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Gericht: Finanzgericht Köln
Beschluss verkündet am 29.03.2007
Aktenzeichen: 10 K 274/07
Rechtsgebiete: EStG, GG, FGO


Vorschriften:

EStG § 9 Abs. 2 S. 1
EStG § 9 Abs. 2 S. 2
GG Art. 6 Abs. 1
GG Art. 100 Abs. 1
FGO § 74
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Köln

10 K 274/07

Tenor:

Das Verfahren wird ausgesetzt.

Gründe:

I. Der Kläger begehrt, im Wege der Lohnsteuerermäßigung die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte als Werbungskosten zu berücksichtigen. Er ist Physiker und bezieht einen Arbeitslohn von über 70.000 EUR jährlich. Der Kläger hatte für 2007 beantragt, auf der Lohnsteuerkarte einen Freibetrag von 5.520 EUR einzutragen (230 Tage x 80 km x 0,30 EUR). Der Beklagte hatte diesen Antrag mit dem sich aus der Einspruchsentscheidung vom 11. Januar 2007 ergebenden Gründen abgelehnt und den Freibetrag nur hinsichtlich der Kosten für die Entfernung ab dem 21. Kilometer berechnet.

Der Kläger macht geltend, die gesetzliche Regelung in § 9 Abs. 2 EStG sei verfassungswidrig. Sie verstoße gegen das sog. Nettoprinzip, wonach nur dasjenige der Besteuerung zu unterwerfen sei, was nach Abzug der Erwerbsaufwendungen von den Einnahmen zur freien Verfügung übrig bleibe. Dies gebiete auch der Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und der gemäß Art. 6 Absatz 1 GG gebotene Schutz der Familie. Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte gehörten zu den notwendigen Erwerbsaufwendungen. Sie seien deshalb bereits ab dem ersten Kilometer beruflich veranlasst.

Der Kläger beantragt,

das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG auszusetzen und dem BVerfG vorzulegen,

hilfsweise

das Verfahren bis zu einer Entscheidung des BVerfG über den Vorlagebeschluss des FG Niedersachsen 8 K 549/06 vom 27. Februar 2007 auszusetzen,

äußerst hilfsweise

den Beklagten unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 11. Januar 2007 zu verurteilen, auf der Lohnsteuerkarte für 2007 eine Lohnsteuerermäßigung aufgrund von Werbungskosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte in Höhe von 5.520 EUR abzüglich des Pauschbetrags gemäß § 9a Satz 1 Nr. 1a EStG in Höhe von 920 EUR einzutragen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

II. Das Verfahren war nicht bereits gemäß Art. 100 Abs. 1 GG auszusetzen. Die Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG i.d.F. des StÄndG 2007 verstößt nicht gegen das Grundgesetz.

1. Der auf der Lohnsteuerkarte des Klägers eingetragene Freibetrag entspricht dem Gesetz und ist nicht zu beanstanden. Durch das Steueränderungsgesetz 2007 vom 19. Juli 2006 (BGBl I 2006, 1652; BStBl I 2006, 432) wurde hinsichtlich der Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte eine Systemänderung vorgenommen. Die bisherige Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG (a.F.), wonach Werbungskosten auch Aufwendungen des Arbeitnehmers für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte sind, wurde aufgehoben. In § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG (i.d.F. des StÄndG 2007) heißt es nunmehr: "Keine Werbungskosten sind die Aufwendungen des Arbeitnehmers für die Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte und für Familienheimfahrten."

2. Die von der Neuregelung vorgenommene Zuordnung der Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zur Privatsphäre ist entgegen der Ansicht des Klägers mit dem Grundgesetz vereinbar; der beschließende Senat folgt insoweit nicht der entgegenstehenden Ansicht des FG Niedersachsen in seinem Vorlagebeschluss vom 27. Februar 2007 8 K 549/06.

a) Die Neuregelung verstößt nicht gegen das objektive Nettoprinzip.

