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Gericht: Finanzgericht Münster
Urteil verkündet am 05.07.2006
Aktenzeichen: 1 K 780/06 Kg
Rechtsgebiete: EStG


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 4
EStG § 70 Abs. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Münster

1 K 780/06 Kg

Tenor:

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 16.11.2005 und der Einspruchsentscheidung vom 01.02.2006 verpflichtet, gegenüber dem Kläger für das Kind F F für den Zeitraum Januar 2005 bis einschließlich Mai 2005 Kindergeld in der gesetzlichen Höhe festzusetzen.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beklagte hatte mit Bescheid vom 02.05.2005 die Festsetzung von Kindergeld für das am 14.03.1985 geborene, sich in der Berufsausbildung befindende Kind F*** ab Januar 2005 aufgehoben. Zur Begründung hatte sie darauf verwiesen, dass die Einkünfte voraussichtlich oberhalb der maßgeblichen Einkunftsgrenze liegen würden. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Am 12.10.2005 beantragte der Kläger unter Hinweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2005 (2 BvR 167/02) zur Abzugsfähigkeit der Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung erneut die Festsetzung von Kindergeld für F*** ab Januar 2005. Für den Zeitraum Juni 2005 bis November 2005 setzte die Beklagte durch Bescheid vom 16.11.2005 Kindergeld für F*** fest. Eine Festsetzung für die Monate Januar bis Mai 2005 lehnte sie unter Hinweis auf den Bescheid vom 02.05.2005 ab. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes dürfe Kindergeld erst vom Monat nach Bekanntgabe des ursprünglichen, bestandskräftigen Bescheides festgesetzt werden. Der dagegen erhobene Einspruch blieb erfolglos. In der Begründung der Einspruchsentscheidung vom 01.02.2006 wies die Beklagte darauf hin, die Tatbestandsvoraussetzungen der Korrekturvorschriften, nach denen die Bestandskraft des Aufhebungsbescheides vom 02.05.2005 durchbrochen werden könnte, lägen nicht vor. Insbesondere scheide eine Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO aus, weil eine nachträgliche Änderung der Rechtsprechung oder eine andere rechtliche Beurteilung des Sachverhaltes durch die Verwaltungsbehörde keine neue Tatsache i.S. von § 173 AO sei.

Die Beklagte ging von folgenden Einkünften und Bezügen der sich in der Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin befindenden Tochter aus:

Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit:

01.01.-30.09.2005

822,51 EUR ./. 171,08 EUR AN-Ant. SV - 651,43 EUR x 9 Monate 5.862,87 EUR

01.10.-31.12.2005

918,38 EUR ./. 191,02 EUR AN-Ant. SV = 727,36 EUR x 3 Monate 2.182,08 EUR

Urlaubsgeld 100 EUR ./. 20,80 EUR AN-Ant. SV 79,20 EUR

./. Arbeitnehmer-Pauschbetrag 920,00 EUR

Einkünfte 7.204,15 EUR

Grenzbetrag 7.680,00 EUR

Mit Schreiben vom 23.02.2006 erhob der Kläger gegen die Einspruchsentscheidung Klage und verfolgt sein Begehren weiter. Zur Begründung trägt er vor, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2005 sei nicht nach der Verwaltungsentscheidung, sondern bereits fast vier Monate vorher ergangen und noch vor Ablauf der Einspruchsfrist veröffentlicht worden. Die Beklagte habe das geltende Recht falsch angewendet.

