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Gericht: Finanzgericht München
Urteil verkündet am 21.04.2005
Aktenzeichen: 14 K 5140/02
Rechtsgebiete: UStG 1999, BSHG, SGB VIII, EWGRL 388/77
Vorschriften:
UStG 1999 § 4 Nr. 14 S. 1 | |
EWGRL 388/77 Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. h | |
EWGRL 388/77 Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g | |
EWGRL 388/77 Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c | |
SGB VIII § 35a | |
BSHG § 39 | |
BSHG § 40 |
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
In der Streitsache
wegen Umsatzsteuer 1999, 2000 (Sprungklage)
hat der 14. Senat des Finanzgerichts München unter Mitwirkungdes Vorsitzenden Richters am Finanzgericht ... des Richters am Finanzgericht ... und des Richters am Finanzgericht ...sowie der ehrenamtlichen Richter ... und ... aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 21. April 2005
für Recht erkannt:
Tenor:
1. Der Beklagte wird verpflichtet, unter Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung für 1999 und 2000 die Umsatzsteuer jeweils auf 0 EUR festzusetzen.
2. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags.
4. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
I.
Die Klägerin betreibt eine heilpädagogische Praxis.
Mit Schreiben vom 20. November 1998 (Bl. 4 der Umsatzsteuerakte) widerrief das beklagte Finanzamt (Finanzamt) seine sog. verbindliche Auskunft vom 1. Februar 1990 (Bl. 6 Umsatzsteuerakte), wonach für die Tätigkeit der Klägerin als Heilpädagogin die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) eingreife, und forderte die Klägerin zur Abgabe von Umsatzsteuererklärungen auf.
In ihren Umsatzsteuererklärungen für 1999 (eingegangen beim Finanzamt am 18. Dezember 2000) und 2000 (eingegangen am 14. Dezember 2001) berechnete die Klägerin eine Steuer von 12.231,70 DM für 1999 und von 16.029,71 DM für 2000.
Mit Schreiben vom 19. November 2002 beantragte die Klägerin die Aufhebung der Umsatzsteuerfestsetzungen für 1999 und 2000, da sie als Heilpädagogin gemäß § 4 Nr. 14 UStG nicht umsatzsteuerpflichtig sei.
Gegen den Ablehnungsbescheid vom 21. November 2002 erhob die Klägerin Sprungklage, der das Finanzamt innerhalb eines Monats nach Zustellung der Klageschrift zustimmte (Bl. 14 FG-Akte).
Zur Begründung ihrer Klage trägt die Klägerin im Wesentlichen vor: Sie sei staatlich anerkannte Heilpädagogin und seit 1989 selbständig tätig. Für die Sozial- und Jugendämter verschiedener oberbayerischer Landkreise erbringe sie heilpädagogische Leistungen an Behinderte oder von Behinderung bedrohte Patienten, zu deren Erbringung die Behörden gesetzlich, insbesondere gemäß §§ 39, 40 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und § 35 a KJHG/ SGB VIII, verpflichtet seien. Die Abrechnung erfolge direkt mit den Landkreisen als den zuständigen Kostenträgern. Sie, die Klägerin, sei seit 1988 staatlich anerkannte Heilpädagogin. Ihre Praxis sei seit 1993 vom zuständigen Fachverband, dem Berufsverband der Heilpädagogen e.V., nach Prüfung der erforderlichen satzungsmäßigen Voraussetzungen anerkannt. Sie besitze damit den erforderlichen beruflichen Befähigungsnachweis. Auch die Sozial- und Jugendämter hätten sie nach Prüfung ihrer beruflichen Befähigungsnachweise zur Leistungserbringung zugelassen. Ferner sei die ihrer staatlichen Abschlussprüfung zugrunde liegende Ausbildung und die zugrunde liegende Ausbildungsordnung mit anderen Katalogberufen vergleichbar. Der staatlichen Anerkennungsprüfung sei eine zweijährige Ausbildung an der Fachakademie für Heilpädagogik der Landeshauptstadt München vorausgegangen.
