatisierten Verfahrensabläufe (aufgrund unveränderten Datenbestands im Speicherkonto bis in das Jahr 1997) an die Eheleute gerichteten periodischen Zahlungshinweisen durch Verrechnungsscheck bzw. in einem Fall an den Vollziehungsbeamten in folgender Höhe gezahlt worden sind:

 199019911992
DMDM DM
Einkommensteuer122.94097.55697.556
Solidaritätszuschlag 2.706,443.658,34

Aufgrund nachträglichen Antrags des Klägers im Einspruchsverfahren vom November 1998 hat der Beklagte für die Jahre 1986-1988 mit geänderten Einkommensteuerbescheiden getrennte Veranlagungen durchgeführt und dabei bei der Steuerabrechnung die für diese Jahre geleisteten Einkommensteuervorauszahlungen beim Kläger jeweils nur noch zur Hälfte berücksichtigt, wobei er vorab mit Schreiben an die Bevollmächtigten des Klägers vom 28.06.1999 auf die Notwendigkeit einer entsprechenden Aufteilung gemäß der Vorschrift des § 37 Abs. 2 Abgabenordnung (AO) hingewiesen hatte.

Für die nachfolgenden Jahre hat der Kläger mit seinen am 01.02.1994 (1989 und 1990) bzw. 14.07.1997 (1991 und 1992) eingegangenen Einkommensteuererklärungen jeweils getrennte Veranlagungen (1989-1991) bzw. die Durchführung einer Einzelveranlagung (1992) beantragt. Dabei enthielt erstmals die Einkommensteuererklärung für den Veranlagungszeitraum 1991 einen Hinweis darauf, dass die Eheleute seit dem 01.04.1991 getrennt gelebt hatten. Der Beklagte hat mit - in der Folgezeit noch mehrfach geänderten - Einkommensteuerbescheiden vom 28.10.1998 (1989-1991) bzw. 03.11.1998 (1992) die Veranlagungen durchgeführt. Dabei hat er im Rahmen der Abrechnung (jeweils) die gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 1 Einkommensteuergesetz in der für die Streitjahre maßgeblichen Fassung (EStG) auf die Einkommensteuer anzurechnenden Einkommensteuervorauszahlungen (§ 37 EStG) beim Kläger in voller Höhe berücksichtigt.

Die Einkommensteuerveranlagungen der früheren Ehefrau des Klägers für die Jahre 1990-1992 sind (gleichfalls) im Oktober/November 1998 durchgeführt worden. In den jeweiligen Anrechnungsverfügungen waren dabei die geleisteten Einkommensteuervorauszahlungen zunächst unberücksichtigt geblieben. Nachdem die frühere Ehefrau dem erstmals Ende des Jahres 2000 und danach mehrfach widersprochen und die Anrechnung zumindest der hälftigen Einkommensteuervorauszahlungen auf die gegen sie festgesetzte Einkommensteuer 1990-1992 beantragt hatte, ist es im November 2001 zu einer Besprechung an Amtsstelle mit dem Kläger und dessen steuerlichen Beratern gekommen. Diese haben dabei die Auffassung vertreten, dass die Vorauszahlungen - wie geschehen - ausschließlich dem Kläger zuzurechnen seien, weil sie aus dessen Vermögen und für seine voraussichtlichen Steuernachzahlungen entrichtet worden seien. Zudem seien auch die formellen Voraussetzungen für eine nachträglich abweichende Aufteilung nicht gegeben, da die Tatbestandvoraussetzungen des anzuwendenden § 130 AO nicht vorliegen würden.

Ungeachtet dieser Einwände hat der Beklagte mit Verfügung ohne Rechtsbehelfsbelehrung vom 15.11.2001 eine von der bisherigen Abrechnung abweichende nur hälftige Anrechnung der Einkommensteuervorauszahlungen (1991 und 1992 auch bzgl. des Solidaritätszuschlags) vorgenommen. Er hat sich dabei auf ein Schreiben der Rechtsberater des Klägers, der Rechtsanwälte L und Partner, vom 05.02.1997 berufen. Danach sind die Einkommensteuervorauszahlungen in den Jahren 1992-1995 vom Mietkonto der Grundstücksgemeinschaft der Ehegatten gezahlt und zu jeweils 50 % dem Kapitalkonto des Klägers und dem der Ehefrau als Entnahme belastet worden, da beide in der Vergangenheit zusammen veranlagt worden seien. Die Einkommensteuervorauszahlungen müssten daher ab dem ersten Jahr der getrennten Veranlagung dem Kläger und der Ehefrau zu je 50 % zugerechnet werden. Für die nachfolgenden Jahre 1993 und 1994 habe der Kläger einen Betrag von 106.244 DM auf das Mietkonto überwiesen und anschließend vom Mietkonto die Einkommensteuervorauszahlungen geleistet.

