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Gericht: Finanzgericht Köln
Urteil verkündet am 09.11.2006
Aktenzeichen: 10 K 1997/02
Rechtsgebiete: EStG


Vorschriften:

EStG § 32a Abs. 1
EStG § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Köln

10 K 1997/02

Tenor:

Die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob Lohnersatzleistungen auch insoweit beim Progressionsvorbehalt zu berücksichtigen sind, als der Kläger verpflichtet ist, davon Sozialversicherungsbeiträge abzuführen.

Der Kläger war als Diplom-Ingenieur nichtselbständig tätig und hatte sich privat krankenversichert. Im Streitjahr 1999 bezog er Insolvenzgeld nach § 183 SGB III in Höhe von 20.338 DM. Im angefochtenen Einkommensteuerbescheid vom 5. April 2001 wurden diese steuerfreien Lohnersatzleistungen in voller Höhe in die Berechnung des besonderen Steuersatzes gemäß § 32b Abs. 1 Nr. 1 EStG einbezogen (Progressionsvorbehalt). Der Bescheid erging vorläufig, allerdings nur hinsichtlich "der Anwendung des § 32c EStG".

Mit seinem Einspruch machte der Kläger geltend, in dem ausgezahlten Insolvenzgeld seien Beiträge zur Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung enthalten, die er in Höhe von 6.640 DM habe abführen müssen (Beiträge für die Rentenversicherung im Rahmen der Architektenkammer: 5.108 DM; Kranken- und Pflegeversicherung 1.532 DM). Deshalb dürfe dieser Betrag nicht im Rahmen des Progressionsvorbehalts berücksichtigt werden. Werde über das Vermögen des Arbeitgebers das Insolvenzverfahren eröffnet oder erfolge eine Abweisung mangels Masse, so erhalte der Arbeitnehmer für die letzten drei Monate vor Insolvenzeröffnung Ersatz für den ausgefallenen Nettolohn. Grundsätzlich würden die Sozialversicherungsbeiträge bei der Auszahlung des Insolvenzgelds direkt an die jeweiligen Kassen überwiesen; der Betroffene erhalte nur das jeweilige Nettogehalt als Insolvenzgeld ausgezahlt. Beim Kläger sei nur deshalb eine andere Auszahlungsmodalität gewählt worden, weil dieser privat versichert sei. Habe der Arbeitgeber in diesem Zeitraum auch keine Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherungsbeiträge für den Arbeitnehmer abgeführt, so decke das Insolvenzgeld auch dieses Risiko ab.

Der Einspruch blieb ohne Erfolg. Zur Begründung führte der Beklagte in der Einspruchsentscheidung vom 14. März 2002 aus, die Vorschrift des § 32b Abs. 2 Nr. 1 EStG lasse eine Minderung der Summe der bezogenen Leistungen nur in Höhe des Arbeitnehmer-Pauschbetrags zu, und auch dies nur insoweit, als der Pauschbetrag nicht bereits bei der Ermittlung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit abgezogen worden sei. Da jedoch im Streitfall bei der Ermittlung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit der Arbeitnehmer-Pauschbetrag bereits berücksichtigt worden sei, hätten die Lohnersatzleistungen ungekürzt bei der Berechnung des besonderen Steuersatzes berücksichtigt werden müssen.

Der Kläger beantragt,

den Einkommensteuerbescheid für 1999 in der Form des Änderungsbescheids vom 9.11.2006 dahin ändern, dass die Bemessungsgrundlage für die Anwendung des Progressionsvorbehalts um 6.640 DM gekürzt wird.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist unbegründet. Der Gesetzeswortlaut des § 32b EStG lässt es nicht zu, die im Rahmen des Progressionsvorbehalts zu berücksichtigenden Lohnersatzleistungen um abzuführende Sozialversicherungsbeiträge zu kürzen.

1. Hat ein zeitweise oder während des gesamten Veranlagungszeitraums unbeschränkt Steuerpflichtiger Insolvenzgeld bezogen, so ist auf das nach § 32a Abs. 1 EStG zu versteuernde Einkommen ein besonderer Steuersatz anzuwenden (§ 32b Abs. 1 Nr. 1 a EStG). Der danach anzuwendende besondere Steuersatz berechnet sich gemäß Abs. 2 Nr. 1 der Vorschrift in der Weise, dass das zu versteuernde Einkommen (§ 32a Abs. 1 EStG) zu vermehren ist um "die Summe der Leistungen nach Abzug des Arbeitnehmer-Pauschbetrags (§ 9a Satz 1 Nr. 1 EStG), soweit er nicht bei der Ermittlung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit abziehbar ist".

2. Danach ist grundsätzlich von der Summe der bezogenen Leistungen auszugehen, die nur insoweit noch um den Arbeitnehmer-Pauschbetrag zu kürzen ist, als der Pauschbetrag nicht bereits bei der Ermittlung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit abziehbar ist. Für eine Kürzung der Lohnersatzleistungen etwa um gezahlte Sozialversicherungsbeiträge fehlt es deshalb an einer gesetzlichen Grundlage. Diese Auslegung entspricht auch der Systematik des EStG, weil andernfalls die Sozialversicherungsabgaben nochmals berücksichtigt würden, obwohl sie das zu versteuernde Einkommen bereits im Rahmen der Sonderausgaben nach § 10 EStG bereits gemindert haben (Schmidt/Heinicke, EStG, 25. Aufl., § 32b Anm. 45; Niedersächsisches FG, Urteil vom 17. Mai 2005 16 K 20150/03, EFG 2005, 1670, FG Berlin, Urteil vom 16. Februar 1995 I 157/94, EFG 1995, 674).

