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Gericht: Finanzgericht Hessen
Urteil verkündet am 06.04.2006
Aktenzeichen: 3 K 3760/05
Rechtsgebiete: EStG, AO


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 4
AO § 164
AO § 165 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger einen Anspruch auf rückwirkende Änderung der Kindergeldfestsetzung für seinen 1983 geborenen Sohn J hat. Dem Rechtsstreit liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Kläger ist Vater von zwei Söhnen, für die er beide Kindergeld bezogen hat. Der Sohn J hatte nach Ableistung seines Zivildienstes und einer Übergangstätigkeit zum 01.08.2003 eine Lehre als Bankkaufmann begonnen. Für ihn hat die Beklagte (die Familienkasse) bis zum Jahresende 2003 Kindergeld festgesetzt. Nach überschlägiger Prüfung der für das Jahr 2004 zu erwartenden Ausbildungsvergütung hat die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für J mit Bescheid vom 29.06.2004 ab Januar 2004 aufgehoben. Im Anschluss an die Rechtsbehelfsbelehrung dieser Verfügung hat die Familienkasse folgenden Text angefügt:

"Wichtiger Hinweis:

Falls nach Ablauf dieses Jahres feststeht, dass die Einkünfte und Bezüge Ihres Kindes den Grenzbetrag nicht überschritten haben, können Sie einen erneuten Antrag auf Festsetzung des Kindergeldes stellen."

Der Kläger hat gegen diese Verfügung keinen Rechtsbehelf eingelegt.

Nach Bekanntwerden des Beschlusses vom 11.01.2005 (2 BvR 167/02), in dem das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, dass bei der Ermittlung der kindergeldschädlichen Einkünfte und Bezüge gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 Einkommensteuergesetz (EStG) die vom Kind geleisteten Sozialversicherungsbeiträge abgezogen werden können, hat der Kläger unter Bezugnahme auf diese Entscheidung am 13.08.2005 für seine beiden Söhne einen Antrag auf rückwirkende Zahlung von Kindergeld gestellt. Auf den Antrag für den Sohn J hat die Familienkasse mit Bescheid vom 19.09.2005 Kindergeld für die Zeit von Juni bis Dezember 2004 festgesetzt und die Ablehnung der Kindergeldzahlung für die erste Jahreshälfte damit begründet, dass für diesen Zeitraum eine bestandskräftige Aufhebung der Kindergeldfestsetzung (Bescheid vom 29.06.2004) vorliege. Den dagegen eingelegten Einspruch hat die Familienkasse mit Entscheidung vom 18.11.2005 als unbegründet zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die vorliegende Klage.

Zur Begründung der Klage bezieht sich der Kläger auf den "wichtigen Hinweis" aus dem Bescheid vom 29.06.2004 und vertritt hierzu die Auffassung, die Familienkasse habe mit diesem Hinweis den Eindruck erweckt, dass der Bescheid nicht endgültig sein solle, sondern jederzeit geändert werden könne. Der Hinweis habe damit praktisch die Wirkung eines Verwaltungsaktes erhalten, der unter den Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 Abgabenordnung (AO) oder vorläufig nach § 165 AO ergangen sei. So jedenfalls habe er, der Kläger diesen Hinweis verstehen dürfen, auch wenn der Bescheid vom 29.06.2004 keinen ausdrücklichen Vorbehalts- oder Vorläufigkeitsvermerk enthalten habe. Wenn die Familienkasse dem Hinweis eine andere Bedeutung beigemessen habe, dann gehe die unklare Formulierung zu Lasten der Behörde. Da diese mit dem Hinweis den Eindruck der jederzeitigen Änderbarkeit des Bescheids vom 29.06.2004 erweckt habe, könne die Kindergeldfestsetzung für 2004 auch dann geändert werden, wenn keine spezielle Änderungsvorschrift eingreife.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Kindergeldfestsetzung vom 19.09.2005 unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 18.11.2005 zu ändern und Kindergeld für den Sohn J auch für die Monate Januar bis Juni 2004 festzusetzen.