Mangels fristgemäßer Tilgung der Beträge laut Leistungsgebot entsprechend der geänderten Abrechnung hat der Beklagte am 14.02.2002 gegen den Kläger eine Vollstreckungsankündigung erlassen, gegen die der Kläger mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 19.02.2002 Einwendungen erhoben und die Erteilung eines rechtsbehelfsfähigen Bescheids beantragt hat. Daraufhin hat der Beklagte am 11.03.2002 einen Abrechnungsbescheid gemäß § 218 Abs. 2 AO für die Jahre 1989-1992 erlassen, mit dem die geleisteten Einkommensteuervorauszahlungen beim Kläger nur noch zur Hälfte angerechnet worden sind. Wegen der Einzelheiten wird auf den Abrechnungsbescheid vom 11.03.2002 verwiesen.

Den hiergegen gerichteten Einspruch hat der Beklagte mit der die Anrechnung von Vorauszahlungen 1990-1992 betreffenden Einspruchsentscheidung vom 19.07.2002 als unbegründet zurückgewiesen. Bei Ehegatten sei davon auszugehen, dass der auf eine gemeinsame Steuerschuld zahlende Ehegatte nicht nur sich selbst, sondern auch den anderen Ehegatten von der Steuerschuld befreien wolle. Da im Streitfall Anhaltspunkte für eine andere Tilgungsabsicht fehlten, seien die Zahlungen des Klägers auf die Vorauszahlungsschuld für die Rechnung beider Eheleute vorgenommen worden mit der Folge, dass die geleisteten Zahlungen entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) nach Köpfen auf die Ehegatten zu verteilen seien. Einer Änderungsvorschrift bedürfe es für die Abweichung von der bisher vorgenommenen Anrechnung nicht, denn § 218 Abs. 2 AO enthalte eine gegenüber den §§ 130, 131 AO vorgreifliche Sonderregelung. Bei Erlass des Abrechnungsbescheides habe deshalb für das Finanzamt keine Bindung an die zuvor ergangenen Anrechnungsverfügungen bestanden.

Hiergegen richtet sich die fristgerecht erhobene Klage. Mit ihr macht der Kläger in materieller Hinsicht geltend, die geleisteten Vorauszahlungen seien bei ihm in voller Höhe anzurechnen. Zwar sei wohl zum Zeitpunkt der Erhebung der Vorauszahlungen von einer Gesamtschuldnerschaft auszugehen. Diese sei allerdings durch die für die Jahre 1990 und 1991 erfolgten getrennten Veranlagungen aufgehoben. Nach dem BFH-Urteil vom 09.12.1969 VII R 83/67, Bundessteuerblatt (BStBl) II 1970, 351, seien im Fall einer solchen nachträglichen getrennten Veranlagung die Vorauszahlungen demjenigen Ehegatten gut zu bringen, der die Zahlungen geleistet habe. Für das Kalenderjahr 1992 habe aufgrund der vorgenommenen Einzelveranlagung keine Gesamtschuldnerschaft bestanden; eine solche sei wegen der Trennung der damaligen Ehegatten zum 01.04.1991 auch von vornherein ausgeschlossen gewesen. Soweit er - der Kläger - für 1992 noch die vom Beklagten für "Herrn und Frau .... und......" vorgedruckten und übersandten Überweisungsformulare verwandt habe, habe er keine Vorauszahlungen auf die Steuerschuld der Ehefrau, sondern eine Vorauszahlung auf die eigene Steuerschuld und aus eigenem Vermögen bewirkt. Insoweit vermittele das Schreiben des Anwaltsbüros L und Partner vom 05.02.1997 ein falsches Bild.

In formeller Hinsicht macht der Kläger geltend, die Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen sei sowohl nach der Rechtsprechung des 7. Senats des BFH (Urteile vom 15.04.1997 VII R 100/96,BStBl II 1997, 787, und vom 18.07.2000 VII R 32, 33/99, BStBl II 2001, 133) als auch nach der Verwaltungsauffassung (H 36 - Anrechnung - Nr. 1 Amtliches Einkommensteuer-Handbuch - EStHdb - 2005) ein Verwaltungsakt mit Bindungswirkung, welche auch bei Erlass eines Abrechnungsbescheides zu beachten sei. Deshalb hätten im Rahmen der Verfügung vom 15.11.2001 und des Abrechnungsbescheides vom 11.03.2002 die ursprünglichen Steueranrechnungen nur dann geändert werden dürfen, wenn eine Änderungsvorschrift eingreifen würde. Das sei indes nicht der Fall. Insbesondere komme § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO nicht zum Zuge, weil er, der Kläger, als "normaler Steuerbürger" eine etwaige Fehlerhaftigkeit der mit den Steuerbescheiden vorgenommenen Abrechnungen nicht habe erkennen können und müssen. Die Zuziehung eines Rechtsberaters nach Eingang der subjektiv als richtig empfundenen Bescheide habe sich für ihn nicht aufgedrängt. Im Übrigen müsse er sich die Steuerrechtskenntnisse seiner steuerlichen Berater zur Aufteilungsproblematik des § 37 AO bei Ehegatten nicht zurechnen lassen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des klägerischen Vortrags wird auf die Klagebegründung vom 06.09.2002 sowie die Schriftsätze der Bevollmächtigten vom 13.01.2003, 30.11.2005, vom 06.01.2006 und vom 12.06.2006 Bezug

genommen.