In den Streitjahren habe sie medizinisch indizierte und nicht lediglich pädagogische oder sozialpflegerische Leistungen erbracht. Ihre Tätigkeit sei daher die eines Heilhilfsberufs und mit anderen Katalogberufen vergleichbar. Die Behandlungen erfolgten im Jahr 1999 bis auf zwei Fälle und im Jahr 2000 bis auf drei Fälle auf ärztliche Anordnung, in vielen Fällen sogar auf Anordnung eines Kinder- und Jugendpsychiaters. Ihre Leistungen wie Förderdiagnostik (Anamneseerhebung, standardisierte psychometrische und projektive Testverfahren), Übungsprogramm zur visuellen Wahrnehmung (z.B. nach M. Frostig), Übungen zur auditiven Wahrnehmung (z.B. nach Arenhövel und Wilde), Übungen zur taktilen Wahrnehmung, Übungen zur Sprache (z.B. zu Dyslalie, Dysgrammatismus), Übungen zur Motorik (z.B. Koordination von Arm- und Beinbewegungen, Körperspannung, Kraftdosierung), Übungen zur Grafomotorik (z.B. Trainingsprogramm nach Schilling), Übungen zum kognitiven Bereich (Legasthenie, Dyskalkulie) seien alle medizinisch indiziert, dienten also der Heilung und Linderung von Krankheiten und Leiden wie zum Beispiel ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom), Enuresis, Enkopresis, rezeptiven Sprachstörungen, Stottern, Dyslalie.
Soweit bei Kinder- und Jugendpsychiatern angestellte Heilpädagogen auf Grundlage der sog. Sozialpsychiatrievereinbarung arbeiteten, fände eine Kostenübernahme nicht nur nach § 43 a SGB V für diagnostische, sondern auch für therapeutische Leistungen wie die der Klägerin durch die gesetzlichen Krankenkassen statt. Die angewandten Diagnose- und Behandlungsmethoden seien, soweit sie von Ärzten vorgenommen würden, mit den gesetzlichen Krankenkassen abrechenbar. Sie seien ferner gleich oder vergleichbar mit Therapieverfahren, wie sie von umsatzsteuerbefreiten Logopäden oder Ergotherapeuten angewendet würden. Auch die Kultusministerkonferenz stufe das Studium der Heilpädagogik wegen der deutlichen Nähe zur Medizin in den Bereich "Gesundheit und Therapie" und nicht in den sozialpflegerischen Bereich ein.
Die Finanzierung der klägerischen Leistungen sei zu über 90 v.H. durch die öffentliche Hand, d.h. durch die Landkreise als Träger der Sozialhilfe und als Träger der Jugendhilfe erfolgt. Die Abwicklung geschehe in der Regel wie folgt: Aufgrund einer ärztlichen Überweisung/ Diagnose erstelle sie, die Klägerin, einen Behandlungsplan und reiche diesen beim zuständigen Kostenträger ein. Nach Genehmigung durch das Amt, die in fast allen Fällen darauf beruhe, dass das Kind behindert oder von Behinderung bedroht sei, erfolge die Behandlung inklusive weiterer Förderdiagnostik durch die Klägerin in einer Doppelstunde pro Woche.
Nach Abschluss der Behandlung erhalte das Amt einen Abschlussbericht und die Rechnung. Die Rechnung werde vom Amt direkt ausgeglichen.
Schließlich sei darauf hinzuweisen, dass sich die Klägerin wie alle selbständigen Heilpädagogen in einer Konkurrenzsituation zu den Angehörigen umsatzsteuerbefreiter Berufsgruppen, wie etwa den Logopäden und den Ergotherapeuten, befände. Diese böten zum Teil die gleichen Therapieleistungen ohne Umsatzsteuer an. Auch bestehe eine Konkurrenzsituation zu gemeinnützigen Verbänden der Wohlfahrtspflege, wie der Lebenshilfe, Diakonie oder Caritas, die gemäß § 4 Nr. 18 UStG umsatzsteuerbefreit seien und ebenfalls heilpädagogische Leistungen anböten.
