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Gericht: Finanzgericht Hessen
Urteil verkündet am 13.11.2008
Aktenzeichen: 5 K 3361/07
Rechtsgebiete: EStG, AO, SozSichAbk YUG


Vorschriften:

EStG § 70 Abs. 2
EStG § 70 Abs. 3
AO § 88 Abs. 1
AO § 173
SozSichAbk YUG Art. 28 Abs. 1 S. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tatbestand:

Der Kläger reiste in 1993 als Asylbewerber nach Deutschland ein. Er ist von seiner Nationalität her Kosovo-Albaner. Der gestellte Asylantrag wurde abgelehnt, der Kläger wurde ab 1995 im Inland geduldet.

Der Kläger beantragte unter dem 24.04.2003 Kindergeld für seine im Inland in seinen Haushalt aufgenommenen Kinder A, B und C. Als Anlage legte er eine unbefristete Arbeitsgenehmigung der Bundesanstalt für Arbeit vom 14.11.2002 nach § 284 Sozialgesetzbuch III sowie einen Arbeitsvertrag vom 01.04.2003 als Steinmetz- und Steinbildhauer vor (Durchführung einer unbefristeten Aushilfs- bzw. Teilzeitbeschäftigung). Weiter wurde die Fotokopie zweier Aufenthaltstitel für den Kläger und für seine Kinder zu den Akten der Beklagten gegeben, wonach eine nichtselbstständige Arbeit bei gültiger Arbeitserlaubnis gestattet war.

Die Beklagte setzte hierauf mit Bescheid vom 19.05.2003 das beantragte Kindergeld ab April 2003 fest, wobei sie sich auf das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien vom 12.10.1968 in der Fassung des Änderungsabkommens vom 30.09.1974 (Bundesgesetzblatt II 1968, 1437 und Bundesgesetzblatt II 1975, 389) bezog. Die Beklagte wies in dem Bescheid darauf hin, dass dem Kläger nach diesem Abkommen ein Anspruch auf deutsches Kindergeld zustehe, wenn er in Deutschland eine arbeitslosenversicherungspflichtige Beschäftigung ausübe oder Krankengeld/Arbeitslosengeld erhalte. Änderungen in diesen Verhältnissen seien unverzüglich anzuzeigen. Auf den Bescheid wird verwiesen. Der Bescheid wurde vom Antragsteller nicht angefochten.

Am 09.08.2005 beantragte der Kläger Kindergeld für sein viertes Kind D. Im Rahmen der folgenden Überprüfungen durch die Beklagte zeigte der Kläger an, er habe von November 2003 bis März 2004 kein Arbeitslosengeld bekommen, auch kein "Arbeitslosengeld II". Hinter diesem Vorgang ist bei den Kindergeldakten eine Bescheinigung des Arbeitsamts X vom 07.10.2003 abgeheftet, wonach der Kläger ab dem 01.11.2003 bis auf weiteres arbeitslos gemeldet sei. Unter dem 21.09.2007 hob die Beklagte die Festsetzung des Kindergelds für den Zeitraum November 2003 bis März 2004 auf und forderte einen Betrag von 2.310,00 € zurück, wobei dem Kläger in der Folgezeit zustehendes Kindergeld in Höhe von 641,00 € verrechnet wurde, so dass letztlich ein Rückforderungsbetrag in Höhe von 1.669,00 € geltend gemacht wurde. Der Bescheid wurde auf § 70 Abs. 2 EStG gestützt.

Zur Begründung wurde angegeben, dass unter Anwendung des neuen § 62 Abs. 2 EStG (Gesetz vom 13.12.2006, Bundesgesetzblatt I 2006, 2915) dem Kläger ein Kindergeldanspruch nur zugestanden habe, wenn er einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sei, Geldleistungen nach dem Sozialgesetzbuch III erhalten oder Elternzeit in Anspruch genommen habe. Diese Voraussetzungen hätten in der Zeit von November 2003 bis März 2004 nicht vorgelegen. Auf den Bescheid wird verwiesen.

Das Einspruchsverfahren blieb erfolglos. Die Beklagte wies den Einspruch vom 28.09.2007 mit Entscheidung vom 17.10.2007 als unbegründet zurück.

