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Gericht: Finanzgericht Köln
Urteil verkündet am 25.09.2008
Aktenzeichen: 10 K 4830/05
Rechtsgebiete: FGO, EStG, VO 1408/71/EWG


Vorschriften:

FGO § 100 Abs. 1 S. 1
EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1
EStG § 63
EStG § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
VO 1408/71/EWG
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Köln

10 K 4830/05

Tenor:

Der Aufhebungsbescheid vom 18.10.2005 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 10.11.2005 werden aufgehoben.

Die Kosten des Verfahrens werden der Beklagten auferlegt.

Die Revision wird zugelassen.

Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin Kindergeld für ihre Kinder D (geb. 12. April 1983) und U (geb. 19. Oktober 1985) zusteht.

Die Klägerin ist belgische Staatsangehörige und wohnt seit vielen Jahren in Deutschland. Sie ist alleinerziehendende Mutter. Ihre Kinder D und U leben in ihrem Haushalt in Deutschland. Sie studieren derzeit in Deutschland. Die eigenen Einkünfte und Bezüge der Kinder liegen unterhalb der Schädlichkeitsgrenze.

Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Klägerin bei diesem Sachverhalt grundsätzlich Anspruch auf deutsches Kindergeld hat. Die Beklagte gewährte der Klägerin deshalb zunächst Kindergeld für die beiden Kinder.

Am 1. September 2005 nahm die Klägerin eine nichtselbständige Beschäftigung in den Niederlanden auf.

Die Beklagte hob daraufhin mit Verfügung vom 18. Oktober 2005 die Festsetzung des Kindergeldes für die Kinder ab Oktober 2005 auf.

Den hiergegen eingelegten Einspruch wies die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 10. November 2005 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus:

Die Klägerin erfülle zwar die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von deutschem Kindergeld. Dieser Anspruch sei jedoch durch Artikel 10 der Durchführungsverordnung (EWG) 574/72 ausgeschlossen. Nach den gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen unterliege die Klägerin als Arbeitnehmerin nur noch den Vorschriften im Beschäftigungsstaat, d.h. im Streitfall den Niederlanden. Dass dieser Staat für Kinder ab Vollendung des 18. Lebensjahres kein Kindergeld mehr zahle, sei unerheblich.

Mit der Klage trägt die Klägerin vor:

Mit der Ablehnung von Kindergeldleistungen werde eindeutig gegen die Grundfreiheit auf Freizügigkeit verstoßen, da ihr eine entsprechende soziale Familienleistung verweigert werde.

Die Klägerin beantragt,

den Aufhebungsbescheid der Beklagten vom 18. Oktober 2005 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 10. November 2005 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen;

hilfsweise,

die Revision zuzulassen.

Der Senat hat mit Beschluss vom 10. August 2006 das Verfahren ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof verschiedene Fragen vorgelegt.

Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 20. Mai 2008 Rechtssache C-352/06 die Vorlagenfragen im Wesentlichen dahingehend beantwortet, dass Artikel 13 Abs. 1 Buchstabe a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juli 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EWG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung, diese wiederum geändert durch die Verordnung (EWG) Nr. 647/205 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005, dem nicht entgegensteht, dass ein Wanderarbeitnehmer, der dem System der sozialen Sicherheit des Beschäftigungsmitgliedsstaats unterliegt, nach den nationalen Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedsstaats Familienleistungen im letztgenannten Staat zieht.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet.

Der angefochtene Aufhebungsbescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin deshalb in ihren Rechten, vgl. § 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -.

Der Klägerin steht auch für die Zeit ab Oktober 2005 deutsches Kindergeld zu.

Nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes - EStG - hat für Kinder im Sinne des § 63 EStG Anspruch auf Kindergeld, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dass die Klägerin diese Voraussetzungen erfüllt, ist nicht streitig.

Dieser grundsätzlich gegebene Kindergeldanspruch wird nicht durch § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen.

Nach dieser Vorschrift wird Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt, für das im Ausland Leistungen gewährt werden, die dem Kindergeld oder einer der unter Nr. 1 des § 65 Abs. 1 Satz 1 genannten Leistungen vergleichbar sind. Die Klägerin hat in den Niederlanden aufgrund des Alters der Kinder keinen Anspruch auf Kindergeld oder vergleichbare Sozialleistungen, was zwischen den Beteiligten ebenfalls unstreitig ist und auch der Feststellung des Bundesministeriums der Finanzen (siehe Erlass vom 12. Februar 2002, Bundessteuerblatt - BStBl - I 2002, 241; vgl. auch Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 24. Januar 2008 1 K 83/07, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 2008, 1570) entspricht.

Der damit nach deutschem Recht bestehende Kindergeldanspruch der Klägerin wird nicht durch gemeinschaftsrechtliche Vorschriften ausgeschlossen.

Hierzu hat der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 20. Mai 2008 C 352/06 (Rdnr. 28) entschieden, dass das Gemeinschaftsrecht und insbesondere die Verordnung (EWG) 1408/71 Deutschland nicht hindert, Kindergeld auch den Personen zu gewähren, die grundsätzlich in den Anwendungsbereich dieser Vorschrift fallen. Damit steht eindeutig fest, dass Gemeinschaftsrecht der Gewährung von Kindergeld an die Klägerin nicht entgegensteht. Da es im nationalen Recht keinen Ausflusstatbestand gibt, steht der Klägerin Kindergeld auch für den Zeitraum zu, in dem sie in den Niederlanden arbeitet und dort wegen des Alters der Kinder keinen Anspruch auf Kindergeld mehr hat.

Dieses Ergebnis steht im Einklang mit dem Zweck der Verordnung (EWG) 1408/71, den das Bundesverfassungsgericht dahingehend bestimmt, dass mit dieser Verordnung eine Kumulierung anwendbarer Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedsstaaten mit den sich daraus ergebenden Schwierigkeiten vermieden werden soll (Beschluss vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00, BVerfGE 110/412, BFH/NV 2005, Beilage 1, Seite 33). Es soll eine Doppelbegünstigung verhindert werden und sichergestellt werden, dass kindbezogene vergleichbare Leistungen nur einmal gewährt werden. Im Streitfall besteht eine derartige Konkurrenzsituation zwischen unterschiedlichen Sozialleistungen nicht mehr. Damit besteht auch keine Gefahr einer Doppel- oder Meistbegünstigung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 151 FGO, 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

Der Senat lässt gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zu.

Ende der Entscheidung

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