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Gericht: Finanzgericht Köln
Urteil verkündet am 15.05.2008
Aktenzeichen: 3 K 1428/05
Rechtsgebiete: EStG, VO Nr. 574/72/EWG, VO Nr. 1408/71/EWG, EGV
Vorschriften:
EStG § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 | |
EStG § 63 Abs. 1 S. 2 | |
VO Nr. 574/72/EWG Art. 10 | |
VO Nr. 1408/71/EWG Art. 13 Abs. 2 a) | |
VO Nr. 1408/71/EWG Art. 73 | |
EGV Art. 42 |
Finanzgericht Köln
Tenor:
1. Der Aufhebungsbescheid vom ........2005 und die Einspruchsentscheidung vom ......2005 werden insoweit aufgehoben, als die Beklagte der Klägerin die Gewährung von Kindergeld für die Tochter ........, geboren am .........1982, für die Monate Januar bis März 2005 versagt hat.
2. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
3. Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruches der Klägerin abwenden, soweit die Klägerin nicht zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
4. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten stritten ursprünglich um die Gewährung von Kindergeld ab Dezember 2004; streitentscheidend ist u.a. die Frage nach der Anspruchskonkurrenz zwischen Wohnsitz- und Beschäftigungsstaat.
Die Klägerin ist von Beruf Hebamme. Sie ist die Mutter des am ......1982 geborenen Kindes ...........; der Kindesvater ist verstorben. Für die Tochter war vom Beklagten Kindergeld festgesetzt worden.
I.
Der zu diesem Zeitpunkt 21jährigen Tochter ........ wurde durch Bewilligungsbescheid vom .......2003 eine Halbwaisenrente bewilligt.
Nach einer Schulausbildung begann die Tochter, die zu diesem Zeitpunkt das 22. Lebensjahr vollendet hatte, am .......2004 ein freiwilliges soziales Jahr beim ................ ......... . Diese Beschäftigung endete am ......2005. Seit dem ........2005 war die Tochter bei der ............-Behindertenwerk GmbH als Praktikantin tätig.
Die Klägerin selbst erzielte zunächst Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit im Inland; sie war seit 1996 als Heilpädagogin bei dem .............. e.V. in Heinsberg tätig.
Der Klägerin wurde dann unter dem .......2004 die Berechtigung erteilt, eine Tätigkeit als Hebamme auszuüben.
Ab Januar 2005 war die Klägerin freiberuflich als Hebamme in Deutschland - im Kreis ....... - tätig und erzielte insoweit Einkünfte aus selbständiger Arbeit. Die Klägerin begann darüber hinaus im Sommer 2005 mit einer freiberuflichen Tätigkeit als Dozentin in einer Hebammenpraxis in ............
Bereits am ........2004 hatte die Klägerin zudem eine nichtselbständige Erwerbstätigkeit in Belgien begonnen; die Klägerin schloss entsprechende Arbeitsverträge mit einem Hospital (Krankenhaus) in .......... ab. Die Arbeitsverträge waren zunächst befristet, da die Klägerin als Schwangerschaftsvertretung eingesetzt wurde. Die Klägerin arbeitete ab dem ......2005 auf 75% und ab dem .......2005 auf 50% einer vollen Stelle.
Ab dem ........2006 schloss die Klägerin mit dem Hospital einen unbefristeten Vertrag auf der Basis einer halben Stelle.
II.
Mit Bescheid vom .......2004 hatte die Beklagte - rückwirkend ab September 2003 - der Klägerin Kindergeld für die Tochter ........ bewilligt.
Am ........2004 teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass sie - wie dargelegt - am ......2004 eine Erwerbstätigkeit in Belgien beginnen werde.
Hierauf setzte sich die Beklagte mit der belgischen Familienkasse zur Abklärung der weiteren Zahlung von Kindergeld in Verbindung. Mit Schreiben vom 13.01.2005 teilte die belgische "Familienzulagenkasse" (Familienkasse) mit, dass in Belgien kein Anspruch auf Kindergeld bestehe, weil das seitens der Tochter absolvierte soziale Jahr nicht unter den Begriff der für die Gewährung von Kindergeld erforderlichen "Ausbildung" falle.
