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Gericht: Finanzgericht Münster
Urteil verkündet am 29.03.2006
Aktenzeichen: 1 K 4716/05 Kg
Rechtsgebiete: EStG


Vorschriften:

EStG § 32 Abs 4
EStG § 70 Abs 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL

In dem Rechtsstreit

hat der 1. Senat des Finanzgerichts Münster in der Sitzung vom 29.03.2006, an der teilgenommen haben:

Richter am Finanzgericht ... als Vorsitzender ...

Richter am Finanzgericht ...

Richter am Finanzgericht ...

Ehrenamtlicher Richter Angestellter ...

Ehrenamtlicher Richter Dipl.-Ing. Architekt ...

auf Grund mündlicher Verhandlung für Recht erkannt:

Tatbestand:

Streitig ist, ob ein bestandskräftiger Ablehnungsbescheid wegen Kindergeld nachträglich geändert werden kann.

Der Kläger (Kl.) beantragte am 28.12.2002 Kindergeld für seine am 28.06.1982 geborene Tochter E. (E.) für den Zeitraum Januar bis September 2003. E. sollte zum 30.09.2003 ihre Ausbildung zur Krankenschwester abschließen.

Mit Ablehnungsbescheid vom 27.03.2003 lehnte die Bekl. die Gewährung von Kindergeld ab. Zur Begründung wies sie darauf hin, dass der anteilige Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Einkommensteuergesetz (EStG) i.H.v. 5.391 EUR (9/12 von 7.188 EUR) überschritten sei. Den Einkünften von E. i.H.v. 7.875,86 EUR stünden lediglich Werbungskosten i.H.v. 931,03 EUR gegenüber. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf den Ablehnungsbescheid Bezug genommen.

Am 03.04.2003 legte der Kl. gegen einen zeitgleich ergangenen Ablehnungsbescheid wegen Gewährung von Kindergeld für E. für den Zeitraum Januar bis Dezember 2002 Einspruch ein. In diesem Einspruchsschreiben teilte er mit, er ziehe seinen Antrag auf Kindergeld für das Jahr 2003 zurück und werde ggf. nach Ablauf des Jahres einen erneuten Antrag stellen.

Am 27.07.2005 beantragte der Kl. für seine Tochter E. erneut Kindergeld für Januar bis September 2003 unter Hinweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in dem Verfahren Az. 2 BvR 167/02. Er machte dabei sinngemäß geltend, bei Berücksichtigung der Arbeitsnehmerbeträge zur Sozialversicherung sei die kindergeldschädliche Einkommensgrenze nach § 32 Abs. 4 EStG nicht überschritten.

Diesen Antrag lehnte die Bekl. mit Bescheid vom 18.10.2005 ab. Zur Begründung wies sie darauf hin, der Ablehnungsbescheid vom 27.03.2003 sei bestandskräftig. Eine Änderung dieses Bescheides könne nicht erfolgen, da keine der Änderungsvorschriften der §§ 172 bis 177 Abgabenordnung (AO) bzw. der § 70 Abs. 2 - 4 EStG einschlägig sei. Auf den Bescheid wird verwiesen.

Den gegen diesen Bescheid eingelegten Einspruch des Kl. vom 02.11.2005 wies die Bekl. mit Einspruchsentscheidung vom 14.11.2005 als unbegründet zurück.

Mit der am 25.11.2005 erhobenen Klage verfolgt der Kl. sein Begehren weiter.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Ablehnungsbescheid vom 18.10.2005 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14.11.2005 aufzuheben und Kindergeld für die Monate Januar bis September 2003 in der gesetzlichen festgeschriebenen Höhe zu gewähren.

Die Beklagte (Bekl.) beantragt,

die Klage abzuweisen, hilfsweise, im Fall des Unterliegens, die Revision zuzulassen.

Gründe:

Die Klage ist in vollem Umfang begründet.

Der Ablehnungsbescheid vom 18.10.2005 und die Einspruchsentscheidung vom 14.11.2005 sind rechtswidrig und verletzen den Kl. in seinen Rechten (vgl. § 100 Abs. 1 S. 2 Finanzgerichtsordnung - FGO -). Die Bekl. ist bei ihrer ablehnenden Entscheidung zu Unrecht davon ausgegangen, dass eine Änderung des Bescheides vom 27.03.2003 bezüglich der Monate Januar bis September 2003 nicht mehr möglich ist.