Im Übrigen sei der Bescheid vom 02.05.2005 nicht bestandskräftig geworden. Der Kläger habe sich am 23.05.2005 telefonisch mit der Beklagten in Verbindung gesetzt und unter Hinweis auf das Urteil des Bundesverfassungsgericht mündlich beantragt, Kindergeld für F*** festzusetzen. Insoweit werde auf den Einzelverbindungsnachweis verwiesen. Darüber hinaus sei der Kläger vor Ablauf der Einspruchsfrist persönlich in den Räumen der Beklagten gewesen und habe die Sachbearbeiterin aufgefordert, den Bescheid vom 02.05.2005 aufzuheben. Jedenfalls sei deutlich geworden, dass der Kläger den Bescheid vom 02.05.2005 nicht habe hinnehmen wollen. Die Sachbearbeiterin der Beklagten sei nach dem Telefonat und wegen der persönlichen Vorsprache nach Treu und Glauben verpflichtet gewesen, den Kläger aufzuklären, wie ein formgültiger Einspruch zu erheben sei.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 16.11.2005 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 01.02.2006 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, gegenüber dem Kläger für das Kind F*** F***** für die Monate Januar bis Mai 2005 Kindergeld in der gesetzlichen Höhe zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung wiederholt sie im Wesentlichen den Vortrag aus dem Vorverfahren. Die Angaben des Klägers, er habe telefonisch und persönlich gegenüber der Sachbearbeiterin der Beklagten auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hingewiesen, sei widersprüchlich und als Schutzbehauptung zu werten. Im Übrigen existierten weder über das Telefonat noch über die persönliche Vorsprache Aktenvermerke.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und die Kindergeldakte Bezug genommen.

Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung, § 90 Abs. 2 FGO.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist begründet.

Die Beklagte hat es zu Unrecht abgelehnt, gegenüber dem Kläger für das Kind F*** Kindergeld für die Monate Januar bis Mai 2005 festzusetzen.

Für ein Kind, das - wie im Streitfall die Tochter des Klägers - das 18., aber noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat, wird auf Antrag Kindergeld gewährt, wenn die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 EStG vorliegen (§§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 2, 67 Abs. 2, 72 Abs. 7 EStG). Danach besteht ein Anspruch auf Kindergeld u.a. dann, wenn das Kind für einen Beruf ausgebildet wird (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 a EStG). Die Tochter des Klägers befand sich im Streitzeitraum Januar bis Mai 2005 in der Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin.

Die eigenen Einkünfte und Bezüge der Tochter im Jahr 2005 überschreiten mit 7.204,15 EUR den Jahresgrenzbetrag von 7.680,00 EUR (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG), wie die Beklagte zutreffend ermittelt hat, unstreitig nicht.

Entgegen der Auffassung der Beklagten kann trotz der Bestandskraft des Aufhebungsbescheides vom 02.05.2005 die beantragte Kindergeldfestsetzung für den Streitzeitraum Januar bis Mai 2005 erfolgen. § 70 Abs. 4 EStG ermöglicht die Durchbrechung der Bestandskraft (s.a. Finanzgericht Münster, Urteil vom 29.03.2006, 1 K 4716/05 Kg, Urteil vom 24.03.2006, 11 K 4391/05 Kg, Urteil vom 22.03.2006, 10 K 1105/04 Kg; Finanzgericht Düsseldorf, Urteil vom 12.01.2006, 14 K 4503/05 Kg; Finanzgericht Nürnberg, Urteil vom 12.01.2006, VI 311/2005, EFG 2006, 752).

Nach dieser Vorschrift ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG über- oder unterschreiten.

Unter welchen Voraussetzungen eine Unterschreitung des Grenzbetrages nach § 32 Abs. 4 EStG nachträglich bekannt geworden ist, ist im Einkommensteuergesetz selbst nicht geregelt. Infolgedessen sind die Voraussetzungen dieses Merkmals - wie der Bundesfinanzhof bereits zu der mit § 70 Abs. 4 EStG vergleichbaren Regelung des § 11 Abs. 4 Eigenheimzulagegesetz entschieden hat (BFH, Urteil vom 07.07.2005 IX R 66/04, BFH/NV 2006, 256) - nach Maßgabe von Rechtsprechung und Schrifttum zu der insoweit gleichlautenden Regelung in § 173 AO - zu bestimmen. Danach sind zur Aufhebung oder Änderung von Kindergeldbescheiden führende nachträglich bekannt gewordene Tatsachen i.S. des § 70 Abs. 4 EStG solche Tatsachen, die im Zeitpunkt des Abschlusses der Willensbildung des für die Kindergeldfestsetzung zuständigen Beamten noch nicht bekannt waren.