Mit der nunmehr erhobenen Klage trägt der Kläger vor, das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Jugoslawien über Soziale Sicherheit sei im Streitfall nicht anzuwenden. Dies ergebe sich daraus, dass der Kläger als Asylbewerber nach Deutschland eingereist sei und nicht als Arbeitssuchender. Im Übrigen sei die dem Kläger aus humanitären Gründen erteilte Aufenthaltserlaubnis ausreichend i.S. des § 62 Abs. 2 EStG. Der Kläger könne auch Vertrauensschutz für sich in Anspruch nehmen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 21.09.2007 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 17.10.2007 ersatzlos aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Verrechnungsbetrag in Höhe von 641,00 € zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie beruft sich weiterhin auf die Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens. In der mündlichen Verhandlung berief sich der Sitzungsvertreter der Beklagten schließlich darauf, eine Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 70 Abs. 2 EStG sei jedenfalls deshalb zu bejahen, weil der Kläger es unterlassen habe, der Beklagten anzuzeigen, dass er im Zeitraum November 2003 bis März 2004 als arbeitslos gemeldet gewesen sei, ohne Arbeitslosengeld oder sonstige Sozialleistungen zu beziehen.

Während des gerichtlichen Verfahrens legte die Beklagte eine schriftliche Bescheinigung des Landrats des X-Kreises vom 07.02.2008 vor. Hiernach habe es sich bei dem Aufenthaltstitel des Antragstellers vom 27.08.2002 um eine Aufenthaltsbefugnis nach § 53 Abs. 6 in Verbindung mit § 30 Abs. 3 und 4 des damaligen Ausländergesetzes gehandelt. Hintergrund sei gewesen, dass das Kind A des Antragstellers eine lebensgefährliche Herzkrankheit (Loch in der Herzkammerscheidewand) gehabt habe, die im Heimatland des Antragstellers nicht hätte angemessen behandelt werden können. Der Antragsteller sei deshalb mit seiner Familie im Inland aus humanitären Gründen geduldet worden.

Dem Gericht lag zu Kindergeldnummer ... ein Band Kindergeldakten vor.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist begründet, weil es für die rückwirkende Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum November 2003 bis März 2004 an einer Rechtsgrundlage fehlt.

Gemäß § 70 Abs. 2 EStG ist die Festsetzung des Kindergeldes, soweit in den Verhältnissen, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sind, Änderungen eintreten, mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben oder zu ändern. Materielle Fehler der ursprünglichen Festsetzung können dagegen nur durch Neufestsetzung oder durch Aufhebung der Festsetzung beseitigt werden, also nur mit Wirkung für die Zukunft (§ 70 Abs. 3 EStG; vergleiche Schmidt, Kommentar zum EStG, 27. Aufl. 2008, § 70 Rz. 5 m.w.N.).

Im Streitfall ist eine Änderung der Verhältnisse in diesem Sinne nicht eingetreten, der ursprüngliche Festsetzungsbescheid vom 19.05.2003 war vielmehr schon nach den Verhältnissen zum Zeitpunkt seines Ergehens materiell fehlerhaft.

1.1. Gemäß § 62 Abs. 2 S. 1 Einkommensteuergesetz in der damals geltenden Fassung (EStG) hatte ein Ausländer Anspruch auf Kindergeld, wenn er im Besitz einer auf Dauer angelegten Aufenthaltserlaubnis (§ 15 des ehemaligen Ausländergesetzes - AuslG -) oder Aufenthaltsberechtigung (§ 27 AuslG) war. Eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit war nicht Voraussetzung. Ein Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen im Sinne des § 30 AuslG reichte nicht aus, weil er nicht auf eine Berechtigung zum dauerhaften Aufenthalt abzielte (Schmidt, Kommentar zum EStG, 22. Aufl. 2003, § 62 Rz. 8 m.w.N.).

Da die vom Kläger zu den Akten gegebenen Urkunden in Fotokopie keinen Aufschluss über die Art des Aufenthaltstitels gaben, hätte die Beklagte die Rechtsgrundlage ermitteln müssen (wie dies schließlich im gerichtlichen Verfahren durch Einholung einer Auskunft des Landrats des X-Kreises geschah), bevor sie den Festsetzungsbescheid erließ. Diese Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 88 Abs. 1 der Abgabenordnung - AO -) führte zur Fehlerhaftigkeit des Festsetzungsbescheids, die allenfalls gemäß § 70 Abs. 3 EStG für die Zukunft beseitigt werden konnte. Eine Änderung der Verhältnisse im Zeitraum November 2003 bis März 2004 gemäß § 70 Abs. 2 EStG lag dagegen nicht vor, weil der Aufenthaltstitel vor und nach Ergehen des ursprünglichen Festsetzungsbescheides derselbe blieb.