aa) Auch wenn die strikte Geltung des objektiven Nettoprinzips für das Einkommensteuerrecht vom BVerfG bisher offen gelassen wurde (Beschluss vom 4. Dezember 2002 2 BvR 400/98 und 1735/00, BStBl II 2003, 534, 540, m.w.N.), besteht nach Ansicht des beschließenden Senats Konsens in der Steuerrechtswissenschaft dahin, dass das verfassungsrechtliche Gebot der Lastengleichheit (objektives Nettoprinzip) prinzipiell dazu zwingt, die finanzielle Leistungsfähigkeit des Einzelnen nach dem Saldo aus den Erwerbseinnahmen einerseits und den Erwerbsaufwendungen andererseits zu bemessen und dementsprechend für die Ertragsbesteuerung an die einkommensteuerlichen Reineinkünfte bzw. das körperschaftsteuerliche Reineinkommen anzuknüpfen (BFH-Urteile vom 11. Mai 2005 VI R 16/04, BFHE 209, 518, BStBl II 2005, 789, vom 18. August 2005 VI R 32/03, BFHE 210, 420, BStBl II 2006, 30, vom 1. März 2005 VIII R 92/03, BFHE 209, 285, BStBl II 2005, 398 unter Bezugnahme auf BVerfG-Beschluss vom 4. Dezember 2002 2 BvR 400/98 und 1735/00, BVerfGE 107, 27, 47, BStBl II 2003, 534, 540; vgl. ferner BVerfG-Beschluss vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00, BVerfGE 2005, 412, BFH/NV Beilage 2005, 33 und BFH-Urteil vom 6 Juli 2005 XI R 61/04, BFHE 210, 332, BStBl II 2006, 163). Zwar darf der Gesetzgeber das objektive Nettoprinzip beim Vorliegen gewichtiger Gründe durchbrechen und sich generalisierender, typisierender und pauschalierender Regelungen bedienen, die auch die Nichtabziehbarkeit einzelner erwerbsichernder Aufwendungen zur Folge haben können. Eine solche Ausnahme von der mit dem objektiven Nettoprinzip getroffenen Belastungsentscheidung bedarf aber unter dem Gesichtspunkt der Folgerichtigkeit eines besonderen, sachlich rechtfertigenden Grundes (BVerfG-Beschluss vom 04.12.2002 - 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, 2 BvR 1735/00, 2 BvR 400/98 in BVerfGE 107, 27, 48, BStBl II 2003, 534, BFH/NV Beilage 2003, 174 - doppelte Haushaltsführung; fernerBFH-Urteil vom 23. März 2005 III R 17/03, BFH/NV 2005, 1537: Bejahung gewichtiger Gründe zur Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips bei der Beschränkung von Arbeitszimmer-Aufwendungen).

bb) Im Streitfall ist das objektive Nettoprinzip allerdings nicht tangiert, weil es sich bei den Aufwendungen des Klägers für die Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte nicht um originäre Werbungskosten handelt.

aaa) Eine abweichende Beurteilung hätte sich allenfalls vor der Neuregelung wegen der bis dahin traditionellen Entscheidung des deutschen Einkommensteuerrechts ergeben können, die steuerrechtlich erhebliche Berufssphäre nicht erst "am Werkstor" beginnen zu lassen (BVerfG-Beschluss vom 4. Dezember 2002 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, 2 BvR 1735/00, 2 BvR 400/98, BVerfGE 107, 27, 48, BStBl II 2003, 534, BFH/NV Beilage 2003, 174: doppelte Haushaltsführung; BFH-Urteil vom 23. März 2005 III R 17/03, BFH/NV 2005, 1537: Arbeitszimmer-Entscheidung). Genau dies hat sich aber mit der Neuregelung geändert. In der Gesetzesbegründung heißt es: "Satz 1 (des § 9 Abs. 2) sieht vor, dass die Aufwendungen für die Wege zwischen Wohnung und Betriebsstätte/Arbeitsstätte grundsätzlich nicht mehr als Erwerbsaufwendungen abgezogen werden dürfen. Die Arbeitssphäre beginnt nach dieser gesetzgeberischen Grundentscheidung am Werkstor; die Aufwendungen für die Wege zwischen Wohnung und Betriebsstätte/Arbeitsstätte werden der Privatsphäre zugerechnet. ..." (BT-Drs. 16/1545).