Gleichwohl hob die Beklagte mit Bescheid vom ......2005 die Festsetzung des Kindergeldes mit der Begründung auf, durch die Aufnahme der Erwerbstätigkeit in Belgien hätten sich die Anspruchsvoraussetzungen geändert. Nach den einschlägigen europarechtlichen Regelungen unterliege die Gewährung von Kindergeld an eine abhängig beschäftigte Person den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie beschäftigt sei (Beschäftigungsstaat), unabhängig vom Wohnsitz (Wohnsitzstaat). Dies treffe auch dann zu, wenn im Beschäftigungsstaat durch die dortigen Rechtsvorschriften kein Kindergeld gezahlt werde.
Gegen den Bescheid vom .......2005 legte die Klägerin mit Schriftsatz vom .......2005 - bei der Beklagten eingegangen am .......2005 - Einspruch ein.
Mit ihrem Rechtsbehelf bat die Klägerin, ihr weiterhin Kindergeld zu gewähren, da ihr die einschlägigen europarechtlichen Vorschriften unbekannt seien. Auch wies die Klägerin darauf hin, dass ihr die Arbeitsaufnahme in Belgien nicht zum Nachteil gereichen dürfe, da sie dem Arbeitsamt "Arbeitslosengeld" erspare. Darüber hinaus argumentierte die Klägerin, es wäre wohl in jedem Fall eine Zahlung von Kindergeld erfolgt, wenn der Kindesvater noch gelebt hätte.
Mit Einspruchsentscheidung vom .......2005 wies die Beklagte den Einspruch der Klägerin als unbegründet zurück.
Die Beklagte rechtfertigte ihre Entscheidung im wesentlichen mit dem Hinweis, dass wegen der Arbeitsaufnahme in Belgien ein Anspruch auf Zahlung von Kindergeld in Deutschland nicht mehr bestehe. Zwar seien die Voraussetzungen des einschlägigen § 62 Abs. 1 EStG erfüllt. Aus der ebenfalls anzuwenden Regelung des Art. 13 Abs. 2 a) der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur "Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern" ergebe sich jedoch, dass die Klägerin den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaates Belgien unterliege. Dies gelte auch dann, wenn sie weiterhin in der Bundesrepublik Deutschland wohne. Die Zuständigkeit des anderen Mitgliedstaats habe zur Folge, dass die Klägerin insgesamt auf die Vorschriften des dortigen Rechts zu verweisen sei, und zwar unabhängig davon, ob und in welcher Höhe dort im konkreten Einzelfall eine Kindergeldzahlung vorgesehen sei. Auch die Zahlung von Aufstockungsbeträgen zwischen einem eventuell niedrigeren ausländischen Kindergeld und dem deutschen Kindergeld komme nicht in Betracht, da das deutsche Recht grundsätzlich nicht anwendbar sei.
III.
Gegen den Ablehnungsbescheid vom .....2005 und die Einspruchsentscheidung vom ......2005 hat die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten am ......2005 Klage erhoben.
Die Klägerin vertritt nach wie vor den Standpunkt, dass ihr in der Bundesrepublik Deutschland als dem Wohnsitzstaat ein Anspruch auf Kindergeldzahlung zustehe.
Die Klägerin begründet ihr Begehren mit dem Hinweis auf Art. 76 der zitierten Verordnung. Danach bestehe ein Anspruch auf Gewährung des Höchstsatzes der Familienleistungen, der nach den Gesetzen eines der beiden Staaten vorgesehen sei, die für die Leistungen zuständig seien. Da in Belgien für die Ableistung des sozialen Jahres kein Kindergeld gezahlt werde, jedoch für den gleichen Vorfall in Deutschland eine Leistung erfolgen würde, habe sie - die Klägerin - Anspruch auf Zahlung des Betrages auch nach Dezember 2004. Sie - die Klägerin - müsse so gestellt werden, als sei sie in Deutschland beschäftigt.
Das deutsche Recht finde entgegen der Auffassung der Beklagten Anwendung; es werde lediglich durch das Recht des Landes, in dem die Klägerin arbeite, "überlagert". Der Anspruch in Deutschland (Wohnsitzstaat) sei lediglich ausgesetzt, solange ein Anspruchsteller in dem anderen Land (Beschäftigungsstaat) entsprechende Leistungen erhalte. Die Klägerin als Anspruchstellerin dürfe nicht schlechter gestellt werden, wenn sie in einem europäischen Nachbarland arbeite.
Seit dem .....2005 sei die Tochter als Praktikantin entgeltlich tätig. Die belgische Familienkasse habe mitgeteilt, dass sie im Hinblick auf diese Tätigkeit ihre Zuständigkeit dem Grunde für gegeben halte, jedoch kein Kindergeld gewähre, da der dort geltende Grenzbetrag der eigenen Einkünfte der Tochter überschritten worden sei.