Der Kläger beantragt,

den Abrechnungsbescheid des Beklagten vom 11.03.2002 in Form der Einspruchsentscheidung vom 19.07.2002 aufzuheben,

hilfsweise für den Fall der Klageabweisung,

die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er ist nach wie vor der Auffassung, der angegriffene Bescheid sei weder inhaltlich unzutreffend noch bestünden formell-rechtliche Bedenken gegen die nachträgliche Änderung der Anrechnung:

Für die Steueranrechnung komme es nicht darauf an, in welcher Art und Weise die Einkommensteuerveranlagungen der Streitjahre lange nach Ablauf der Veranlagungszeiträume durchgeführt wurden. Entscheidend sei allein, dass die Vorauszahlungen seinerzeit für die damals zusammen zur Einkommensteuer zu veranlagenden Ehegatten festgesetzt worden seien. Im Rahmen einer bestehenden und intakten Ehe - im Streitfall also bis mindestens April 1991 - sei in Ermanglung eines für das Finanzamt erkennbar hervorgetretenen entgegenstehenden Willens davon auszugehen, dass Zahlungen des einen Ehegatten auf die gemeinsame Vorauszahlungsschuld für Rechnung beider Ehegatten als Gesamtschuldner bewirkt worden seien und deshalb eine Aufteilung der Vorauszahlungen nach Köpfen vorzunehmen sei. Dies gelte im Streitfall auch für die Zeit nach Trennung der Eheleute. Insoweit verweist der Beklagte über die Begründung in der Einspruchsentscheidung hinaus darauf, dass der Kläger noch mit Scheckzahlung vom 09.03.1993 der an die Eheleute gerichteten Zahlungsaufforderung betreffend Einkommensteuer und Kirchensteuer für das erste Vierteljahr 1993 nachgekommen sei. Als Absender seien auf dem Scheckvordruck beide Eheleute (... und... ...) aufgeführt. Wenn der Kläger aber noch im März 1993, also lange Zeit nach der vollzogenen Trennung, Zahlungen auf die gemeinsame Steuerschuld der Eheleute getätigt habe, könne für die vorhergehenden Zahlungen keine andere Tilgungsabsicht angenommen werden.

In formeller Hinsicht macht der Beklagte zuletzt geltend, dass es sich bei der sog. Anrechnungsverfügung zwar um einen Verwaltungsakt i.S.v. § 118 AO handele. Jedoch habe der BFH mit Beschluss vom 13.01.2005 VII B 147/04, BStBl II 2005, 457, bestätigt, dass nicht alles, was das Finanzamt in den Abrechnungsteil eines Einkommensteuerbescheids aufnehme, in Bestandskraft mit der Folge einer späteren Änderungsmöglichkeit nur unter den Voraussetzungen des § 130 AO erwachse. Danach beruhe die Anrechnung der in § 36 Abs. 2 EStG genannten Steuerzahlungen auf dem Gesetz und erwachse in Bestandskraft. Die Entscheidung darüber, inwiefern Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis durch bestimmte Zahlungen oder Verbuchungen bereits getilgt sind, beruhe dagegen nicht auf gesetzlicher Grundlage und könne damit auch nicht in Bestandskraft erwachsen, sondern sei jederzeit ohne Vorliegen einer gesonderten abgabenrechtlichen Änderungsvorschrift durch einen Abrechnungsbescheid nach § 218 Abs. 2 AO korrigierbar. Dies gelte insbesondere für die Verbuchung von Vorauszahlungen. § 36 Abs. 2 Nr. 1 EStG regele insoweit gesetzlich nur, in welcher Höhe die Vorauszahlungen anzurechnen seien, nämlich in der Höhe, in der sie entrichtet worden sind. Hinsichtlich der auch vorliegend allein streitigen Frage, für wen die Vorauszahlungen entrichtet worden und wem sie deshalb zuzurechnen sind, erwachse die Zuordnungsentscheidung des Finanzamts gerade nicht in Bestandskraft und könne deshalb jederzeit durch Abrechnungsbescheid richtig gestellt werden.

Ergänzend hat der Beklagte im Laufe des Verfahrens geltend gemacht, die fehlerhafte Anrechnungsverfügung sei ohnehin auch nach § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO zu ändern gewesen. Denn der Kläger müsse sich die Erkenntnismöglichkeiten seiner steuerlichen Berater über die Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Anrechnungsbescheide auf der Grundlage der vom BFH seit dem Urteil vom 25.07.1989 VII R 118/87, BStBl II 1990, 41, ständig vertretenen Rechtsauffassung zurechnen lassen. Bei Überprüfung der erstmaligen Anrechnungsverfügungen hätte sich dem die Tatsachen kennenden Kläger und dessen steuerlich versierten Beratern aufdrängen müssen, dass eine alleinige Zuordnung der geleisteten Einkommensteuervorauszahlungen beim Kläger rechtsfehlerhaft war.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze des Beklagten vom 05.11.2002, vom 08.12.2005, vom 02.02.2006 und vom 31.05.2006 verwiesen.