Für ein Kind, das - wie im Streitfall die Tochter des Kl. - das 18., aber das noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat, wird auf Antrag Kindergeld gewährt, wenn die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 EStG vorliegen (§§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 S. 2, 67 Abs. 2, 72 Abs. 7 EStG). Danach besteht ein Anspruch auf Kindergeld u.a. dann, wenn das Kind für einen Beruf ausgebildet wird (§ 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 a EStG). Im Streitfall lagen die Kindergeldvoraussetzungen nach § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 EStG im Zeitraum von Januar bis September 2003 vor. Die Tochter des Kl. befand sich in diesem Zeitraum in einer Ausbildung zur Krankenschwester.

Gemäß § 32 Abs. 4 S. 2 EStG setzt der Kindergeldanspruch zusätzlich voraus, dass die eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes, die zur Bestreitung des Unterhaltes oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, den Jahresgrenzbetrag von 7.188 EUR im Jahr 2003 nicht überschreiten. Dieser Betrag ist im Streitfall wegen des Ausbildungsendes zum 30.09.2003 nach § 32 Abs. 4 S. 4 EStG um 3/12 zu kürzen und beträgt danach 5.391 EUR.

Diese Einkommensgrenze ist im vorliegenden Fall nicht überschritten. Die im Rahmen des § 32 Abs. 4 S. 2 EStG zu berücksichtigenden Einkünfte der Tochter des Kl. berechnen sich wie folgt:

 Bruttogehalt lt. Lohnsteuerkarte8.391,06 EUR
   
AfA Personalcomputer261,43 EUR
   
Fahrten Wohnung-Arbeitsstätte 
109 × 10 × 0,36 EUR= 392,40 EUR 
109 × 4 × 0,40 EUR= 174,40 EUR 
 566,80 EUR566,80 EUR
   
Fahrten Berufsschule 
90 × 50 × 0,30 EUR= 1.350,00 EUR1.350,00 EUR
   
Verpflegungsmehraufwendungen 
90 × 6,00 EUR= 540,00 EUR540,00 EUR
   
Arbeitnehmeranteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag1.619,86 EUR
Einkünfte4.052,97 EUR

Der maßgebliche, anteilige Jahresgrenzbetrag von 5.391,00 EUR wird damit nicht überschritten.

Entgegen der Auffassung der Bekl. ist trotz des Aufhebungsbescheides vom 27.03.2003 eine Kindergeldfestsetzung für den Streitzeitraum Januar bis September 2003 möglich.

Der Senat braucht dabei nicht abschließend darüber zu befinden, ob der vorgenannte Bescheid in Rechtskraft erwachsen ist. Gegen eine solche Rechtskraft des Bescheides könnte sprechen, dass der Kl. während der Rechtsmittelfrist mit Schriftsatz vom 03.04.2003 seinen Kindergeldantrag für das Kalenderjahr 2003 zurückgenommen und damit dem Ablehnungsbescheid seine Grundlage entzogen hat. Unterstellt man insoweit zu Gunsten der Bekl., dass der Ablehnungsbescheid vom 27.03.2003 bestandskräftig geworden ist, ermöglicht § 70 Abs. 4 EStG eine Durchbrechung der Bestandskraft dieses Bescheides (vgl. Finanzgericht Düsseldorf, Urteil vom 12.01.2006, Az.: 14 K 4503/05 Kg; Finanzgericht Nürnberg, Urteil vom 12.01.2006, Az.: VI 311/2005, Finanzgericht Münster, Urteil vom 22.03.2006, Az.: 10 K 1105/04 Kg, Urteil vom 24.03.2006 11 K 4391/05 Kg; anderer Auffassung Finanzgericht Münster, Beschluss vom 17.03.2006, Az.: 14 K 5049/05 Kg n.v.).

Nach dieser Vorschrift ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG über- oder unterschreiten.

