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Gericht: Finanzgericht München
Urteil verkündet am 14.03.2006
Aktenzeichen: 12 K 4695/05
Rechtsgebiete: EStG, AO, EstG


Vorschriften:

EStG § 70 Abs. 4
EStG § 32 Abs. 4 S. 2
EstG § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 Buchst. a
AO § 173 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL

In der Streitsache

hat der 12. Senat des Finanzgerichts München unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am Finanzgericht ... des Richters am Finanzgericht ... und der Richterin am Finanzgericht ... sowie der ehrenamtlichen Richter ... und ... aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 14. März 2006 für Recht erkannt:

Tenor:

1. Unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 25. November 2005 und der Bescheide vom 30. September 2004 sowie vom 30. September 2005 wird der Beklagte verpflichtet, dem Kläger für seine Tochter B für das Jahr 2004 Kindergeld in der gesetzlichen Höhe zu gewähren.

2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

4. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger und seine am 15. Dezember 1983 geborene Tochter B (B) erklärten gegenüber der Familienkasse bei der Landeshauptstadt A (Familienkasse) mit Vordruck vom 27. Mai 2004 Werbungskosten der B bei nichtselbständiger Tätigkeit in Höhe von 1.532,60 EUR. Unter Berücksichtigung von Werbungskosten in Höhe von lediglich 1.311 EUR sowie eines Gesamteinkommens aus nichtselbständiger Tätigkeit in Höhe von 9.414 EUR erging am 30. September 2004 der Bescheid, dass dem Antrag des Klägers auf Kindergeld für B nicht entsprochen werde. Das für das Jahr 2004 voraussichtlich maßgebliche Einkommen in Höhe von 8.103 EUR liege über dem Grenzbetrag von 7.680 EUR. Die kindbezogenen Leistungen würden ab Januar 2004 nachgezahlt, wenn im Laufe oder nach Ablauf des Jahres 2004 nachgewiesen werde, dass die Einkommensgrenze nicht überschritten worden sei.

Am 30. Juni 2005 ging bei der Familienkasse der Kindergeldantrag des Klägers für B ein, mit dem Bruttoeinkünfte der B für das Jahr 2004 in Höhe von 9.492 EUR erklärt wurden. Außerdem wurde u.a. der für B am 3. Mai 2005 ergangene Einkommensteuerbescheid 2004 mit Werbungskosten in Höhe von 1.854 EUR bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit vorgelegt sowie auf die geänderte Rechtslage nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 (2 BvR 167/02) zur Einbeziehung von Sozialversicherungsbeiträgen bei der Berechnung des Jahresgrenzbetrags hingewiesen.

Mit Bescheid vom 30. September 2005 lehnte die Familienkasse den Antrag des Klägers vom 30. Juni 2005 auf Nachzahlung des Kindergeldes für B für 2004 unter Hinweis auf den bestandskräftigen Bescheid vom 30. September 2004 und eine entsprechende Weisung des Bundesamtes der Finanzen zur Anwendung des BVerfG-Beschlusses auf die nicht bestandskräftig entschiedenen Fälle ab. Im Einkommensteuerbescheid 2004 sei der Ansatz der Werbungskosten zu hoch, weil B 2004 wegen Krankheit an 20 Arbeitstagen gefehlt habe und deshalb bei der Entfernungspauschale nicht von 230 Tagen ausgegangen werden könne.

Der vom Kläger mit den in Ansatz zu bringenden Sozialversicherungsbeiträgen begründete Einspruch wurde mit Einspruchsentscheidung vom 25. November 2005 zurückgewiesen.