Dem Gericht haben von den für den Kläger und seine damalige Ehefrau beim Beklagten zur Steuernummer...geführten Akten fünf Bände Einkommensteuerakten sowie ein Band "Anrechnung Einkommensteuervorauszahlungen 1989-1992" vorgelegen und waren Gegenstand des Verfahrens.

Gründe

Die Klage ist begründet. Denn zwar ist der Auffassung des Beklagten beizutreten, dass die Vorauszahlungen bei dem Kläger nur zur Hälfte anzurechnen gewesen wären. Jedoch hat es der Beklagte verabsäumt, hinsichtlich der (teilweisen) Rücknahme der bestandskräftigen Anrechnungen in voller Höhe eine nach § 130 Abs. 1 und 2 AO erforderliche Ermessensentscheidung zu treffen, so dass der angefochtene Abrechnungsbescheid wegen Ermessensunterschreitung aufzuheben ist.

1. Der Beklagte geht zutreffend davon aus, dass die Vorauszahlungen zur Einkommensteuer bei dem Kläger nur zur Hälfte hätten angerechnet werden dürfen. Denn nach § 37 Abs. 2 AO ist erstattungsberechtigt derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist. Hierfür ist entgegen der Auffassung des Klägers nicht entscheidend, wer die Zahlungen geleistet hat. Das von dem Kläger angeführte Urteil des BFH in BStBl II 1970, 351, ist durch die neuere Rechtsprechung überholt (vgl. das Urteil des BFH in BStBl II 1990, 41, 43). Entscheidend kommt es vielmehr darauf an, wessen Steuerschuld nach dem Willen des Zahlenden, wie er im Zeitpunkt der Zahlung dem Finanzamt gegenüber erkennbar hervorgetreten ist, getilgt werden sollte. Nach dem Urteil des BFH in BStBl II 1990, 41 (seither ständige Rechtsprechung) ist zwar im Fall der Gesamtschuldnerschaft im Zweifel davon auszugehen, dass jeder Gesamtschuldner nur seine eigene Schuld tilgen will, sofern nicht ein anderer Wille - Zahlung für Rechnung aller Gesamtschuldner - erkennbar hervorgetreten ist. Bei zusammen veranlagten Ehegatten entspricht es jedoch natürlicher Betrachtungsweise und der regelmäßigen Absicht der Ehegatten, dass derjenige, der die Zahlung auf die gemeinsame Steuerschuld bewirkt, auch den anderen Ehegatten von seiner Steuerschuld befreien will, solange die Ehe besteht und intakt ist. Die letztgenannte Einschränkung - bestehende Ehe und nicht dauerndes Getrenntleben, d.h. bestehende Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft - ist in nachfolgenden Entscheidungen des BFH wiederholt aufgegriffen worden (z.B. Urteil vom 15.11.2005 VII R 16/05, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH - BFH/NV - 2006, 648, Beschluss vom 26.01.2006 VII B 312/05, BFH/NV 2006, 907).

Im Streitfall haben zwar der Kläger und seine frühere Ehefrau bereits seit dem 01.04.1991 getrennt gelebt. Gleichwohl rechtfertigt dies für die Zeit danach keine abweichende Beurteilung. Denn zum einen kommt es für die Bestimmung des Erstattungs- bzw. Anrechnungsberechtigten nach § 37 Abs. 2 AO auf die dem Finanzamt im Zeitpunkt der Zahlung erkennbaren Umstände an, und zwar auch, was eine etwaige Zerrüttung der Ehe oder ein Getrenntleben der Ehegatten anbelangt (Urteil des BFH vom 04.04.1995 VII R 82/94, BStBl II 1995, 492, vgl. S. 495 mit 496, jeweils li. Sp., Beschluss des BFH vom 04.11.2003 VII B 382/02, BFH/NV 2004, 314). Jedenfalls nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag des Beklagten hat dieser aber erst aus der in 1997 eingereichten Steuererklärung des Klägers für 1991 Kenntnis von der Trennung der Eheleute erhalten. Zum anderen kann auch bei einer nicht intakten Ehe nicht generell davon ausgegangen werden, dass der Zahlende nur auf eigene Rechnung leisten will (BFH-Urteil in BStBl II 1995, 492, 496). Auch in dem dem BFH-Beschluss vom 11.01.2005 VII B 136/04, BFH/NV 2005, 833, zugrunde liegenden Fall hatten sich die Eheleute während des Streitzeitraums getrennt. Gleichwohl hat der BFH auch hier erkannt, dass wer Zahlungen auf eine - wie im Streitfall - gegen ihn und seinen Ehepartner als Gesamtschuldner festgesetzte Einkommensteuervorauszahlungsschuld geleistet hat, deren Erstattung nur dann in voller Höhe verlangen kann, wenn im Zeitpunkt des Zahlungseingangs für das Finanzamt sein Wille erkennbar war, mit den Vorauszahlungen nur seine eigene Schuld zu tilgen.