Die Klägerin beantragt,
den Aufhebungsbescheid vom .......2005 und die Einspruchsentscheidung vom .......2005 insoweit aufzuheben, als der Beklagte der Klägerin die Gewährung von Kindergeld für die Tochter ........, geboren am ......1982, für die Monate Januar bis März 2005 versagt hat.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.
Die Beklagte bezieht sich zunächst auf seine Begründung in der Einspruchsentscheidung vom .......2005.
Ergänzend trägt sie vor, die Entscheidung, welche nationalen Rechtsvorschriften auf eine Person anzuwenden seien, regele sich nach Art. 13 bis 17a der genannten Verordnung.
Nach Art. 13 Abs. 1 der Verordnung solle eine Person, die unter die Verordnung falle, für ein und denselben Zeitraum prinzipiell nur den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates unterliegen, um nicht mehrfach Leistungen gleicher Zweckbestimmung beziehen zu können. Sowohl Arbeitnehmer als auch Selbstständige unterlägen nach Art. 13 Abs. 2 a) und b) der Verordnung grundsätzlich den Rechtsvorschriften desjenigen Staates, in dem sie ihre Beschäftigung beziehungsweise selbständige Tätigkeit ausübten, unabhängig davon, ob sie einem anderen Staat wohnten.
Seien danach auf eine Person allein die Rechtsvorschriften eines anderen EU-Staates anzuwenden, bestimme sich der Anspruch auf Kindergeld ausschließlich nach dessen Rechtsvorschriften. Ein nach nationalem Recht bestehender Anspruch auf deutsches Kindergeld werde verdrängt. Dies gelte selbst dann, wenn in dem anderen Mitgliedstaat die Anspruchsvoraussetzungen entfallen seien. Ein Rechtsgrundsatz, wonach die Anwendung des überstaatlichen Rechts nicht zu einem Verlust eines allein nach innerstaatlichem Recht bestehenden Anspruchs führen dürfe, existiere nicht.
Für den Streitfall der Klägerin verweist die Beklagte zudem auf die Regelung in Art. 14c a) der Verordnung, wonach bei einem Zusammentreffen von abhängiger und selbständiger Tätigkeit in verschiedenen Staaten das Recht des Mitgliedsstaates maßgeblich sei, in welchem die abhängige Beschäftigung ausgeübt werde - dies sei im Streitfall Belgien.
In der mündlichen Verhandlung am 15.05.2008 ist das Verfahren wegen Kindergeld 2004 durch Beschluss abgetrennt worden; dieses Verfahren unter dem Aktenzeichen 3 K 1790/08 ruht bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens FG Köln 10 K 4830/05.
Des Weiteren haben die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung eine tatsächliche Verständigung darüber erzielt, dass die Grenzbeträge für Einkünfte und Bezüge des Kindes i.S.d. § 32 Abs. 4 Sätze 2 bis 10 Einkommensteuergesetz - EStG - in den Jahren 2004 und 2005 nicht überschritten sind.
Entscheidungsgründe:
I.
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Aufhebungsbescheid vom ........2005 und die Einspruchsentscheidung vom .........2005 sind - soweit der Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens betroffen ist - rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.
Die Bescheide sind deshalb nach § 100 Abs. 1 FGO aufzuheben.
1.
Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist - nachdem das Jahr 2004 durch Abtrennungsbeschluss vom 15.05.2008 Gegenstand eines eigenen Verfahrens geworden ist - die Gewährung von Kindergeld in den Monaten Januar bis März 2005.
Nach der höchstrichterlichen Finanzrechtsprechung, welcher der erkennende Senat folgt, ist die in der letzten Verwaltungsentscheidung getroffene Regelung über den Kindergeldanspruch bindend bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe des betreffenden Bescheids (vgl. BFH-Urteil vom 25. Juli 2001 VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88; BFH-Urteil vom 21.06.2007 - III R 94/06, BFH/NV 2007, 2066).
Die streitgegenständliche Einspruchsentscheidung ist im vorliegenden Fall am .......2005 erlassen worden.