Die Klage begründet der Kläger im Wesentlichen wie folgt: Von dem Bruttogehalt des Kindes A in Höhe von 9.492 EUR seien neben den Werbungskosten in Höhe von 1.740 EUR entsprechend der Entscheidung des BVerfG vom 11. Januar 2005 Sozialversicherungsbeiträge des Kindes in Höhe von mindestens 1.748 EUR abzusetzen. Laut Lohnsteuerkarte 2004 betrage der Arbeitnehmeranteil von B am Gesamtsozialversicherungsbeitrag sogar 2.006,88 EUR. Die Beklagte lasse zu Unrecht unter Berufung auf den nicht angefochtenen Bescheid vom 30. September 2004 die Sozialversicherungsbeiträge von B unberücksichtigt. Denn im Bescheid vom 30. September 2005 sei unter Ziffer 2 erneut über den Antrag vom 30. Juni 2005 auf Nachzahlung des Kindergeldes für das Jahr 2004 von der Beklagten entschieden worden, wogegen auch fristgerecht Einspruch erhoben worden sei. Jedenfalls diesen Tenor habe der Kläger wirksam angegriffen. Zudem enthalte der Erstbescheid vom 30. September 2004 den ausdrücklichen Hinweis auf Nachzahlung kindbezogener Leistungen ab Januar 2004, wenn im Laufe oder nach Ablauf des Jahres 2004 die Einhaltung der Einkommensgrenze für 2004 nachgewiesen werde. Die darin zu sehende eigenständige Verpflichtung des Beklagten ermögliche dem Kläger die Führung des Nachweises, dass die Einkommensgrenze des Jahres 2004 unterschritten sei, sowie den Erhalt der Nachzahlung der kindbezogenen Leistungen ab Januar 2004. Die Grundsätze des Rechtsstaatsprinzips und des rechtlichen Gehörs müssten im Sinne der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit ein Angreifen des gegenständlichen Bescheids ermöglichen. Der Beklagte könne sich wegen der Grundsätze von Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes auch nicht auf eine - im Übrigen nicht nachgewiesene - Weisung des Bundesamtes für Finanzen berufen, weil diese rangmäßig niederer sei als das Gesetz oder eine bundesverfassungsgerichtliche Entscheidung.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Bescheids vom 30. September 2005 und der Einspruchsentscheidung vom 25. November 2005 dem Kläger die Kindergeldleistungen für das Kind B für das Jahr 2004 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,

hilfsweise die Revision zuzulassen.

Die Entscheidung des BVerfG vom 11. Januar 2005 sei nach einer Weisung des Bundesamtes für Finanzen nur auf alle nicht bestandskräftig entschiedenen Fälle anzuwenden und könne deshalb hier wegen des bestandskräftigen Bescheides vom 30. September 2004 nicht zu einer Unterschreitung der maßgeblichen Einkommensgrenze der Tochter des Klägers führen. Der im Bescheid vom 30. September 2004 enthaltene Hinweis auf die Korrekturnorm des § 70 Abs. 4 EStG verhindere nicht den Eintritt der Bestandskraft dieses Bescheides. Im Rahmen des § 70 Abs. 4 EStG habe der Kläger lediglich den Ansatz höherer Werbungskosten geltend machen können. Im Übrigen liege kein nachträgliches Bekanntwerden im Sinne des § 70 Abs. 4 EStG vor.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist begründet.

Der Kläger hat auf Grund seines Antrags vom 30. Juni 2005 Anspruch auf Kindergeld für B für das Jahr 2004. Die Familienkasse hat deshalb zu Unrecht mit Bescheid vom 30. September 2005 den Antrag auf Zahlung des Kindergeldes für B abgelehnt.

1. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass materiell-rechtlich die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch im Jahr 2004 für B auch hinsichtlich des maßgeblichen Grenzbetrags erfüllt sind, wenn die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge entsprechend dem Beschluss des BVerfG vom 11. Januar 2005 nicht in die Bemessungsgrundlage nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einbezogen werden.

Die Bestandskraft des Ablehnungsbescheids vom 30. September 2004 steht einer Berichtigung nach § 70 Abs. 4 EStG unter Anwendung des BVerfG-Beschlusses vom 11. Januar 2005 und damit dem Kindergeldanspruch des Klägers für B im Jahr 2004 nicht entgegen. Die Voraussetzungen für eine Korrektur dieses bestandskräftigen Bescheids liegen nach § 70 Abs. 4 EStG vor.