Zumindest seit der Änderung der Gesetzesfassung des § 32 b EStG durch das Jahressteuergesetz 1996 vom 11. Oktober 1995 (BGBl. II 1995, 1250) mit Wirkung ab dem Veranlagungszeitraum 1996 ist es auch nicht möglich, durch eine am Normzweck orientierte einschränkende Gesetzesauslegung abzuführende Sozialversicherungsbeiträge aus dem beim Progressionsvorbehalt anzusetzen Insolvenzgeld auszugrenzen. Denn die insoweit erforderliche Regelungslücke ist nach den überzeugenden Ausführungen des FG Niedersachsen im Urteil vom 17. Mai 2005 16 K 20150/03 (EFG 2005, 1670) nicht feststellbar. Diesen Erwägungen schließt sich der erkennende Senat an. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Ausdruck "bezogen" in § 32b Abs. 1 EStG. Denn diesem Tatbestandsmerkmal kommt im Rahmen der Vorschrift lediglich die Aufgabe zu, Einnahmen einem bestimmten Steuersubjekt einerseits und einem bestimmten Veranlagungszeitraum andererseits zuzuordnen (BFH-Urteil vom 17. Juni 2005 VI R 109/00, BFHE 210, 288, BStBl II 2006, 17 m.w.N.).

3. Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das sich danach ergebende Ergebnis greifen nicht durch.

a) Der VI. Senat des BFH hat keine Bedenken, Lohnersatzleistungen in voller Höhe beim Progressionsvorbehalt zu berücksichtigen (BFH-Beschluss vom 29. Juli 2005 VI B 199/04, BFH/NV 2005, 2002). Denn das BVerfG hat bereits entschieden, dass der Progressionsvorbehalt bei Lohnersatzleistungen (§ 32b Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 EStG a.F.; jetzt § 32 Abs. 1 Nr. 1a, Abs. 2 i.V. mit § 32a Abs. 1 EStG) verfassungsgemäß ist, weil der Gesetzgeber nicht gehindert ist, Einkommenssurrogate in die Besteuerung oder auch nur in den Tarif einzubeziehen, die eine erhöhte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ausdrücken (vgl. Nachweise bei BFH-Beschluss vom 29. Juli 2005 VI B 199/04, BFH/NV 2005, 2002).

b) Es stellt sich allenfalls die Frage, ob die Begrenzung des Abzugs von Vorsorgeaufwendungen, die sich aus der Höchstbetragsregelung nach § 10 Abs. 3 EStG ergibt, und damit die nur beschränkte Berücksichtigung der Sozialabgaben des Klägers im Rahmen der Sonderausgaben verfassungsgemäß ist. Der XI. Senat bejaht die Verfassungsmäßigkeit des beschränkten Abzugs von Vorsorgeaufwendungen gemäß § 10 Abs. 3 EStG (BFH Beschluss vom 1. Dezember 2005 XI B 120/04, BFH/NV 2006, 929 unter Hinweis auf BFH-Urteile vom 16. Oktober 2002 XI R 41/99, BFHE 200, 529, BStBl II 2003, 179; vom 11. Dezember 2002 XI R 17/00, BFHE 201, 437, BStBl II 2003, 650; vom 22. Juli 2003 XI R 23/01, BFH/NV 2003, 1569; Beschlüsse vom 11. Juli 2003 XI B 68/01, BFH/NV 2003, 1567; vom 24. Juli 2003 XI B 51/01, BFH/NV 2003, 1573; vom 30. März 2004 XI B 209/03, BFH/NV 2004, 1102).

Eine weitere Aussetzung des Verfahrens ist auch nicht deshalb gerechtfertigt, weil der X. Senat in seinem Vorlagebeschluss an das BVerfG Zweifel hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des beschränkten Sonderausgabenabzugs von Krankenversicherungsbeiträgen erhoben hat (BFH-Beschluss vom 14. Dezember 2005 X R 20/04, BFHE 211, 351, BStBl II 2006, 312; anhängiges Verfahren beim BVerfG: 2 BvL 1/06) und außerdem beim BVerfG gegen das BFH-Urteil in BFHE 200, 529, BStBl II 2003, 179 die Verfassungsbeschwerde 2 BvR 274/03 und gegen das BFH-Urteil in BFHE 201, 437, BStBl II 2003, 650 die Verfassungsbeschwerde 2 BvR 912/03 anhängig sind. Denn der Änderungsbescheid vom 9. November 2006, der gemäß § 68 FGO zum Gegenstand des anhängigen Verfahrens wurde, ist gemäß § 165 Abs. 1 AO 1977 vorläufig hinsichtlich der beschränkten Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen, sodass es für den Kläger auch dann kein Rechtsverlust zu besorgen ist, wenn das BVerfG in seinem Sinne entscheidet.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

5. Die Revision war zuzulassen, weil spätestens seit der Entscheidung des BVerfG vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 2005, 164, DStR 2005, 911, BFH/NV 2005 <Beilage>, 260) zum Begriff der Einkünfte und Bezüge nicht klar ist, inwieweit verfassungsrechtliche Vorgaben bei der Auslegung eine Orientierung am nicht immer systematischen Wortlaut des EStG verbieten.



Ende der Entscheidung

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