1.2. Die Beklagte kann ihren Rechtsstandpunkt auch nicht auf das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über Soziale Sicherheit vom 12.10.1968 stützen. Vielmehr ist der ursprüngliche Festsetzungsbescheid vom 19.05.2003 auch insoweit rechtsfehlerhaft, als er den Anspruch des Klägers auf Kindergeld aus diesem Abkommen herleitet. Dies gilt schon deshalb, weil Art. 28 Abs. 1 S. 1 des Abkommens zur Voraussetzung hat, dass der Anspruchsinhaber in dem einen Vertragsstaat beschäftigt ist, seine Kinder sich aber in dem anderen Vertragsstaat (Heimatland) gewöhnlich aufhalten. Nur wenn dieser Sachverhalt gegeben ist, soll ein Anspruch auf Kindergeld - geknüpft an die weitere Voraussetzung der Beschäftigung (oder des Empfangs von Arbeitslosengeld oder von Krankenversicherungsleistungen) - bestehen (verdeutlichend insoweit Art. 28 Abs. 2 S. 1 des Abkommens). Die Kinder des Klägers lebten indes mit diesem zusammen im Inland.

Die Beklagte hätte deshalb den Festsetzungsbescheid vom 19.05.2003 nicht erlassen dürfen. Diesen Fehler kann sie nicht rückwirkend dadurch korrigieren, dass sie dem Kläger vorwirft, er habe im Hinblick auf ein im Streitfall nicht anwendbares zwischenstaatliches Abkommen Angaben zur Arbeitslosigkeit machen müssen. Auch hier kommt eine Korrektur nach § 70 Abs. 3 EStG nur mit Wirkung für die Zukunft in Betracht.

Es war deshalb in diesem Zusammenhang nicht mehr zu entscheiden, ob das genannte Abkommen wirksam sein konnte, obwohl die ehemalige Föderative Republik Jugoslawien zerfallen war (s. Vorlagebeschluss des BSG vom 23.05.2006 B 13 RJ 17/05 R, SGb 2007, 227 mit Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 25.08.2008, 2 BvM 3/06, beides - auch - veröffentlicht in Juris).

2. Etwas anderes hätte sich auch nicht ergeben, wenn der Rückforderungsbescheid auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) gestützt worden wäre. Hiernach sind Steuerbescheide zwar aufzuheben oder zu ändern, soweit nachträglich Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die zu einer höheren Steuer (niedrigeren Steuervergütung) führen. Solch "neue Tatsachen" sind aber gleichbedeutend mit einer "Änderung der Verhältnisse" im Sinne des § 70 Abs. 2 EStG (Schmidt, Kommentar zum EStG, 27. Aufl. 2008, § 70 Rz. 5). Sie lagen nicht vor. Auf die obigen Ausführungen kann Bezug genommen werden.

Auch die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Steuergesetzes durch das Bundesverfassungsgericht stellt keine Tatsache dar (Tipke/Kruse, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 173 AO Rz. 3). Wenn es das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung 1 BvL 4/97 (BFH/NV Beilage 5, 114) als mit dem Gleichheitssatz nicht vereinbar ansah, dass der Gesetzgeber die Gewährung von Kindergeld undifferenziert von der Art des Aufenthaltstitels abhängig machte, so konnte auch dies die Beklagte nicht zur rückwirkenden Änderung der Kindergeldfestsetzung berechtigen. Die aufgrund der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Gesetzgeber vorgenommene Änderung des § 62 Abs. 2 EStG (Gesetz vom 13.12.2006, Bundesgesetzblatt I 2006, 2915) gilt erst ab dem 01.01.2006 (s. Schmidt, Kommentar zum EStG, sieben 20. Aufl. 2008, § 62 Rz. 8). Die Beklagte kann damit Ihre - vorübergehend vertretene - Rechtsauffassung nicht auf diese Gesetzesänderung stützen.

3. Konnte die Beklagte somit vom Kläger kein Kindergeld zurückfordern, erfolgte die Verrechnung in Höhe von 641,00 € ohne Rechtsgrund im Sinne des § 37 Abs. 2 S. 1 der Abgabenordnung (AO). Der Betrag ist dem Kläger zu erstatten.

Der Klage war nach alledem stattzugeben.

Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten erfolgt gemäß §§ 151 Abs. 1 FGO, 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (vgl. BFH-Beschluss vom 23. Juni 1972 III R 8/71, BStBl II 1972, 709).

Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war erforderlich im Sinne des § 139 Abs. 3, Satz 3 FGO.

Ende der Entscheidung

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