Im Streitfall war ein Wille des Klägers zur Tilgung nur seiner eigenen Schuld selbst dann auch für den Zeitraum ab April 1991 nicht erkennbar, wenn der Beklagte noch zeitnah Kenntnis von dem Getrenntleben der Eheleute erlangt haben sollte. Nach dem Schreiben der von dem Kläger mandatierten Rechtsanwälte L und Partner vom 05.02.1997 an die Bevollmächtigten der früheren Ehefrau ist davon auszugehen, dass ein dahingehender Wille des Klägers zumindest bis 1995 überhaupt nicht bestanden hat, da ansonsten die Zahlung der Vorauszahlungen (zumindest) ab 1992 von dem Mietkonto der Grundstücksgemeinschaft bei je hälftiger Belastung der Kapitalkonten keinen Sinn ergeben würde. Ein solcher Wille wäre aber jedenfalls auch nicht nach außen erkennbar hervorgetreten, da die Zahlungen entsprechend den noch an die Eheleute gerichteten Zahlungshinweisen unter der bisherigen Steuernummer und unter Angabe beider Eheleute erfolgt sind. Dies ist durch Vorlage der Scheckkopie vom 09.03.1993 betreffend die Vorauszahlung I/1993 belegt. Für die zurückliegenden Jahre liegen offenbar wegen abgelaufener Aufbewahrungsfristen keine Unterlagen mehr vor. Es muss jedoch mit dem Beklagten davon ausgegangen werden und wird auch von dem Kläger nicht in Abrede gestellt, dass frühere Zahlungen in gleicher Weise erfolgt sind.

Hiernach ergibt sich, dass die Vorauszahlungen gemäß § 37 Abs. 2 AO bei dem Kläger und seiner vormaligen Ehefrau nach Köpfen, d.h. je zur Hälfte anzurechnen gewesen wären.

2. In verfahrensrechtlicher Hinsicht bedurfte die Teilrücknahme der bestandskräftigen Anrechnungsverfügungen wegen deren Bindungswirkung einer entsprechenden Änderungsnorm. Insoweit haben die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO, wie der Beklagte zuletzt zutreffend geltend gemacht hat, vorgelegen:

a) In der Rechtsprechung besteht Einigkeit darüber, dass es sich bei der - aus Zweckmäßigkeitsgründen i.d.R. wie auch im Streitfall mit der Steuerfestsetzung in einem Bescheid verbundenen - Verfügung über die Anrechnung von entrichteten Vorauszahlungen oder einbehaltenen Steuerabzugsbeträgen auf die im Wege der Veranlagung festgesetzte Jahressteuerschuld (§ 36 Abs. 2 und 4 EStG) um einen dem Steuererhebungsverfahren zugehörigen deklaratorischen (bestätigenden) Verwaltungsakt handelt, dessen Außenwirkung (§ 118 AO) sich je nach dem Ergebnis der Anrechnung in einem Leistungsgebot oder in einer Erstattungsverfügung äußert. Weiterhin besteht auch noch Einigkeit darüber, dass bei Streitigkeiten über die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis das Abrechnungsverfahren gemäß § 218 Abs. 2 AO als das speziellere und umfassendere Verfahren vorrangig ist gegenüber einer Anfechtung der Anrechnungsverfügung (z.B. Urteil des BFH in BStBl 1997, 787).

Streitig ist indes, ob eine bestandskräftige Anrechnungsverfügung Bindungswirkung in dem Sinne erzeugt, dass hiervon - auch im Rahmen eines Abrechnungsverfahrens - nur unter den Voraussetzungen der §§ 129-131 AO abgewichen werden kann:

Nach Auffassung des I. Senats des BFH besteht in einem späteren Verfahren nach § 218 Abs. 2 AO keine Bindung an eine zuvor erlassene Anrechnungsverfügung. § 218 Abs. 2 AO enthalte eine gegenüber den §§ 129 ff. AO vorgreifliche Sonderregelung. Es sei gerade der Sinn und Zweck der in § 218 Abs. 2 AO getroffenen Regelung, dass das Finanzamt über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Anspruchs ohne Bindung an frühere Anrechnungsverfügungen entscheiden könne und müsse. Der Abrechnungsbescheid gehe einer früheren Anrechnungsverfügung vor, ohne diese förmlich aufzuheben (Urteile vom 28.04.1993 I R 100/92, BStBl II 1993, 836, und I R 123/91, BStBl II 1994, 147; inzwischen offen gelassen im Urteil vom 27.06.2001 I R 65/00, BFH/NV 2001, 1528).

