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Gericht: Finanzgericht Münster
Urteil verkündet am 25.04.2006
Aktenzeichen: 11 K 3797/05 Kg
Rechtsgebiete: EStG, AO 1977


Vorschriften:

AO 1977 § 173 Abs 1 Satz 1 Nr 2
EStG § 70 Abs 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL

In dem Rechtsstreit

hat der 11. Senat des Finanzgerichts Münster in der Sitzung vom 25.04.2006, an der teilgenommen haben:

Vorsitzender Richter am Finanzgericht ...

Richter am Finanzgericht ...

Richterin ...

Ehrenamtlicher Richter ...

Ehrenamtliche Richterin ...

im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

Tatbestand

I.

Zu entscheiden ist, ob zugunsten des Klägers noch Kindergeld festzusetzen ist.

K., die am ...1983 geborene Tochter des Klägers, absolviert seit dem 01.04.2004 eine Ausbildung als Krankenschwester. Ausweislich einer der Beklagten am 02.02.2005 vorgelegten Ausbildungsbescheinigung hat K. im Kalenderjahr 2004 Arbeitslohn i.H.v. 7.293,67 Euro bezogen und würde für das Jahr 2005 voraussichtlich 10.701 Euro erhalten. Angaben zu Sozialversicherungsbeiträgen enthält die Bescheinigung nicht.

Den Antrag des Klägers, für K. ab April 2004 Kindergeld festzusetzen, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 03.03.2005 ab. Zur Begründung führte die Beklagte aus, dass die Einkünfte und Bezüge, die K. in der Zeit von April bis Dezember 2004 bezogen habe, den anteiligen Grenzbetrag von 5.760 EUR (9/12 von 7.680 EUR) übersteigen würden und die Einkunftsgrenze voraussichtlich auch im Jahr 2005 überschritten werde.

Der Bescheid vom 03.03.2005 wurde von dem Kläger nicht angefochten.

Im August 2005 stellte der Kläger einen neuen Antrag auf Kindergeld und reichte eine weitere Ausbildungsbescheinigung ein, wonach im Kalenderjahr 2004 Sozialversicherungsbeiträge i.H.v. 1.533,63 Euro vom Arbeitslohn einbehalten worden sind und im Kalenderjahr 2005 voraussichtlich i.H.v. 2.263 Euro einbehalten werden.

Die Beklagte setzte daraufhin mit Bescheid vom 08.08.2005 Kindergeld lediglich ab April 2005 fest. Zur Begründung ihrer ablehnenden Entscheidung für den davor liegenden Zeitraum teilte die Beklagte mit, dass der Grenzbetrag bei Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge zwar auch im Jahr 2004 nicht überschritten werde. Eine Festsetzung für den Zeitraum April 2004 bis März 2005 sei dennoch nicht möglich, da einer derartigen Änderung die Bestandskraft des Bescheides vom 03.03.2005 entgegenstehe und Änderungsvorschriften nicht ersichtlich seien. An dieser Ansicht hielt die Beklagte auch in der Einspruchsentscheidung vom 25.08.2005 fest.

Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Festsetzung von Kindergeld auch für den Zeitraum April 2004 bis März 2005.

Gegen den Bescheid vom 03.03.2005 habe er keine Rechtsmittel eingelegt, weil er auf die Richtigkeit des Bescheides vertraut habe. Erst nachträglich sei er durch die Presse darauf aufmerksam geworden, dass die Beklagte bei der Überprüfung der Einkommensgrenzen bislang von einer falschen Rechtsauffassung ausgegangen sei.

Der Bescheid vom 03.03.2005 sei materiell unrichtig und auch für den Zeitraum ab April 2004 zu seinen - des Klägers - Gunsten zu ändern. Dies ergebe sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2005 - 2 BvR 167/02, worin das Bundesverfassungsgericht klargestellt habe, dass Sozialversicherungsbeiträge schon immer bei der Einkommensermittlung hätten abgezogen werden müssen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Bescheid vom 08.08.2005 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 25.08.2005 aufzuheben, soweit er den Zeitraum April 2004 bis März 2005 betrifft, und die Beklagte zu verpflichten, für das Kind K. Kindergeld für den Zeitraum April 2004 bis März 2005 festzusetzen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist weiterhin der Ansicht, dass eine Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum vor April 2005 an der Bestandskraft des Bescheides vom 03.03.2005 scheitere. Darauf, dass in dem Bescheid bezüglich des Jahres 2005 eine Prognoseentscheidung getroffen worden sei, komme es nicht an. Auch Prognoseentscheidungen würden "Bestandskraft" bis einschließlich ihres Bekanntgabemonats entfalten.