Die Familienkasse beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie vertritt, wie bereits im Einspruchsverfahren, die Auffassung, mit dem Bescheid vom 29.06.2004 sei die Kindergeldfestsetzung für den Sohn J im ersten Halbjahr 2004 bestandskräftig aufgehoben worden. Der diesen Bescheid beigefügte Hinweis könne auch dann nicht zu einer Durchbrechung der Bestandskraft führen, wenn man darin eine vorläufige oder eine unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehende Steuerfestsetzung sehen wollte. Denn auch unter diesen Voraussetzungen wäre eine Änderungsmöglichkeit nur dann eröffnet, wenn sich die Höhe der Ausbildungsvergütung des Sohnes J gegenüber die Prognoseentscheidung geändert hätte. Im Streitfall hätten sich aber nicht die Einkünfte des Kindes geändert. Sondern die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2005 habe durch den Abzug des Arbeitnehmeranteils der Sozialversicherungsbeiträge nur dazu geführt, dass sich bei dem Sohn J ein unter dem Jahresgrenzbetrag liegendes Einkommen für das Jahr 2004 ergebe. Damit habe diese Entscheidung aber die für das Jahr 2004 allein änderbaren Einkünfte und Bezüge des Sohnes nicht beeinflusst. Es bleibe daher bei der bestandskräftigen Ablehnung des Kindergeldes für J im ersten Halbjahr 2004.

Die Beteiligten haben übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet. Dem Gericht hat bei seiner Entscheidung ein Band Kindergeldakten für den Kläger vorgelegen.

Gründe

Die Klage ist begründet.

Dem Kläger steht für seinen Sohn J auch Kindergeld für das erste Halbjahr 2004 zu.

1. Der Senat entscheidet durch Urteil ohne mündliche Verhandlung, weil die Beteiligten übereinstimmend auf eine mündliche Verhandlung verzichtet haben, § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO).

2. Der Kindergeldanspruch des Klägers ist im Jahr 2004 nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i. V. m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 a EStG zu beurteilen. Danach besteht ein Anspruch auf Kindergeld für ein Kind, dass das 18., aber noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat, wenn es für einen Beruf ausgebildet wird. Diese Voraussetzungen haben während des ganzen Jahres 2004 für den Sohn J vorgelegen.

3. Nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der für das Jahr 2004 geltenden Fassung wird ein in Ausbildung befindliches volljähriges Kind nur berücksichtigt, wenn es Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung seines Lebensunterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als 7.680,-- EUR im Kalenderjahr hat (Jahresgrenzbetrag). Über die voraussichtlichen Einkünfte des Sohnes J hat die Familienkasse im Juni 2004 eine Prognoseentscheidung getroffen, die dazu geführt hat, dass sie die Kindergeldfestsetzung für J mit Bescheid vom 29.06.2004 aufgehoben hat. Dieser Bescheid ist formell bestandskräftig geworden.

4. Der rückwirkenden Aufhebung des Bescheids vom 29.06.2004 steht dessen formelle Bestandskraft nicht entgegen.

a) Der Bundesfinanzhof (BFH) hat zwar in der Vergangenheit wiederholt entschieden, dass einem bestandskräftigen Bescheid, mit dem eine Kindergeldfestsetzung aufgehoben wird, Bindungswirkung bis zum Ende des Monats seiner Bekanntgabe zukommt und dass auf einen später erneut gestellten Antrag Kindergeld rückwirkend erst ab dem auf die Bekanntgabe des Bescheids folgenden Monat bewilligt werden kann (Urteile vom 25.07.2001 VI R 78/98, Bundessteuerblatt -BStBl- II 2002, 88 und VI R 164/98, BStBl II 2002, 89 und vom 23.11.2001 VI R 125/00, BStBl II 2002, 296). Diese Rechtsprechung bezieht sich jedoch auf Sachverhalte, in denen die Familienkasse nach sachlicher Prüfung abschließend über den Anspruch auf Kindergeld entschieden hat. Ein solcher Sachverhalt liegt im Streitfall nicht vor.

b) Im Streitfall hat die Familienkasse durch ihren Bescheid vom 29.06.2004 abschließenden "wichtigen Hinweis" erklärt, dass der Kläger die Möglichkeit habe, unter bestimmten Voraussetzungen, nämlich bei einer Änderung der Einkünfte und Bezüge des Kindes, einen erneuten (rückwirkenden) Antrag auf Kindergeld zu stellen. Da die Bedeutung dieses Hinweises zwischen den Beteiligten streitig ist, ist sie durch Auslegung zu ermitteln.