2. Die den Kindergeldanspruch der Klägerin verneinenden Bescheide sind aufzuheben. Denn im Streitzeitraum lagen die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld nach nationalem Recht vor (nachfolgend a)); ein Anspruchsausschluss nach dem Recht der Europäischen Union scheidet dagegen aus (nachfolgend b)).
a) Nach § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG in der für das Streitjahr geltende Fassung wird ein Kind, welches das 18., aber noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat, unter anderem beim Kindergeldberechtigten berücksichtigt, wenn es für einen Beruf ausgebildet wird (Buchst. a), sich in einer Übergangszeit von höchstens vier Monaten zwischen zwei Ausbildungsabschnitten befindet (Buchst. b) oder eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen kann (Buchst. c) oder ein freiwilliges soziales Jahr leistet (Buchst. d) und wenn es Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als 7.680 EUR im Kalenderjahr hat (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG). Für jeden Kalendermonat, in dem die Voraussetzungen nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG an keinem Tag vorliegen, ermäßigt sich der Grenzbetrag um 1/12 (§ 32 Abs. 4 Satz 7 EStG). Einkünfte und Bezüge des Kindes, die auf diese Kalendermonate entfallen, bleiben außer Ansatz (§ 32 Abs. 4 Satz 8 EStG).
Dass die am .......1982 geborene Tochter der Klägerin im Streitjahr 2005 grundsätzlich einen Anspruch auf Kindergeld hatte, ist festgestellt und im übrigen zwischen den Beteiligten auch unstreitig.
Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG setzt unter anderem die Gewährung von Kinderfreibeträgen eine Berufsausbildung in Buchst. a der Vorschrift oder ein freiwilliges soziales Jahr in Buchst. d der Vorschrift voraus. Die Tochter hat bis zum .......2005 ein freiwilliges soziales Jahr und danach eine Berufsausbildung absolviert.
Das Nichtüberschreiten der schädlichen Einkünfte- bzw. Bezügegrenze haben die Beteiligten im Wege einer tatsächlichen Verständigung bekundet.
b) Trotz der besonderen Konstellation des Streitfalles, nämlich:
Wohnsitz der Klägerin in Deutschland ("Wohn-Mitgliedstaat"),
selbständige Tätigkeit der Klägerin im Inland und
nichtselbständige Tätigkeit in Belgien ("Beschäftigungs-Mitgliedstaat")
greift ein Anspruchsausschluss nicht ein. Denn die einschlägige europarechtliche Kollisionsregelung (nachfolgend (1)) erfährt eine Umkehr zugunsten der Zuständigkeit des Wohnmitgliedstaates (nachfolgend (2)); eine "Rückausnahme" (nachfolgend (3)) greift nicht ein.
Die nationale Ausschlussregelung nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ist im Hinblick auf die Vorrangigkeit der einschlägigen europarechtlichen Regelungen (hierzu grundsätzlich EuGH-Urteil vom 15. Juli 1964 - C-6/64, NJW 1964, 2371) nicht anzuwenden.
(1) Die Klägerin wohnte und arbeitete in verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Maßgeblich für die Konkurrenz der jeweiligen nationalen Ansprüche im Wohn- und im Beschäftigungsland (Kollisionsregelung) ist daher zunächst die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (aktualisierte Gesamtfassung in Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996, ABl. der EG Nr. L 28 vom 30. Januar 1997, S. 1, Anhang A Teil I, S. 4 - im Weiteren: VO-EWG 1408/71).
Diese Verordnung gilt für alle Leistungen, die auf Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit beruhen, insbesondere für Familienleistungen (Art. 4 Abs. 1 Buchstabe h der VO (EWG) 1408/71). Hierunter fällt auch das Kindergeld nach den nationalstaatlichen Bestimmungen.
Nach den einschlägigen Regelungen in Art. 13 Abs. 2 a) und Art. 73 VO-EWG 1408/71 sollen Familienleistungen grundsätzlich nur in einem Mitgliedsstaat gewährt werden, und zwar im Beschäftigungsstaat.
Die einschlägigen Regelungen lauten (Zusätze in eckigen Klammern hinzugefügt) auszugsweise:
Artikel 13 Allgemeine Regelung
(1)
Vorbehaltlich der Artikel 14c und 14f unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften diese sind, bestimmt sich nach diesem Titel.
(2)
Soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, gilt folgendes:
a)
Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist [Belgien], unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats [Deutschland] wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat; ...
Artikel 73 Arbeitnehmer oder Selbständige, deren Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Staat wohnen
Ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt [Belgien], hat, ... , für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats [Deutschland] wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates [Belgien], als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten.
