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Gericht: Finanzgericht Hessen
Urteil verkündet am 13.11.2008
Aktenzeichen: 5 K 3071/07
Rechtsgebiete: EStG, FGO, EWGV 1408/71


Vorschriften:

EStG § 62
EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1
EStG § 63 Abs. 1 Nr. 1
EStG § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
FGO § 76 Abs. 1
EWGV 1408/71
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tatbestand:

Die Klägerin beantragte unter dem 02.11.2006 Kindergeld für ihre Tochter X, die am 27.09.1995 geboren wurde. Nach Aktenlage ist die Klägerin im Inland verheiratet und hat das Kind X mit in die Ehe gebracht. Der leibliche Vater des Kindes ist Pole und lebt getrennt von der Klägerin und seiner Tochter. Die Klägerin legte im Antragsverfahren bei der Beklagten eine Bescheinigung der polnischen Gemeinde vor, aus der hervorgeht, dass die Klägerin in Polen keinen Antrag auf die Gewährung von Familienleistungen gestellt hat.

Am 20.3.2007 erhielt die Beklagte (Familienkasse F) die Übersetzung einer Bescheinigung des regionalen Zentrums der Sozialpolitik in A/Polen vom 09.03.2007 (Formular E 411). Hiernach habe der leibliche Vater des Kindes X in Polen keine Familienleistungen bezogen, weil er in Polen nicht erwerbstätig sei und für die Gewährung von Familienleistungen die Institution desjenigen Staates zuständig sei, auf dessen Gebiet die Arbeit im Sinne des "Art. 73 der Verordnung des Rates (EWG) 1408/71 vom 14.06.1971" ausgeübt werde. Auf das Schriftstück wird verwiesen.

Mit Bescheid vom 06.09.2007 bewilligte die Beklagte die Zahlung von Kindergeld für die Tochter X ab Juli 2007 nur in Höhe von 77,00 € monatlich. Die hälftige Zahlung wurde damit begründet, dass der leibliche Vater in Polen erfolgreich einen Anspruch auf die Gewährung von Familienleistungen stellen könne. Bei einem solchen Aufeinandertreffen von Leistungspflichten zweier Staaten sei unter Anwendung der EG-Verordnung Nr. 1408/71 in Verbindung mit der Durchführungsverordnung Nr. 574/72 nur das halbe im Inland zustehende Kindergeld zu gewähren.

Das Einspruchsverfahren blieb erfolglos. Die Beklagte wies den Einspruch vom 25.09.2007 mit Entscheidung vom 17.10.2007 als unbegründet zurück.

Mit der nunmehr erhobenen Klage trägt die Klägerin vor, sie habe Anspruch auf die Zahlung des vollen Kindergeldes. Die Tochter X lebe seit Juli 2006 im Haushalt der Klägerin. Der leibliche Kindesvater habe in Polen keine Kindergeldleistung oder vergleichbare Leistungen beantragt oder geltend gemacht, nachdem die Tochter zum Wohnsitz der Klägerin übergesiedelt sei. Es sei nicht hinnehmbar, wenn die Klägerin die volle Last der Kindererziehung mit den damit verbundenen Kosten trage, hierfür aber nur das halbe Kindergeld erhalten solle.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Festsetzungsbescheids vom 06.09.2007 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 17.10.2007 zu verpflichten, für das Kind X ab dem 01.07.2006 den vollen Betrag des Kindergeldes in Höhe von 154,00 € monatlich zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie trägt weiterhin vor, der leibliche Vater könne in Polen Kindergeld erhalten. Auf eine tatsächliche Antragstellung komme es nicht an. Die Konkurrenz dieser beiden bestehenden Ansprüche sowohl in Polen als auch im Inland sei nach der EG-Verordnung Nr. 1408/71 dahingehend zu lösen, dass im Inland nur das hälftige Kindergeld gezahlt werde.

In der mündlichen Verhandlung gab der Prozessbevollmächtigte der Klägerin an, über den tatsächlichen Aufenthalt des Kindesvaters sowie die von ihm ausgeübte berufliche Tätigkeit sei nichts bekannt. Es bestehe keinerlei Kontakt zur Klägerin und der Tochter X.

Dem Gericht lag zu Kindergeld-Nr. ... ein Band Kindergeldakten vor.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist begründet.

Gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) in Verbindung mit §§ 63 Abs. 1 Nr. 1, 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 EStG hat die Klägerin für ihre Tochter X Anspruch auf Kindergeld, weil die Klägerin ihren Wohnsitz im Inland hat und die Tochter als leibliches Kind unter 18 Jahren berücksichtigungsfähig ist. Dem steht § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG nicht entgegen. Zwar wird hiernach für ein Kind, für das im Ausland eine dem Kindergeld oder einer Kinderzulage vergleichbare Leistung zu zahlen ist oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wäre, kein Kindergeld im Sinne von § 31 EStG festgesetzt. Das Bestehen eines solchen Anspruchs im Ausland konnte aber nicht festgestellt werden.