Nach entsprechender Anfrage durch das Gericht führt die Klägerin noch aus, dass auch eine Steuerbefreiung nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchstabe g und h der Richtlinie 77/388/EWG gegeben sei, da die Kosten entweder vom Sozial- oder vom Jugendamt übernommen würden. Eine förmliche Anerkennung von Heilpädagogen als Leistungserbringer sei gesetzlich nicht vorgesehen und werde auch nicht praktiziert. Aufgrund der engen Zusammenarbeit der Klägerin mit den Sozialhilfeträgern und der direkten Überweisung des Honorars durch die Sozialhilfeträger müsse von einer Anerkennung der Klägerin als Einrichtung mit sozialem Charakter i.S. der Richtlinie ausgegangen werden. Dies ergebe sich ferner daraus, dass das Landratsamt mit der Klägerin eine Vereinbarung i.S. der §§ 93 ff. BSHG getroffen habe (s. Anlage 21). Dasselbe gelte für das Verhältnis der Klägerin zu den Jugendhilfeträgern.
Auf die der Klageschrift beigefügten zahlreichen Anlagen wird Bezug genommen.
Die Klägerin beantragt,
das Finanzamt zu verpflichten, die Festsetzung der Umsatzsteuer für 1999 und 2000 aufzuheben und die Umsatzsteuer auf 0 EUR festzusetzen.
Das Finanzamt beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es ist der Auffassung, dass die Tätigkeit der Klägerin als Heilpädagogin keine heilberufliche Tätigkeit sei, auch wenn Heilpädagogen in Einzelfällen auf medizinischem Gebiet tätig seien. Die Praxis der Klägerin sei zudem keine Einrichtung auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendbetreuung i. S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchstabe h der Richtlinie 77/388/EWG. Sie habe auch nicht nachgewiesen, dass sie eine Einrichtung mit sozialem Charakter nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchstabe g und h der Richtlinie 77/388/EWG sei.
Auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 21. April 2005 wird hingewiesen.
Gründe
II.
Die Klage ist begründet.
Die Tätigkeit der Klägerin ist, soweit sie nicht bereits als heilberufliche Tätigkeit nach § 4 Nr. 14 UStG steuerfrei ist, gemäß Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchstabe g der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) von der Steuer zu befreien.
1. Nach § 4 Nr. 14 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes in der in den Streitjahren gültigen Fassung (UStG) sind die Umsätze aus der Tätigkeit als Arzt, Zahnarzt, Heilpraktiker, Physiotherapeut (Krankengymnast), Hebamme oder aus einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes und aus der Tätigkeit als klinischer Chemiker steuerfrei.
Dieser Regelung liegt Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchstabe c der Richtlinie 77/388/EWG zugrunde, wonach die Mitgliedsstaaten die Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufe erbracht werden, von der Steuer befreien. Der durch Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchstabe c der Richtlinie 77/388/EWG gezogene gemeinschaftsrechtliche Rahmen und die Auslegung der Tatbestandsmerkmale der bezeichneten Vorschrift durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) sind deshalb bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung von § 4 Nr. 14 UStG zu beachten (BFH-Urteil vom 12. August 2004 V R 18/02, BFH/NV 2005, 313).
Eine Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchstabe c der Richtlinie 77/388/EWG setzt voraus, dass ärztliche oder arztähnliche Leistungen vorliegen, die von Personen erbracht werden, die die erforderlichen beruflichen Befähigungsnachweise besitzen (BFH in BFH/NV 2005, 313 m.w.N.). Heilbehandlungen i.S. des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchstabe c der Richtlinie 77/388/EWG sind Tätigkeiten, die zum Zweck der Diagnose, der Behandlung und, soweit möglich, der Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen beim Menschen vorgenommen werden (BFH in BFH/NV 2005, 313 m.w.N.).