Bei der Auslegung von Steuerverwaltungsakten kommt es grundsätzlich nicht darauf an, was die Behörde mit ihrer Erklärung gewollt hat. Maßgebend ist vielmehr der objektive Erklärungsinhalt der Regelung, wie ihn der Empfänger des Verwaltungsaktes nach den ihm bekannten Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte (ständige Rechtsprechung z.B. BFH-Urteile vom 18.07.1994 X R 33/91, BStBl II 1995, 5 und vom 24.08.2005 II R 16/02, BStBl II 2006, 36). Im Zweifel ist das den betroffenen weniger belastende Auslegungsergebnis vorzuziehen, da der Empfänger einer auslegungsbedürftigen Willenserklärung durch etwaiger Unklarheiten aus der Sphäre der Verwaltung nicht benachteiligt werden darf (BFH-Urteil vom 04.10.1988 VIII R 161/84, BFH/NV 1989, 758).

aa) Bei Anwendung dieser Grundsätze lässt der Senat offen, ob er sich der Auffassung des Klägers anschließen könnte, dass der Bescheid vom 29.06.2004 unter den Vorbehalt der Nachprüfung gestellt worden oder vorläufig nach § 165 Abs. 1 AO ergangen sei. Da das Gesetz an die Zulässigkeit und Klarheit einer solchen Nebenbestimmung besondere Anforderungen stellt, die die Familienkasse im Streitfall offenbar nicht erfüllten wollte, würde sich der Senat der vom Kläger vertretenen Auffassung voraussichtlich nicht anschließen.

bb) Der objektive Erklärungsinhalt des dem Bescheid vom 29.06.2004 angefügten "wichtigen Hinweises" ist aber nach Auffassung des Senats aus der Sicht des Klägers so zu verstehen, dass die Familienkasse bereit war, die für das Jahr 2004 getroffene Aufhebung des Kindergeldes rückgängig zu machen, wenn sich ihre in dem Bescheid getroffene prognostische Beurteilung als unrichtig erweisen sollte. Zwar ist in dem Änderungsvorbehalt des Hinweises einschränkend nur die Rede davon, dass die "Einkünfte und Bezüge" des Kindes den Grenzbetrag nicht überschritten. Mit den Begriffen "Einkünfte und Bezüge" verbindet ein steuerliche Laie jedoch keine bestimmten Inhalte. Diese Begriffe sind daher aus der Sicht des Klägers in dem Sinne auszulegen, dass alle Einkommensänderungen des Kindes, die sich auf den Jahresgrenzbetrag auswirken, eine Überprüfung der Neufestsetzung des Kindergeldes für 2004 auslösen sollten. Dies gilt nach Auffassung des Senats schon deswegen, weil die Familienkasse die allgemeine Formulierung verwandt hat, ohne in dem Hinweis auf eine gesetzliche Grundlage (§ 70 Abs. 4 EStG) Bezug zu nehmen und weil auch im Mittelpunkt der Fachdiskussion um die Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge des Kindes im Rahmen des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG die Frage gestanden hat, ob insoweit der Begriff der Einkünfte erweiternd im Sinne des Einkommens (§ 2 Abs. 4 EStG) auszulegen sei. Unter diesen Voraussetzungen konnte nicht nur der Kläger, sondern jeder sachverständige Empfänger davon ausgehen, dass von dem "Hinweis" der Familienkasse auch die beim Bundesverfassungsgericht anhängige Frage der Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge im Rahmen des Jahresgrenzbetrages erfasst sein sollte. Diese weite Auslegung des Hinweises geht unabhängig davon, ob der Kläger Kenntnis von dem beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren hatte oder nicht. Die Weigerung der Familienkasse, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bei der Neufestsetzung des Kindergeldes für den Sohn J auf das gesamte Jahr 2004 anzuwenden, stellt daher nach Auffassung des Senats einen Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben dar.

5. Da die Klage Erfolg hat, sind die Kosten des Rechtsstreits der Beklagten aufzuerlegen, § 135 Abs. 1 FGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 3 i. V. m. § 155 FGO und §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.

Da die streitige Rechtsfrage bisher nicht höchstrichterlich entschieden und dem erkennenden Gericht zu dieser Rechtsfrage weitere Klagen vorliegen, ist gegen die Entscheidung die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen, § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.

Ende der Entscheidung

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