Der (für AO-Fragen zuständige) VII. Senat vertritt demgegenüber die Auffassung, dass aus der rechtlichen Einordnung der Anrechnungsverfügung als deklaratorischer Verwaltungsakt nach dem eindeutigen Wortlaut des § 130 Abs. 2 AO (Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder "bestätigt") folge, dass die Anrechnungsverfügung, wenn sie einen Fehler zugunsten des Steuerpflichtigen enthalte (begünstigender Verwaltungsakt), nur zurückgenommen oder geändert werden könne, wenn die Voraussetzungen einer Änderungsvorschrift vorlägen, wobei der Bestandsschutz und die Bindungswirkung einer vorangegangenen Anrechnungsverfügung auch im Rahmen eines Abrechnungsverfahrens nach § 218 Abs. 2 zu beachten seien. Selbst wenn der Abrechnungsbescheid die Anrechnungsverfügung nicht formell aufhebe, trete er doch faktisch an deren Stelle und regele denselben Sachverhalt. Dann müsse er bei der Feststellung der noch zu zahlenden Restschuld auch die Wirkung und den Vertrauenstatbestand beim Steuerpflichtigen berücksichtigen, die sich durch das Bestehen der Anrechnungsverfügung ergeben hätten (Urteile vom 16.10.1986 VII R 159/83, BStBl II 1987, 405, sowie in BStBl II 1997, 787, Beschluss vom 21.05.2001 VII B 217/00, Juris). Von einer Anrufung des Großen Senats hat der VII. Senat mit der zutreffenden Begründung abgesehen, dass es sich in den Entscheidungen des I. Senats jeweils nur um beiläufige Äußerungen einer Rechtsansicht - obiter dicta - gehandelt habe (vgl. das Urteil in BStBl II 1997, 787).

Die Auffassung des VII. Senats ist in Rechtsprechung und Literatur inzwischen absolut vorherrschend und entspricht auch der Auffassung der Verwaltung (vgl. Urteile des Finanzgerichts - FG - Köln vom 16.03.2000 6 K 2223/96, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 2000, 714, des FG Hamburg vom 08.10.2001 III 164/01, EFG 2002, 341, des FG München vom 17.12.2001 13 K 1533/01, Juris, des FG Berlin vom 14.02.2002 1 K 1076/99, EFG 2002, 876, des FG Berlin vom 27.05.2002 8 K 8592/99, Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst 2002, 1205, des FG Nürnberg vom 03.07.2003 VII 368/2001, Juris, des FG Thüringen vom 01.09.2004 III 982/00, EFG 2005, 206, und des Hessischen FG vom 10.11.2004 11 K 1855/02, Juris; aus der Literatur z.B. Völlmeke, Der Betrieb 1994, 1746, 1751, Brenner in Kirchhof/Söhn, EStG, § 36 Rdnr. A 238, Seibel in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz, § 36 EStG Anm. 7, Loose in Tipke/Kruse, AO/Finanzgerichtsordnung - FGO -, vor § 172 AO Tz. 28; zur Verwaltungsauffassung vgl. neben H 36 EStHdb 2005 auch den Anwendungserlass zur AO zu § 218, Nr. 3). Auch der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an, weil sie - wie der VII. Senat des BFH überzeugend dargelegt hat - allein mit dem Wortlaut des § 130 Abs. 2 AO vereinbar ist und anderenfalls der Anrechnungsverfügung als bestandskräftigem Verwaltungsakt unter Missachtung des durch diesen geschaffenen Vertrauenstatbestands jegliche Bedeutung genommen würde.

Soweit der Beklagte zuletzt den in einem Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren ergangenen Beschluss des BFH in BStBl II 2005, 457, dahingehend interpretiert hat, dass eine Bindungswirkung der Anrechnung von Einkommensteuervorauszahlungen nur hinsichtlich der Höhe der anzurechnenden Vorauszahlungen, nicht aber hinsichtlich der "Zuordnungsentscheidung" und damit wohl der Frage, bei wem die Vorauszahlungen anzurechnen sind, bestehe, vermag der Senat diese feinsinnige Differenzierung der genannten Entscheidung nicht zu entnehmen. Vielmehr differenziert der BFH in dieser Entscheidung ersichtlich ausschließlich zwischen einerseits der auf dem Gesetz (§ 36 Abs.2 EStG) beruhenden Anrechnung von Steuerzahlungen auf die Einkommensteuer, die bei Bestandskraft Bindungswirkung auch für einen später ergehenden Abrechnungsbescheid entfaltet, und andererseits allen sonstigen Zahlungen und Verbuchungen bzw. der Entscheidung darüber, inwiefern durch diese (sonstigen) Buchungen Ansprüche bereits getilgt bzw. Erstattungsansprüche entstanden sind, die keine Bindungswirkung entfaltet. Eine Entscheidung über die Anrechnung von Vorauszahlungen nach § 36 Abs. 2 Nr. 1 EStG in einem Steuerbescheid muss aber immer zwangsläufig als Vorfrage die Entscheidung mit einschließen, ob und in welchem Umfang geleistete Vorauszahlungen dem Steuerpflichtigen zuzurechnen, d.h. z.B. i.S.v. § 37 Abs. 2 AO auf seine Rechnung bewirkt worden sind. Anders ist eine Entscheidung über die Anrechnung von Vorauszahlungen (ebenso von Lohnsteuer, Kapitalertragsteuer und Körperschaftsteuer) nach § 36 Abs. 2 EStG überhaupt nicht denkbar.

b) Eine Änderung der bestandskräftigen Anrechnungsverfügung nach § 129 AO wegen offenbarer Unrichtigkeit kommt im Streitfall nicht in Betracht, da die Rechtslage hinsichtlich der Anrechnung der Vorauszahlungen nicht eindeutig und eine fehlerhafte rechtliche Würdigung bei den Veranlagungen / Anrechnungen nicht auszuschließen ist, jedenfalls aber eine einem Schreib- oder Rechenfehler vergleichbare offenbare Unrichtigkeit i.S. der Vorschrift nicht vorliegt.

c) In Betracht kommt nur die Vorschrift des § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO, wonach ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zurückgenommen werden kann, wenn seine Rechtswidrigkeit dem Begünstigten bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht bekannt war. Mit dem Beklagten ist auch von dem Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der Vorschrift auszugehen.