Unter welchen Voraussetzungen eine Unterschreitung des Grenzbetrages nach § 32 Abs. 4 EStG nachträglich bekannt geworden ist, ist im EStG selbst nicht geregelt. Infolgedessen sind die Voraussetzungen dieses Merkmals - wie der BFH bereits zu der mit § 70 Abs. 4 EStG vergleichbaren Regelung des § 11 Abs. 4 Eigenheimzulagegesetz entschieden hat (vgl. Urteil vom 07.07.2005 - IX R 66/04, BFH/NV 2006, 256) - nach Maßgabe von Rechtsprechung und Schrifttum zu der insoweit gleichlautenden Regelung in § 173 Abgabenordnung - AO - zu bestimmen. Danach sind zur Aufhebung oder Änderung von Kindergeldbescheiden führende nachträglich bekannt gewordene Tatsachen i.S.d. § 70 Abs. 4 EStG solche Tatsachen, die im Zeitpunkt des Abschlusses der Willensbildung des für die Kindergeldfestsetzung zuständigen Beamten noch nicht bekannt waren.

Im Streitfall hat sich nach Erlass des Aufhebungsbescheides herausgestellt, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes unter Berücksichtigung der nicht in die Bemessungsgröße des § 32 Abs. 4 S. 2 EStG einzubeziehenden gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge (vgl. Beschluss des BVerfG vom 11.01.2005 Az.: II BvR 167/02, NJW 2005, 1923) den Grenzbetrag nicht unterschreiten.

Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass die maßgebliche Einkommensgrenze nur dann unterschritten wird, wenn entsprechend dem Beschluss des BVerfG vom 11.01.2005 (a.a.O.) auch Sozialversicherungsbeiträge von den Einkünften und Bezügen des Kindes abgezogen werden (andere Auffassung: vgl. Finanzgericht Münster Beschluss vom 17.03.2006 a.a.O.). Insofern steht die Bestandskraft des Aufhebungsbescheides vom 27.03.2003 einer Änderung nach § 70 Abs. 4 EStG nicht entgegen. Diese Änderungsvorschrift soll nämlich sicherstellen, dass eine Kindergeldfestsetzung für ein volljähriges Kind auch nach Ablauf des Kalenderjahres korrigiert werden kann, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag entgegen einer früheren Prognose der Familienkasse über - oder unterschreiten. Die Vorschrift des § 70 Abs. 4 EStG trägt dem Umstand Rechnung, dass eine abschließende Entscheidung darüber, ob die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag überschreiten oder nicht, regelmäßig immer erst nach Ablauf des betreffenden Kalenderjahres getroffen werden kann (BFH, Urteil vom 26.07.2001, Az.: VI R 55/00, BStBl. II 2002, 86; vom 30.11.2004 Az.: 8 R 6/03, BFH/NV 2005, 890). Vor Ablauf des Kalenderjahres steht die tatsächliche Höhe der Einkünfte und Bezüge zwangsläufig nicht fest, vielmehr ist insoweit nur eine mehr oder weniger sichere Prognose möglich, nach der die Familienkasse die Entscheidung über die Gewährung oder Nichtgewährung des Kindergeldes für das noch laufende Kalenderjahr trifft. Insofern wird die tatsächliche Höhe der Einkünfte und Bezüge nach Ablauf des betreffenden Kalenderjahres gegenüber der Prognoseentscheidung zwangsläufig nachträglich bekannt. Damit eröffnet § 70 Abs. 4 EStG stets eine Berichtigungsmöglichkeit, soweit die abschließende Prüfung nach Ablauf des Jahres ein Unter- oder Überschreiten des Grenzbetrages abweichend von der Prognoseentscheidung ergibt. Dies gilt nach der vom Senat als zutreffend erachteten Entscheidung des BFH vom 26.07.2001 (Az.: VI R 55/00, BFHE 196, 270, BStBl. II 2002, 86) auch dann, wenn die Familienkasse bei ihrer Prognoseentscheidung voraussichtliche Aufwendungen des Kindes als Werbungskosten berücksichtigt hat, die bei einer abschließenden Prüfung nicht mehr als Werbungskosten anerkannt werden, weil sie insoweit ihre Rechtsauffassung geändert hat. Entsprechendes muss auch für den umgekehrten Fall gelten, das bestimmte Aufwendungen im Rahmen der Prognoseentscheidung als nichtabzugsfähig behandelt wurden, was sich nachträglich als rechtlich unzutreffend herausstellt. Insofern tragen derartige Prognoseentscheidungen in tatsächlicher oder rechtliche Hinsicht stets den Charakter der Vorläufigkeit in sich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 FGO.

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zugelassen, § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.

Ende der Entscheidung

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