bbb) Das Gericht folgte nicht der entgegenstehenden Ansicht des FG Niedersachsen in seinem Vorlagebeschluss vom 27. Februar 2007 8 K 549/06, nach dem es sich bei den Aufwendungen des Arbeitnehmers für die Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte um originäre Werbungskosten handelt. Denn diese Aufwendungen wurden bisher lediglich durch das Einkommensteuergesetz den Werbungskosten gleichgestellt, "obwohl solche Aufwendungen wegen der privaten Wahl des Wohnorts zwangsläufig auch privat mitveranlasst sind" (BVerfG-Beschluss vom 4. Dezember 2002 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, 2 BvR 1735/00, 2 BvR 400/98, BVerfGE 107, 27, 50, BStBl II 2003, 534, BFH/NV Beilage 2003, 174; zuvor bereits RFH-Urteil vom 17. Januar 1923 III A 421/22, zitiert nach Kirchhof, DStR 2003, Beihefter 5, S. 4 Fn. 36, nach dem die Anerkennung der Fahrtauslagen als Werbungskosten als Ausnahme von dem Grundsatz der Nichtabziehbarkeit solcher Ausgaben erfolgt, die keinen spezifischen Berufsaufwand darstellen).

Das FG Niedersachsen argumentiert in seinem Vorlagebeschluss insoweit lediglich mit traditionellen Erwägungen, die allerdings keiner Ewigkeitsgarantie unterliegen. Der Vorlagebeschluss berücksichtigt nicht hinreichend, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung einfachgesetzlichen Rechts im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit auch die Befugnis hat, eine einfachgesetzliche "Tradition" zu ändern (vgl. Antwort der Bundesregierung in Bundestags-Drucksache 16/1802, S. 2), zumal die bisherige steuerliche Anerkennung der Fahrtkosten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte als Ausnahme vom Abzugsverbot des § 12 Abs. 1 Nr. 2 EStG und damit als Steuervergünstigung (Subvention) zu werten war (ebenso FG Baden-Württemberg, Urteil vom 7. März 2007 13 K 283/06, zur Veröffentlichung bestimmt). Es gibt keine Grundlage dafür, den Umfang der nach dem objektiven Nettoprinzip zu berücksichtigenden erwerbsnotwendigen Aufwendungen nach historischen Erwägungen zu bestimmen. Die Frage der Notwendigkeit von Aufwendungen zur Erzielung der Einkünfte ist vielmehr rein objektiv zu bestimmen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der Wohnsitz die ureigene private Entscheidung eines jeden Steuerpflichtigen ist, ist die Entscheidung des Gesetzgebers, die Arbeitssphäre erst am "Werkstor" beginnen zu lassen, nach Auffassung des beschließenden Senats nicht sachwidrig.

ccc) Nach Ansicht des beschließenden Senats ist auch das Gebot der Folgerichtigkeit bei der Umsetzung der Entscheidung des Gesetzgebers nicht dadurch verletzt, dass nach § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG in der ab 2007 geltenden Fassung trotz des Werkstor-Prinzips Fahrtkosten ab einer bestimmten Entfernung aus Billigkeitsgründen wie Werbungskosten zum Abzug zugelassen werden. Mit dieser Steuervergünstigung wird der Umstand überdurchschnittlicher Entfernung - über 20 km - bei sog. Fernpendlern durch eine "Härteregelung" subventioniert. Aus dem Wort "wie" ist ersichtlich, dass es sich hierbei nicht um Werbungskosten handelt, sondern um eine Subvention, die veranlagungstechnisch "wie Werbungskosten" zu behandeln ist (vgl. Bundestags-Drucksache 16/1545, S. 13), sodass die Entscheidung des Gesetzgebers im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit bleibt.

b) Angesichts der bereits erwähnten Billigkeitsregelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG in der ab 2007 geltenden Fassung hält der Senat die Neuregelung entgegen dem FG Niedersachsen in seinem Vorlagebeschluss auch für vereinbar mit Art. 6 Abs. 1 GG. Denn durch diese Regelung werden Härten abgemildert, die sich ergeben können, wenn Ehegatten an unterschiedlichen Orten ihren Arbeitsplatz haben und ein Umzug zum Ort der Arbeitsstätte dadurch erschwert oder sogar ausgeschlossen wird.

III. Gleichwohl war das Verfahren vor dem Hintergrund des Vorlagebeschlusses des FG Niedersachsen vom 27. Februar 2007 8 K 549/06 gemäß § 74 FGO bis zu einer abschließenden Entscheidung des BVerfG über die streitige Regelung auszusetzen.

Ende der Entscheidung

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