Für die Kenntnis bzw. das Kennenmüssen kommt es nach zutreffender Auffassung auf die Umstände im Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Verwaltungsakts (der Anrechnungsverfügung) an (Urteil des FG Köln in EFG 2000, 714, Frotscher in Schwarz, AO, § 130 Rdnr. 28). Es kommt entgegen der Auffassung des Klägers auch auf die Kenntnis bzw. Erkenntnismöglichkeiten eines Bevollmächtigten an, wenn der Bescheid diesem bekannt gegeben worden ist oder er verpflichtet war, den Verwaltungsakt auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen; dann sind dessen Rechtskenntnisse oder das rechtliche Kennenmüssen dem Begünstigten zuzurechnen (Urteil des BFH in BStBl II 1997,787, 791 a.E., Beschluss des BFH vom 10.03.2005 VII B 214/04, BFH/NV 2005, 1222, Urteile des FG Köln in EFG 2000, 714, des FG Hamburg in EFG 2002, 341, und des FG München vom 17.12.2001 13 K 1533/01, Juris, Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., § 130 AO Tz. 32 m.N.).

Vorliegend ist von Kenntnis bzw. Kennenmüssen bereits des Klägers selbst angesichts des Schreibens seiner Berater, der Rechtsanwälte L und Partner, vom 05.02.1997 an die Berater der Ehefrau auszugehen, in dem die hälftige Aufteilung der Vorauszahlungen als gerechtfertigt dargestellt worden war. Es kann nicht angenommen werden, dass der Kläger in die diesbezüglichen Erörterungen nicht eingebunden gewesen ist und die gewechselten Schriftsätze nicht gekannt hat. Im Übrigen hat er sich die Kenntnisse seiner Bevollmächtigten im vorliegenden Verfahren zurechnen zu lassen, die nicht nur bei der Anfertigung der Einkommensteuererklärungen 1991 und 1992 mitgewirkt hatten, sondern denen der Kläger offenkundig auch die (erstmaligen) Einkommensteuerbescheide 1990 - 1992 zur Überprüfung vorgelegt hatte, wie deren Antrag auf Änderung der Abrechnung zum Einkommensteuerbescheid 1990 (betreffend Anrechnung von Körperschaftsteuer) mit Schreiben vom 16.11.1998 und die Einsprüche gegen die Einkommensteuerbescheide 1991 und 1992 durch die Schreiben vom 17.11.1998 belegen.

d) Die Entscheidung der Finanzbehörde, von der ihr durch § 130 Abs. 1 mit Abs. 2 AO eingeräumten Möglichkeit, einen rechtswidrigen (begünstigenden) Verwaltungsakt zurückzunehmen, stellt jedoch eine Ermessensentscheidung dar, wie sich aus der Formulierung "kann" in Abs. 1 der Vorschrift, auf den sich Abs. 2 - einschränkend - bezieht, ergibt (vgl. z.B. Urteil des BFH vom 03.08.1983 II R 144/80, BStBl II 1984, 321, Urteile des FG Düsseldorf vom 03.05.2000 5 K 5963/92 U, Juris, und des FG Köln vom 27.06.2003 14 K 6586/99, EFG 2005, 456, Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., § 130 AO Tz. 37 ff., Balmes in Kühn/von Wedelstädt, AO/FGO, 18. Aufl., § 130 AO Rz. 3). Eine Ermessensentscheidung der Verwaltung unterliegt gemäß § 102 FGO nur in eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch die Gerichte. Demzufolge ist auch im Fall der gerichtlichen Anfechtung die Rechtmäßigkeit der Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts nur auf Ermessensüberschreitung, Ermessensunterschreitung oder (sonstigen) Ermessensfehlgebrauch zu überprüfen. Dabei ist das Gericht im Fall der Aufdeckung von Ermessensfehlern auf die Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung beschränkt. Es darf grundsätzlich nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörde setzen. Nur in den Fällen der sog. Ermessenseinengung oder Ermessensreduzierung auf Null, in denen den Gesamtumständen nach nur eine bestimmte Entscheidung als ermessensfehlerfrei in Betracht kommt, ist das Gericht befugt, seine Entscheidung an die Stelle der Ermessensentscheidung der Verwaltungsbehörde zu setzen (vgl. z.B. das BFH-Urteil in BStBl II 1984, 321, Urteil des BFH vom 10.10.2001 XI R 52/00, BStBl II 2002, 201, Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., § 102 FGO Tz. 9 f.).