Nach § 70 Abs. 4 EStG ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG über- oder unterschreiten. Damit soll nach der Gesetzesbegründung die Korrektur einer Kindergeldfestsetzung auch nach Ablauf des Kalenderjahres sichergestellt werden, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes entgegen einer früheren Prognose der Familienkasse den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG über- oder unterschreiten. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass eine steuerrechtliche Entscheidung wegen des Jährlichkeitsprinzips grundsätzlich rückblickend erfolgt, die Steuervergütung für Kindergeld jedoch bereits im Laufe des Kalenderjahres monatlich gezahlt wird (Bundestagsdrucksache 14/6160, S. 14, vom 29. Mai 2001). Ausgehend von diesem Gesetzeszweck und vom Wortlaut des Gesetzes ist im Streitfall der Familienkasse die Unterschreitung des Grenzbetrags nach § 32 Abs. 4 EStG nachträglich, d.h. nach Erlass des Ablehnungsbescheids vom 30. September 2004 bekannt geworden. Im Gegensatz zu § 173 Abs. 1 Abgabenordnung (AO) kommt es nach dem Wortlaut des § 70 Abs. 4 EStG nicht darauf an, dass Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden. § 70 Abs. 4 EStG lässt ohne diese Beschränkung ein nachträglich bekannt gewordenes Über- bzw. Unterschreiten des Grenzbetrags genügen. Das die Abweichung vom bisher zu Grunde gelegten Grenzbetrag auslösende Ereignis kann deshalb nach Auffassung des erkennenden Senats auch in einer von der bisherigen Rechtsprechung des BFH abweichenden verfassungskonformen Auslegung einer Norm - wie hier der Grenzbetragsregelung in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG - durch das BVerfG liegen. Die im Ablehnungsbescheid vom 30. September 2004 getroffene Prognose auf Grund zu erwartender Einkünfte und Bezüge i.S.v. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG war denknotwendig vorläufig und sollte der endgültigen Überprüfung nach Ablauf des maßgeblichen Jahres nicht vorgreifen. Wegen der Selbständigkeit des vorläufigen und des endgültigen Überprüfungsverfahrens - ähnlich dem Lohnsteuerermäßigungs- oder Vorauszahlungsverfahren im Verhältnis zur Jahresveranlagung - ist die Familienkasse bei der endgültigen Überprüfung weder an die tatsächlichen Feststellungen noch an die rechtliche Würdigung der Prognoseentscheidung gebunden (Finanzgericht - FG - München, Urteil vom 7. Mai 2002 12 K 43/02, EFG 2002, 1240). Derartige Prognoseentscheidungen tragen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht stets den Charakter der Vorläufigkeit in sich (FG Düsseldorf, Urteile vom 12. Januar 2006 14 K 4078/05 Kg u. 14 4361/05 Kg, Juris-Nr.: STRE200670190; STRE200670191).

2. Das Gericht ist an die im Schreiben des Bundesamtes für Finanzen vom 17. Juni 2005 vertretene Rechtsauffassung (St I 4 - S 2471 - 210/2005, BStBl I 2005, 800) bzw. an DA 70.6 Satz 6 1. Spiegelstrich der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs - DAFamEStG - nicht gebunden. Mit deren Hilfe kann und soll nur eine gleichmäßige Gesetzesanwendung durch die Verwaltungsbehörden erreicht, nicht aber eine Bindung i. S. einer Rechtsverordnung erzielt werden. Enthält eine derartige Anweisung oder Richtlinie keine zutreffende Gesetzesauslegung, ist ihr nicht zu folgen (BFH-Urteil vom 28. Oktober 1980 VIII R 34/76, BStBl II 1981, 161). Nach ständiger Rechtsprechung des BFH kann einer solchen Verwaltungsanweisung grundsätzlich auch unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben nicht die gleiche Wirkung beigemessen werden wie einer Rechtsnorm oder einer verbindlichen Zusage für den Einzelfall. Eine weitergehende tatsächliche Bindungswirkung kann sich lediglich aus dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz - GG -) ergeben. Dabei ist allerdings zwischen solchen Vorschriften, die typisierende Vereinfachungsregelungen enthalten und norminterpretierenden Verwaltungsanordnungen zu unterscheiden: Typisierungsvorschriften (z.B. Bewertungsrichtlinien, AfA-Tabellen, Richt- und Pauschsätze) vereinfachen aufgrund von Erfahrungswerten die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe. Im Interesse der Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen werden Richtlinien dieses Inhalts für die Gerichte als verbindlich angesehen, soweit sie nicht im Einzelfall zu einer unzutreffenden Besteuerung führen (vgl. BFH-Urteil vom 26. Juli 1991 VI R 114/88, BStBl II 1992, 105). Dagegen dienen norminterpretierende Verwaltungsanordnungen lediglich der gleichmäßigen Auslegung und Anwendung des Gesetzes durch die nachgeordneten Behörden. Ob diese Auslegung oder Anwendung richtig ist, unterliegt in vollem Umfang der Nachprüfung durch die Gerichte. Solche Anordnungen binden die Gerichte nicht, denn anderenfalls würde das aus Art. 20 GG abzuleitende verfassungsmäßige Recht der Rechtsprechung auf Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung beeinträchtigt (BFH-Urteil vom 31. Oktober 1990 I R 3/86, BStBl II 1991, 610). Bei der genannten Dienstanweisung handelt es sich um eine derartige norminterpretierende Verwaltungsvorschrift. Sie interpretiert § 70 Abs. 4 EStG dahingehend, dass eine Änderung der Rechtsauffassung durch die Rechtsprechung kein nachträgliches Bekanntwerden im Sinne dieser Vorschrift ist. Aus den unter 1. genannten Gründen ist dem nicht zu folgen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung (FGO).

4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

5. Die Revision war wegen der grundsätzlichen Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) zuzulassen.

Ende der Entscheidung

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