Insbesondere komme allein wegen der von K. entrichteten Sozialversicherungsbeiträge keine Änderung nach § 70 Abs. 4 EStG in Betracht. Denn eine Änderung der Rechtsauffassung durch die Rechtsprechung sei kein nachträgliches Bekanntwerden im Sinne dieser Vorschrift. Eine Änderungsmöglichkeit nach § 70 Abs. 4 EStG sei vielmehr nur gegeben, wenn nachträglich bekannt werde, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes - exklusive der Sozialversicherungsbeiträge - den maßgeblichen Grenzbetrag unterschritten.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Schriftsätze der Beteiligten sowie die Kindergeldakte verwiesen.

Gründe

II.

Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 90 Abs. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung.

Die Klage ist teilweise begründet.

Dem Kläger steht für K. Kindergeld für den Zeitraum Januar 2005 bis März 2005 zu. Die Festsetzung von Kindergeld auch für das Jahr 2004 ist dagegen nicht mehr möglich.

Zwar sind materiell-rechtlich die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch im Jahr 2004 erfüllt. Insbesondere liegen die Einkünfte und Bezüge von K. bei Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge unter dem maßgeblichen anteiligen Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG. Die Festsetzung von Kindergeld ist jedoch aus formell-rechtlichen Gründen nicht mehr zulässig, da einer derartigen Festsetzung die Bestandskraft des ablehnenden Bescheides vom 03.03.2005 entgegensteht und die Voraussetzungen einer Änderungsnorm nicht vorliegen.

Die vom BVerfG vorgenommene verfassungskonforme Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG, wonach Sozialversicherungsbeiträge bei der Überprüfung der Einkunftsgrenzen einkünftemindernd zu berücksichtigen sind, stellt allein keine Grundlage für die Änderung bestandskräftiger Bescheide dar. Denn § 79 Abs. 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes -BVerfGG- bestimmt, dass nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, in ihrer Existenz nicht mehr in Frage gestellt werden. § 79 Abs. 2 BVerfGG ist entsprechend anzuwenden, wenn das BVerfG nicht die Norm selbst, sondern eine bestimmte Auslegungsvariante der Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hat (FG Düsseldorf, Urteil vom 12. 01.2006 - 14 K 4503/05 Kg, juris, unter Verweis auf den Beschluss des BVerfG vom 06.12.2005 - 1 BvR 1905/02, DStR 2006, 108).

Die Festsetzung von Kindergeld für das Jahr 2004 kommt mithin nur in Betracht, wenn eine Vorschrift die nachträgliche Änderung des Bescheides vom 03.03.2005 erlaubt. Eine derartige Änderungsvorschrift ist jedoch nicht gegeben. Insbesondere kommt keine Änderung nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO in Betracht.

Nach dieser Vorschrift kann ein Steuerbescheid geändert werden, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer (höherem Kindergeld) führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Da § 173 AO keine Rechtsgrundlage für die Beseitigung von Rechtsfehlern bietet, verlangt die Anwendung dieser Vorschrift zusätzlich die Kontrolle, dass nicht rechtliche Erwägungen die eigentliche Ursache für die Aufhebung oder Änderung eines bestandskräftigen Steuerbescheids sind, d.h. die nachträglich bekannt gewordene Tatsache muss auch rechtserheblich sein. Dies ist nur dann der Fall, wenn die Behörde bei rechtzeitiger Kenntnis der später bekannt werdenden Tatsachen schon bei der ursprünglichen Veranlagung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer anderen Steuerfestsetzung gelangt wäre (st. Rspr, vgl. Beschluss des Großen Senats des BFH vom 23.11.1987 - GrS 1/86, BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180; Urteil vom 25.07.2001 - VI R 82/96, BFH/NV 2001, 1533). Die Frage, wie die Behörde den Sachverhalt bei Kenntnis der neuen Tatsache gewürdigt hätte, ist grundsätzlich unter Berücksichtigung der zum Zeitpunkt der Veranlagung vorliegenden Rechtsprechung und der damaligen Verwaltungsauffassung zu beurteilen, wobei davon auszugehen ist, dass eine rechtlich zutreffende Entscheidung ergangen wäre (vgl. BFH, Beschluss vom 14.09.2005 - VI R 18/03, BFH/NV 2006, 13).