Im Übrigen verbietet es der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dass Wirtschaftsteilnehmer, die gleichartige Umsätze bewirken, bei der Mehrwertsteuererhebung unterschiedlich behandelt werden. Zweck der Befreiung ist zudem, die Kosten ärztlicher Heilbehandlung zu senken.
Danach liegen im Streitfall die Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung vor; denn die von der Klägerin - unbestritten -überwiegend auf ärztliche Anordnung durchgeführte Förderdiagnostik sowie heilpädagogischen Behandlungen von etwa ADS, Legasthenie, Enuresis, Enkopresis, Dyslalie, Stottern sowie Wahrnehmungsstörungen (vgl. hierzu die Liste über die Diagnose der in den Streitjahren behandelten Kinder Bl. 67 ff der FG-Akte) wurden erbracht, um drohende Behinderungen abzuwenden oder den fortschreitenden Verlauf einer Behinderung zu verlangsamen oder die Folgen einer Behinderung zu beseitigen oder zu mindern. Die Leistungen der Klägerin dienen damit dem Zweck der Behandlung und soweit möglich der Heilung von Gesundheitsstörungen der Leistungsempfänger (in Bezug auf die Behandlung von Legasthenie ebenso FG Nürnberg Urteil vom 30.9.2003 - II 290/2002, EFG 2004, 777; dagegen Revision beim BFH unter V R 71/03; aA Weymüller in Sölch/Ringleb, Umsatzsteuer, § 4 Nr. 14 Rdnr. 76 und Husmann in Rau/Dürrwächter, UStG, Kommentar, § 4 Nr. 14 UStG, Anm. 50, Stichwort: Heilpädagoge).
Die Klägerin hat ferner auch den Nachweis ihrer beruflichen Befähigung erbracht.
Von der beruflichen Befähigung ist grundsätzlich auszugehen, wenn der Unternehmer die Voraussetzungen einer berufsrechtlichen Regelung erfüllt.
Die Klägerin ist berechtigt, die Berufsbezeichnung "staatlich anerkannte Heilpädagogin" zu führen (s. Urkunde der Fachakademie für Heilpädagogik der Landeshauptstadt München vom 20. Juli 1988, Bl. 52 FG-Akte). Die Ausbildung zum Heilpädagogen bzw. zur Heilpädagogin wird mit einer staatlichen Prüfung abgeschlossen. Wer die Abschlussprüfung bestanden hat, erhält ein Abschlusszeugnis. Dieses ist Voraussetzung zur Führung der Bezeichnung "staatlich anerkannter Heilpädagoge/staatlich anerkannte Heilpädagogin" (s. Rahmenvereinbarung über die Ausbildung und Prüfung an Fachschulen für Heilpädagogik, Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 12. September 1986, Bl. 65 ff FG-Akte). Die Bundesländer erkennen die nach dieser Rahmenvereinbarung erteilten Abschlusszeugnisse gegenseitig an.
2. Soweit die Tätigkeit der Klägerin nicht nur auf die Diagnose und Behandlung von Gesundheitsstörungen gerichtet ist, kann sie sich für die Steuerbefreiung ihrer heilpädagogischen Leistungen auch unmittelbar auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchstabe g der Richtlinie 77/388/EWG berufen.
Nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchstabe g der Richtlinie 77/388/EWG befreien die Mitgliedsstaaten die eng mit der Sozialfürsorge und der staatlichen Sicherheit verbundenen Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen der Altenheime, durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedsstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen, von der Steuer.
Die Klägerin ist in den Streitjahren auf der Grundlage von § 35 a SGB VIII und nach Maßgabe entsprechender Leistungsvereinbarungen mit den örtlichen Leistungsträgern (Sozialämter) tätig geworden.