Da sich der Beklagte im Streitfall - trotz bereits seinerzeit entgegenstehender Verwaltungsanweisungen - stets auf die Rechtsprechung des I. Senats des BFH gestützt und eine unbeschränkte Änderungsmöglichkeit im Rahmen des § 218 Abs. 2 AO angenommen hat, hat er - insoweit folgerichtig - weder das Bewusstsein noch den Willen gehabt, eine Ermessensentscheidung zu treffen. Folglich fehlen im Abrechnungsbescheid wie auch in der Einspruchsentscheidung jegliche Ermessenserwägungen. In diesem Fall der irrtümlichen Annahme einer gebundenen Entscheidung liegt eine Ermessensunterschreitung vor, die aufgrund der nur eingeschränkten Prüfungskompetenz des Gerichts die Aufhebung des angefochtenen Abrechnungsbescheids zur Folge hat (z.B. Pahlke in Pahlke/Koenig, AO, § 130 Rz. 49). Auch von einem Fall der sogen. Ermessenseinengung oder Ermessensreduzierung auf Null kann vorliegend angesichts des Umstandes, dass dem Beklagten der maßgebliche Sachverhalt bei Gewährung der begünstigenden Anrechnungen der Einkommensteuervorauszahlungen in voller Höhe beim Kläger im Rahmen der Einkommensteuerbescheide 1990 - 1992 vom 28.10. bzw. 03.11.1998 vollends bekannt war und dem Beklagten lediglich ein nicht vom Kläger veranlasster Rechtsfehler unterlaufen ist, nicht ausgegangen werden. Es kann deshalb dahinstehen, ob das Gericht selbst bei bewusster Nichtausübung von Ermessen durch die Verwaltungsbehörde wie im Streitfall überhaupt befugt wäre, in Ausübung eigenen Ermessens eine Ermessenseinengung feststellen und dies zur Grundlage seiner Entscheidung zu machen.

e) Es bestehen zudem Bedenken, ob die Jahresfrist des § 130 Abs. 3 Satz 1 AO gewahrt worden ist. Danach ist die Rücknahme nur innerhalb eines Jahres ab dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme der Finanzbehörde von Tatsachen, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts rechtfertigen, zulässig. Vorliegend ist die Notwendigkeit einer hälftigen Aufteilung der Vorauszahlungen für die Jahre 1986 - 1988 bereits in 1999 erkannt worden, wie das Schreiben des Beklagten an die Bevollmächtigten des Klägers vom 28.06.1999 ausweist, während die Rücknahmeverfügung erst vom 15.11.2001 datiert. Im Zusammenhang mit der Diskussion für diese Jahre hätte wohl auch die nach Auffassung des Beklagten fehlerhafte Zuordnung der Vorauszahlungen für die Folgejahre erkannt werden können und erkannt werden müssen. Die vorherrschende Auffassung stellt jedoch für den Beginn des Laufs der Jahresfrist auf den Zeitpunkt ab, in dem die Behörde die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erkannt hat und ihr die für die Rücknahmeentscheidung außerdem erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind (Urteile des BFH vom 28.09.1993 VII R 107/92, BFH/NV 1994, 751, zu § 48 Abs. 4 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz im Anschluss an den Beschluss des Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 19.12.1984 1 und 2.84, Entscheidungen des BVerwG - BVerwGE - 70, 356, des BVerwG vom 14.01.2001 8 C 8/00, BVerwGE 112, 360, und des FG Köln in EFG 2005, 456). Das Abstellen auf den Zeitpunkt der Erkenntnis über die Rechtswidrigkeit dürfte allerdings mit dem Wortlaut der Vorschrift - Kenntnis von "Tatsachen" - schwerlich zu vereinbaren sein und macht die gesetzliche Frist bedeutungslos (so mit einiger Berechtigung Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., § 130 AO Tz. 51). Die Frage, welcher Auffassung zu folgen ist und wann vorliegend bei dem Beklagte die Rechtswidrigkeit der Anrechnungsverfügungen erkannt worden ist, lässt der Senat letztlich dahinstehen, da der angefochtene Bescheid ohnehin - wie oben unter 3. ausgeführt - wegen Ermessensfehlers (Ermessensunterschreitung) aufzuheben ist.

3. Nach allem waren der Abrechnungsbescheid vom 11.03.2002 und die Einspruchsentscheidung vom 19.07.2002 entsprechend dem Antrag des Klägers aufzuheben. Eine Aufhebung der Verfügung des Beklagten vom 15.11.2001 kommt nicht in Betracht, da eine solche nicht beantragt ist (§ 96 Abs. 1 Satz 2 FGO). Der Aufhebung der Verfügung vom 15.11.2001 bedarf es nach Auffassung des Senats auch nicht, da diese aufgrund der Vorrangigkeit des Abrechnungsverfahrens verdrängt worden ist.

Da der Beklagte im Rechtsstreit unterliegt, sind ihm gemäß § 135 Abs. 1 FGO die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit wegen der Kosten

ergibt sich aus § 151 Abs. 1 und 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10 und 711 Satz 1 Zivilprozessordnung.

Der Senat lässt gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage der Bindungswirkung einer bestandskräftigen Anrechnung der Steuerzahlungen nach § 36 Abs. 2 EStG dem Grunde und dem Umfang nach und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung diesbezüglich zu.

Ende der Entscheidung

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