Im Streitfall ist der Umstand, dass K. im Kalenderjahr 2004 Sozialversicherungsbeiträge i.H.v. 1.533,63 Euro entrichtet hat, der Beklagten zwar erst nach Erlass des Bescheides vom 03.03.2005 und damit nachträglich bekannt geworden. Diese Tatsache ist jedoch nicht rechtserheblich, da die Beklagte die Sozialversicherungsbeiträge am 03.03.2005 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei der Überprüfung des Grenzbetrages nicht einkünftemindernd berücksichtigt hätte. Zwar war zu diesem Zeitpunkt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2005 schon ergangen, jedoch war es noch nicht veröffentlicht (s. Pressemitteilung des BVerfG Nr. 40/2005 vom 13. Mai 2005). Auch wiesen die im März 2005 geltenden Verwaltungsvorschriften die Beklagte an, bei der Überprüfung der Einkunftsgrenzen die Einkünfte ohne Abzug von Sozialversicherungsbeiträgen heranzuziehen (DA-FamEStG 2004, Tz. 63.4.2.1 Abs. 2 Satz 6). Diese Handhabung erfolgte in Einklang mit der bis dahin ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (z.B. Urteil vom 14.11.2000 - VI R 52/98, BStBl II 2001, 489).

Auch ermöglicht § 70 Abs. 4 EStG keine Änderung des Bescheides vom 03.03.2005, soweit sich dieser auf das Kalenderjahr 2004 bezieht.

Nach § 70 Abs. 4 EStG ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG über- oder unterschreiten. Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist es sicherzustellen, dass eine Prognoseentscheidung, die die Behörde in Bezug auf die Einkünfte und Bezüge des Kindes während des noch laufenden Kalenderjahres getroffen hat, geändert werden kann, wenn sich nach Ablauf des Kalenderjahres herausstellt, dass diese Prognose falsch war. Hierdurch wird dem Umstand Rechnung getragen, dass regelmäßig erst im Jahresrückblick darüber entschieden werden kann, ob die Einkünfte und Bezüge eines Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG über- oder unterschreiten.

Bei Erlass des Bescheides vom 03.03.2005 lag bezüglich der Einkünfte und Bezüge des Jahres 2004 allerdings keine Prognoseentscheidung mehr vor. Dieses Kalenderjahr war bereits abgeschlossen und die Einkünfte und Bezüge waren abschließend ermittelbar. Eine Änderung nach § 70 Abs. 4 EStG scheidet deshalb insoweit aus.

Hinsichtlich des Zeitraums Januar bis März 2005 liegen die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 70 Abs. 4 EStG dagegen vor.

Da am 03.03.2005 hinsichtlich der Frage, ob der Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG im Kalenderjahr 2005 über- oder unterschritten werden würde, nur eine Prognose getroffen werden konnte, ist die Entscheidung nach Ablauf des Kalenderjahrs zu überprüfen und bei Bedarf zu ändern. Bei dieser späteren Überprüfung der Einkunftsgrenze sind auch neuere rechtliche Erkenntnisse, die auf einer geänderten Rechtsprechung beruhen, selbstverständlich zu berücksichtigen. Dem hat die Beklagte bereits dahingehend Folge geleistet, dass sie trotz ihrer ursprünglich ablehnenden Entscheidung Kindergeld für den Zeitraum ab April 2005 festgesetzt hat, nachdem sie erkannt hatte, dass die Einkünfte und Bezüge von K. unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Kalenderjahr 2005 unter dem Grenzbetrag liegen würden.

Entgegen der Auffassung der Beklagten hat die Kindergeldfestsetzung allerdings auch für die Monate Januar bis März 2005 zu erfolgen. Insbesondere steht der Umstand, dass der Bescheid vom 03.03.2005 nicht angefochten wurde, einer Änderung nicht im Wege. § 70 Abs. 4 EStG stellt sicher, dass weder der Kindergeldberechtigte noch die Familienkasse an eine - aus welchen Gründen auch immer - fehlerhafte Prognoseentscheidung gebunden sind (FG Münster, Urteil vom 24.03.2006 - 11 K 4391/05 Kg). Ergibt die nach Ablauf des Jahres stattfindende abschließende Überprüfung ein von der Prognoseentscheidung abweichendes Über- oder Unterschreiten der Einkunftsgrenze, ist die auf der Prognose beruhende stattgebende oder ablehnende Entscheidung über die Kindergeldfestsetzung zu berichtigen.

Dafür, dass § 70 Abs. 4 EStG eine Änderung der Kindergeldfestsetzung auch bei Rechtsfehlern ermöglicht, spricht zudem, dass die Vorschrift gerade nicht das nachträgliche Bekanntwerden von Tatsachen verlangt, sondern auf die "Einkünfte und Bezüge" abstellt. Was zu den Einkünften und Bezügen gehört und wie hoch diese sind, lässt sich nur durch eine rechtliche Beurteilung bestimmen. Mithin liegt es nahe, dass die Änderungsmöglichkeit des § 70 Abs. 4 EStG auch dann greift, wenn nachträglich erkannt wird, dass die ursprünglich vorgenommene rechtliche Würdigung fehlerhaft war (so auch Wüllenkemper, EFG 2006, 509).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO und die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 151 Abs. 1 und 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen.

Ende der Entscheidung

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