Nach § 35 a SGB VIII in der in den Streitjahren gültigen Fassung haben Kinder und Jugendliche, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Anspruch auf Eingliederungshilfe. Nach Absatz 2 dieser Regelung richten sich Aufgabe und Ziel der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie die Art der Maßnahmen u.a. nach § 39 Abs. 3 und § 40 BSHG, soweit diese auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden. Ist gleichzeitig Hilfe zur Erziehung zu leisten, so sollen nach § 35 a Abs. 3 SGB VIII Einrichtungen, Dienste und Personen in Anspruch genommen werden, die geeignet sind, sowohl die Aufgaben der Eingliederungshilfe zu erfüllen als auch den erzieherischen Bedarf zu decken. Sind heilpädagogische Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter sind, in Tageseinrichtungen für Kinder zu gewähren und lässt der Hilfebedarf es zu, so sollen Einrichtungen in Anspruch genommen werden, in denen behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam betreut werden.
In § 39 Abs. 3 BSHG ist geregelt: Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den Behinderten in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört vor allem, dem Behinderten die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihm die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder ihn soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen.
Nach § 40 Abs. 1 BSHG sind Maßnahmen der Eingliederungshilfe u.a. auch heilpädagogische Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter sind (§ 40 Abs. 1 Ziffer 2 a), und Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung, vor allem im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und durch Hilfe zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu (§ 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG).
Solche Maßnahmen der Eingliederungshilfe hat die Klägerin im Zusammenhang mit der Behandlung insbesondere von sozialen Schulproblemen und Schulängsten, aggressiven Sozialverhalten, Leistungsverweigerung, Lern-Leistungsstörungen, Konzentrationsschwäche, Lernbehinderungen, Kontaktstörungen, Versagensängsten, Verhaltensauffälligkeiten und ähnlichen Symptomen erbracht (vgl. Liste der behandelten Kinder in den Streitjahren, Bl. 67 ff FG-Akte).
Diese Leistungen der Klägerin sind Bestandteil der staatlichen Sozialfürsorge im Sinne von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchstabe g der Richtlinie 77/388/EWG, da ihre heilpädagogische Tätigkeit insoweit auch der sozialen Eingliederung und damit der sozialen Hilfe seelisch behinderter oder von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher dient.
Zwar ist Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchstabe g der Richtlinie 77/388/EWG nur teilweise, nämlich durch § 4 Nr. 15, Nr. 16 und Nr. 18 UStG, die die Leistungen der Klägerin nicht betreffen, in nationales Recht umgesetzt worden.
Ein Einzelner kann sich jedoch in Ermangelung vollständiger Umsetzungsmaßnahmen auf Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, gegenüber allen nicht richtlinienkonformen innerstaatlichen Vorschriften berufen. Er kann sich auf diese Bestimmungen auch berufen, soweit sie so geartet sind, dass sie Rechte festlegen, die der Einzelne dem Staat gegenüber geltend machen kann. Ein Mitgliedsstaat kann einem Steuerpflichtigen, der beweisen kann, dass er steuerrechtlich unter einem Befreiungstatbestand der Richtlinie fällt, nicht entgegenhalten, dass er die Vorschriften, die die Anwendung eben dieser Steuerbefreiung erleichtern sollen, nicht erlassen hat (BFH-Urteil vom 22. April 2004 V R 1/98, BFH/NV 2004, 1348 m.w.N.).
Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchstabe g der Richtlinie 77/388/EWG zählt die Tätigkeiten, die steuerfrei sind, hinreichend genau und unbedingt auf (vgl. EuGH-Urteil vom 10. September 2002 Rs. C-141/00, Kügler, BFH/NV-Beilage 2003, 30, Umsatzsteuer-Rundschau -UR-2002, 513 Rn. 53).
Allerdings räumt Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchstabe g der Richtlinie 77/388/EWG den Mitgliedsstaaten ein Ermessen in der Frage ein, ob sie bestimmten Einrichtungen sozialen Charakter zuerkennen. Der Einzelne kann die Eigenschaft einer Einrichtung mit sozialem Charakter nicht schon dadurch erlangen, dass er sich auf diese Bestimmung beruft. Vielmehr ist es Sache der nationalen Behörden, nach dem Gemeinschaftsrecht und unter Kontrolle der nationalen Gerichte, insbesondere unter Berücksichtigung der Praxis der zuständigen Verwaltung in ähnlichen Fällen zu bestimmen, welche Einrichtungen als Einrichtungen mit sozialem Charakter i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchstabe g der Richtlinie 77/388/EWG anzuerkennen sind (s. EuGH Urteil Kügler in UR 2002, 513, Rn. 54 ff).