Als Rechtsfolge hätte die Klägerin im Ergebnis im streitigen Zeitraum keinen Anspruch auf Kindergeld: Der Beschäftigungsstaat Belgien berücksichtigte im Streitjahr 2005 die Ableistung eines sozialen Jahres nicht als Begünstigungstatbestand.
(2) Das Beschäftigungsstaatsprinzip erfährt jedoch eine Ausnahme, die im Streitfall zugunsten der Klägerin eingreift.
(a) Einschlägig für den Streitfall ist Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 in ihrer durch die Verordnung (EWG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, diese wiederum geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 (ABl. L 117, S. 1 - im Weiteren: VO-EWG 574/72).
Die Vorschrift lautet auszugsweise (Zusätze in eckigen Klammern hinzugefügt):
Artikel 10 Vorschriften für das Zusammentreffen von Ansprüchen auf Familienleistungen oder -beihilfen für Arbeitnehmer und Selbständige
(1)
a)
Der Anspruch auf Familienleistungen oder -beihilfen, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats [Deutschland] geschuldet werden, nach denen der Erwerb des Anspruchs auf diese Leistungen oder Beihilfen nicht von einer Versicherung, Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit abhängig ist, ruht, wenn während desselben Zeitraums für dasselbe Familienmitglied Leistungen allein aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats [Belgien] oder nach Artikel 73, 74, 77 oder 78 der Verordnung geschuldet werden, bis zur Höhe dieser geschuldeten Leistungen.
b)
Wird jedoch
i)
in dem Fall, in dem Leistungen allein aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats [Belgien] oder nach Artikel 73 oder 74 der Verordnung geschuldet werden, von der Person, die Anspruch auf die Familienleistungen hat, oder von der Person, an die sie zu zahlen sind, in dem unter Buchstabe a) erstgenannten Mitgliedstaat [Deutschland] eine Berufstätigkeit ausgeübt, so ruht der Anspruch auf die allein aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats [Belgien] oder nach den genannten Artikeln geschuldeten Familienleistungen, und zwar bis zur Höhe der Familienleistungen, die in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats vorgesehen sind, in dessen Gebiet das Familienmitglied wohnhaft ist. Leistungen, die der Mitgliedstaat zahlt, in dessen Gebiet das Familienmitglied wohnhaft ist, gehen zu Lasten dieses Staates; ...
Die Vorschrift ist anwendbar, wenn das Risiko einer Kumulierung des Anspruchs aus Art. 73 VO-EWG 1408/71 und des Anspruchs auf Familienleistungen nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Wohnstaats besteht, der - wie das deutsche Kindergeld - nicht von einer Voraussetzung in Bezug auf die Erwerbstätigkeit abhängt.
Nach Art. 10 Abs. 1 a) VO-EWG 574/72 ruhen die Familienleistungen im Wohnstaat des Kindes, die - wie im Fall des deutschen Kindergeldes - unabhängig von Versicherungs- oder Beschäftigungsvoraussetzungen geschuldet werden, wenn Leistungen nach Artikel 73 VO-EWG 1408/71 geschuldet werden.
Art. 10 Abs. 1 b) i) VO-EWG 574/72 enthält demgegenüber eine Sonderregelung bei Tätigkeiten in zwei EU-Staaten (vgl. hierzu EuGH-Urteil vom 07.06.2005 - C-543/03, JZ 2006, 36): Übt die Person, die Anspruch auf die Familienleistungen hat, oder die Person, an die sie zu zahlen sind, im Wohnstaat des Kindes eine weitere Erwerbstätigkeit aus, so sieht die zitierte Bestimmung vor, dass die im Beschäftigungsstaat der nichtselbständigen Tätigkeit nach Art. 73 VO-EWG 1408/71 bestehenden Ansprüche auf diese Leistungen ruhen.
Dies bedeutet eine Umkehr des Vorrangs zugunsten der Zuständigkeit des Wohnmitgliedstaats.
Da die Klägerin im streitigen Zeitraum neben der Beschäftigung in Belgien eine selbständige Erwerbstätigkeit in Deutschland ausgeübt hat, greift nach Art. 10 Abs. 1 b) i) VO-EWG 574/72 die Zuständigkeit des Wohnsitzstaates, so dass der Klägerin ein Anspruch gegen den Beklagten auf Gewährung des beantragten Kindergeldes zusteht.
(b) "Rückausnahmen", die wiederum zur Anwendung des Beschäftigungsstaatsprinzips führen würden, greifen demgegenüber nicht ein.