Dass die Klägerin selbst einen Anspruch auf Zahlung kindergeldähnlicher Leistungen in Polen haben könnte, obwohl sie dort weder wohnt noch erwerbstätig noch in ein Sozialversicherungssystem eingebunden ist, wird von der Beklagten nicht behauptet und ist auch nicht ersichtlich.

Ebenfalls ist nicht ersichtlich, dass der leibliche Vater des Kindes X, einen Anspruch im Sinne des § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG haben könnte. Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung hat weder die Beklagte noch die Klägerin Erkenntnisse über den Aufenthalt des Kindesvaters und dessen berufliche Tätigkeit. Es ist nicht gesichert, ob der Kindesvater, wie der jetzige Ehemann der Klägerin unter dem 12.09.2006 gegenüber der Beklagten vermutete (Kindergeldakte Blatt 6), in Polen inhaftiert oder arbeitslos war. Vielmehr gaben beide Beteiligte in der mündlichen Verhandlung an, nicht zu wissen, ob sich der Kindesvater überhaupt in Polen aufhielt, welcher Tätigkeit er nachging, ob er in Polen eine Wohnung hatte und/oder ob er im Ausland arbeitete.

Vor diesem Hintergrund ist der Auskunft des Regionalen Zentrums der Sozialpolitik in A/Polen vom 09.03.2007 zu entnehmen, dass der Kindesvater in der Zeit vom 21.07.2006 an in Polen nicht erwerbstätig war. Die polnische Behörde folgerte weiter, der Kindesvater habe deshalb in Polen keinen Anspruch auf Familienleistungen, weil sich aus Art. 73 EG-Verordnung Nr. 1408/71 ergebe, dass ein Arbeitnehmer, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliege (Anmerkung des Gerichts: weil er dort beschäftigt sei; s. Art. 13 Abs. 2 a EG-Verordnung Nr. 1408/71), Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften dieses Staates habe, und zwar auch dann, wenn Familienangehörige im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates wohnten. Somit belegt die Bescheinigung, dass die polnische Behörde der Auffassung war, der Kindesvater sei nicht in Polen, sondern in einem anderen Mitgliedstaat erwerbstätig. Er habe nicht in Polen, sondern allenfalls in einem anderen Mitgliedstaat Anspruch auf Familienleistungen.

Es steht deshalb zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kindesvater jedenfalls keinen Anspruch auf Familiengeld in Polen hatte.

Ob und in welchem Land der Kindesvater stattdessen Anspruch auf Leistungen im Sinne des § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG haben könnte, ist nicht ersichtlich. Das Gericht ist hier nicht gemäß § 76 Abs. 1 FGO verpflichtet, "ins Blaue hinein" Ermittlungen durchzuführen (Gräber, Kommentar zur Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 76 Rz. 29 m.w.N.), um den Standpunkt der Beklagten zu erhärten. Der Sitzungsvertreter der Beklagten stellte zudem keine entsprechenden Beweisanträge.

Lässt sich so schon kein Anspruch in einem ausländischen Mitgliedsstaat der Europäischen Union (und auch nicht im sonstigen Ausland) auf mit dem inländischen Kindergeld vergleichbare Leistungen feststellen, so kann, entgegen der Auffassung der Beklagten, auch aus der EG-Verordnung Nr. 1408/71 keine Berechtigung zum Ansatz eines nur hälftigen Kindergeldes hergeleitet werden (Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 22.01.2008 10 K 1462/07 Kg, EFG 2008, 695 mit Anmerkung von Wüllenkemper). Dies gilt im Übrigen auch deshalb, weil nicht feststellbar ist, ob die EG-Verordnung Nr. 1408/71 überhaupt auf den Kindesvater anwendbar ist. Denn nach Art. 2 Abs. 1 der Verordnung gilt diese nur für Arbeitnehmer und Selbstständige. Was hierunter zu verstehen ist, bestimmt Art. 1 a) i) und folgende Buchstaben der Verordnung. Hiernach setzt der Begriff des Arbeitnehmers oder des Selbstständigen voraus, dass es sich um eine Person handelt, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbstständige erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig versichert ist (etc., siehe dort). Ob der Kindesvater diese Voraussetzungen erfüllt, ist nach den obigen Darlegungen nicht feststellbar.

Es bedurfte damit auch keiner Entscheidung, ob die Tochter der Klägerin, unterstellt, eine Erwerbstätigkeit des Kindesvaters hätte in einem ausländischen Mitgliedsstaat festgestellt werden können, als Familienangehörige im Sinne von Art. 1 a) f) i) der EG-Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen gewesen wäre. Denn die Tochter lebte weder im Haushalt des Kindesvaters noch leistete dieser (überwiegenden) Unterhalt.

Der Klage war nach alledem stattzugeben.

Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten erfolgt gemäß §§ 151 Abs. 1 FGO, 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (vgl. BFH-Beschluss vom 23. Juni 1972 III R 8/71, BStBl II 1972, 709).

Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war erforderlich im Sinne des § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO.

Ende der Entscheidung

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