Im Streitfall hat sich nach Erlass des Aufhebungsbescheides herausgestellt, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes unter Berücksichtigung der nicht in die Bemessungsgröße des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einzubeziehenden gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge (BVerfG, Beschluss vom 11.01.2005, II BvR 167/02, NJW 2005, 1923) den Grenzbetrag nicht unterschreiten.

Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass die maßgebliche Einkommensgrenze nur dann unterschritten wird, wenn entsprechend dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2005 (a.a.O.) auch Sozialversicherungsbeiträge von den Einkünften und Bezügen des Kindes abgezogen werden (a.A.: FG Münster, Beschluss vom 17.03.2006, 14 K 5049/05 Kg n.v.). Insofern steht die Bestandskraft des Aufhebungsbescheides vom 02.05.2005 einer Änderung nach § 70 Abs. 4 EStG nicht entgegen. Diese Änderungsvorschrift soll nämlich sicherstellen, dass eine Kindergeldfestsetzung für ein volljärhiges Kind auch nach Ablauf des Kalenderjahres korrigiert werden kann, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag entgegen einer früheren Prognose der Familienkasse über- oder unterschreiten. Die Vorschrift des § 70 Abs. 4 EStG trägt dem Umstand Rechnung, dass eine abschließende Entscheidung darüber, ob die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag überschreiten oder nicht, regelmäßig immer erst nach Ablauf des betreffenden Kalenderjahres getroffen werden kann (BFH, Urteil vom 26.07.2001, VI R 55/00, BStBl II 2002, 86; vom 30.11.2004, VIII R 6/03, BFH/NV 2005, 890). Vor Ablauf des Kalenderjahres steht die tatsächliche Höhe der Einkünfte und Bezüge zwangsläufig nicht fest, vielmehr ist insoweit nur eine mehr oder weniger sichere Prognose möglich, nach der die Familienkasse die Entscheidung über die Gewährung oder Nichtgewährung des Kindergeldes für das noch laufende Kalenderjahr trifft. Insofern wird die tatsächliche Höhe der Einkünfte und Bezüge nach Ablauf des betreffenden Kalenderjahres gegenüber der Prognoseentscheidung zwangsläufig nachträglich bekannt. Damit eröffnet § 70 Abs. 4 EStG stets eine Berichtigungsmöglichkeit, soweit die abschließende Prüfung nach Ablauf des Jahres ein Unter- oder Überschreiten des Grenzbetrages abweichend von der Prognoseentscheidung ergibt. Dies gilt auch dann, wenn die Familienkasse bei ihrer Prognoseentscheidung voraussichtliche Aufwendungen des Kindes als Werbungskosten berücksichtigt hat, die bei einer abschließenden Prüfung nicht mehr als Werbungskosten anerkannt werden, weil sie insoweit ihre Rechtsauffassung geändert hat. Entsprechendes muss auch für den umgekehrten Fall gelten, dass bestimmte Aufwendungen im Rahmen der Prognoseentscheidung als nichtabzugsfähig behandelt wurden, was sich nachträglich als rechtlich unzutreffend herausstellt. Insofern tragen derartige Prognoseentscheidungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht stets den Charakter der Vorläufigkeit in sich.

Vor diesem Hintergrund kommt es auf die Bewertung des Klägervortrages nicht mehr an, er habe innerhalb der Einspruchsfrist telefonisch und persönlich gegenüber der Sachbearbeiterin der Beklagten deutlich gemacht, dass er mit dem Bescheid vom 02.05.2005 nicht einverstanden sei. Die Sachbearbeiterin habe ihn jedoch über die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Einspruchserhebung nicht aufgeklärt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zugelassen, § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.



Ende der Entscheidung

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