(aa) So findet die Sonderregelung in Art. 14c der VO-EWG 1408/71 keine Anwendung.
Die Vorschrift lautet auszugsweise (Zusatz in eckigen Klammern hinzugefügt):
Artikel 14c
Sonderregelung für Personen, die im Gebiet verschiedener Mitgliedstaaten gleichzeitig abhängige Beschäftigung und eine selbständige Tätigkeit ausüben
Eine Person, die im Gebiet verschiedener Mitgliedstaaten gleichzeitig eine abhängige Beschäftigung und eine selbständige Tätigkeit ausübt, unterliegt:
a)
vorbehaltlich Buchstabe b) den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie eine abhängige Beschäftigung ausübt [Belgien], oder, falls sie eine solche Beschäftigung im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausübt, den nach Artikel 14 Nummer 2 oder Nummer 3 bestimmten Rechtsvorschriften; ...
Die Bestimmung in Art. 10 Abs. 1 b) i) VO-EWG 574/72 geht jedoch der vorstehenden Regelung vor.
Dieses Ergebnis folgt aus einer Auslegung der betreffenden Normen: Die VO-EWG 574/72 dient der Durchführung der VO-EWG 1408/71 und modifiziert daher deren Anwendung; dieses Verhältnis gilt dagegen nicht in umgekehrter Hinsicht. Zudem betrifft Art. 10 VO-EWG 574/72 einen Spezialfall, nämlich das Zusammentreffen von Familienleistungen verschiedener Mitgliedsstaaten, während Art. 14c der VO-EWG 1408/71 die allgemeinere Regelung enthält. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass Art. 10 VO-EWG 574/72 die jüngere Vorschrift ist.
Der Senat folgt insoweit den Ausführung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 07.06.2005 a.a.O.).
(bb) Auch der durch das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 08.06.2004 - 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412; BFH/NV 2005, Beilage 1, 33) ausgeschlossene Typus des "Teilkindergeldes" führt nicht zum Wiederaufleben des Beschäftigungsstaatsprinzips.
Das Bundesverfassungsgericht (a.a.O.) hat entschieden, dass eine Teilkindergeldregelung - d.h. die "Aufstockung" von Kindergeld - dann nicht vorgesehen ist, wenn ein Anspruch auf vergleichbare, aber geringere Leistungen an einem Beschäftigungsort im Ausland besteht. Der Teilkindergeldausschluss soll sicherstellen, dass kindbezogene vergleichbare Leistungen nur einmal gewährt werden.
Diese Konstellation liegt dem Streitfall jedoch nicht zugrunde. Vorliegend geht es vielmehr darum, dass aufgrund einer selbständigen Tätigkeit im Wohnsitzstaat eine - "vollständige" - Prioritätenumkehr zu Lasten dieses Staates erfolgt.
(cc) Schließlich würde eine Anwendung des Beschäftigungsstaatsprinzips mit der Konsequenz einer völligen Versagung von Kindergeld dem ersichtlichen Zweck der Regelungen in den VO-EWG 1408/71 und 574/72 widersprechen.
Denn in diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Bestimmungen der Verordnungen im Licht des Art. 42 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (vom 24.03.1957, zuletzt geändert durch die Beitrittsakte 2003 vom 16.04.2003, ABl. L 236 2003, S. 33 - EGV -) auszulegen sind, der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer nach Art. 39 EGV erleichtern soll und u. a. beinhaltet, dass Wanderarbeitnehmer nicht deshalb Ansprüche auf Leistungen der sozialen Sicherheit verlieren oder geringere Leistungen erhalten dürfen, weil sie das ihnen vom EG-Vertrag verliehene Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben.
Der erkennende Senat folgt auch insoweit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. Urteil vom 09.11.2006, C-205/05, Slg. 2006, I S.10745 und nunmehr Urteil vom 20.05.2008 - C-352/06).
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in § 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 S.1 ZPO.
III.
Die Revision war zuzulassen, denn es ist ein Revisionsgrund gegeben: Der Rechtsstreit hat grundsätzliche Bedeutung i.S.d. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO, da die für die Beurteilung des Streitfalles maßgebende Rechtsfrage das Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Fortentwicklung und Handhabung des Rechts berührt (vgl. zu diesem Erfordernis BFH vom 17.09.1974 VII B 112/73, BStBl II 1975, 196).
Ende der Entscheidung
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