Dabei sind spezifische nationale oder regionale Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, Steuervorschriften oder Vorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit zu berücksichtigen. Außerdem ist der Umstand zu beachten, ob Einrichtungen mit den gleichen Tätigkeiten wie die der Klägerin wegen des mit diesen Tätigkeiten verbundenen Gemeinwohlinteresses bereits in den Genuss einer ähnlichen Steuerbefreiung kommen. Auch kommt dem Umstand rechtserhebliche Bedeutung zu, ob und welche der Kosten für welche von der Klägerin erbrachten Leistungen von durch Gesetz errichteten Krankenkassen oder von Einrichtungen der sozialen Sicherheit übernommen werden, zu denen die privaten Leistungserbringer, wie hier die Klägerin, vertragliche Beziehungen unterhalten (EuGH-Urteil Kügler, UR 2002, 513, Rn. 58).
Die Anerkennung eines Unternehmers als eine Einrichtung mit sozialem Charakter kann dementsprechend auch aus der Übernahme der Kosten für seine Leistungen durch Krankenkassen oder andere Einrichtungen der sozialen Sicherheit abgeleitet werden. Maßgebend ist insoweit, dass es sich ihrer Art nach um Leistungen handelt, für die die Kosten von sozialen Leistungsträgern übernehmbar waren (vgl. BFH in BFH/NV 2004, 1348).
Davon ausgehend ist das Unternehmen der Klägerin eine anerkannte Einrichtung mit sozialem Charakter. Die Klägerin ist mit den Trägern der Sozialhilfe vertraglich verbunden und wird laufend von diesen kontrolliert (siehe dazu die von der Klägerin vor, während und nach Abschluss einer Behandlung zu erbringenden Leistungsnachweise gemäß der Leistungsvereinbarung mit dem Landratsamt, Bl. 100 FG-Akte). Aufgrund der Leistungsvereinbarungen mit der Klägerin werden die Kosten für die heilpädagogische Tätigkeit überwiegend von den Sozial- und Jugendämtern der Gemeinden aufgrund ihrer gesetzlichen Verpflichtungen nach dem BSHG und SGB VIII und zum geringen Teil auch von den gesetzlichen Krankenkassen (s. § 43a SGB V) getragen. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz der Gleichbehandlung die Anerkennung der Klägerin als Einrichtung mit sozialem Charakter fordert, da sie die gleichen Leistungen wie Leistungsanbieter der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege (Lebenshilfe, Caritas), soweit auch diese heilpädagogische Leistungen steuerfrei anbieten können, erbringt.
Ausschlusstatbestände für die Steuerbefreiung der Klägerin gemäß Art. 13 Teil A Abs. 2 Buchstabe b der Richtlinie 77/388/EWG liegen erkennbar nicht vor. Im Übrigen hat Deutschland von der in Art. 13 Teil A Abs. 2 Buchstabe a der Richtlinie 77/388/EWG vorgesehen Möglichkeit, die Gewährung der vorgesehenen Steuerbefreiungen von der Erfüllung von bestimmten Bedingungen abhängig zu machen, nicht Gebrauch gemacht und kann deshalb nicht unter Berufung darauf der Klägerin die Berufung auf die Steuerbefreiung nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchstabe g der Richtlinie 77/388/EWG verwehren (vgl. EuGH-Urteil Kügler, UR 2002, 513, Rn. 60).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten folgt aus § 151 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Abs. 3 FGO i.V.m. § 709 der Zivilprozessordnung.
4. Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).
Ende der Entscheidung
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