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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht Münster
Urteil verkündet am 24.03.2006
Aktenzeichen: 11 K 4391/05 Kg
Rechtsgebiete: EStG


Vorschriften:

EStG § 32 Abs 4 S 2
EStG § 70 Abs 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL

In dem Rechtsstreit

hat der 11. Senat des Finanzgerichts Münster in der Sitzung vom 24.03.2006, an der teilgenommen haben:

Vorsitzender Richter am Finanzgericht ...

Richter am Finanzgericht ...

Richterin ...

Ehrenamtliche Richterin ...

Ehrenamtliche Richterin ...

im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

Tatbestand

I.

Zu entscheiden ist, ob zu Gunsten des Klägers (Kl.) noch Kindergeld festgesetzt werden kann.

Der Kl. ist der Vater des am 06.01.1985 geborenen Kindes C.. Von August 2001 bis Januar 2005 befand sich C. in einer Ausbildung zum Werkzeugmacher.

Mit Bescheid vom 12.12.2002 lehnte es die Beklagte (Bekl.) unter Hinweis darauf, dass C. im Januar 2003 sein 18. Lebensjahr vollende und die von ihm im Zeitraum Februar bis Dezember 2003 voraussichtlich erzielten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit den für das Jahr 2003 maßgeblichen anteiligen Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 S. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) i. H. v. 6.589,00 EUR (= 11/12 von 7.188,00 EUR) übersteigen würden, ab, zu Gunsten des Kl. auch für den Zeitraum ab Februar 2003 weiterhin Kindergeld für C. festzusetzen. Dabei ging die Bekl. auf der Grundlage einer Ausbildungsbescheinigung von C.s Ausbildungsbetrieb davon aus, dass C. im Zeitraum Februar bis Dezember 2003 voraussichtlich Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit i. H. v. ... EUR erzielen werde. Bei ihrer Berechnung der voraussichtlichen Einkünfte C.s im Zeitraum Februar bis Dezember 2003 berücksichtigte die Bekl. die von C.s Ausbildungsvergütung einbehaltenen Sozialversicherungsbeiträge nicht. Auch die Ausbildungsbescheinigung von C.s Ausbildungsbetrieb enthielt hierzu keinerlei Angaben.

Der Bescheid vom 12.12.2002 wurde vom Kl. nicht angefochten.

Nachdem der Kl. von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2005 - 2 BvR 167/02 (NJW 2005, 1923) Kenntnis erlangt hatte, wandte er sich mit Schreiben vom 17.07.2005 an die Bekl. und beantragte, zu seinen Gunsten auch für den Zeitraum Februar 2003 bis Dezember 2004 noch Kindergeld für C. festzusetzen. Zur Begründung seines Antrags verwies er darauf, dass C.s Einkünfte und Bezüge unter Berücksichtigung der von dessen Ausbildungsvergütung einbehaltenen Sozialversicherungsbeiträge (Februar bis Dezember 2003: ... EUR; 2004: ... EUR) die jeweils maßgeblichen Grenzbeträge von 6.589,00 EUR (Februar bis Dezember 2003) bzw. 7.680,00 EUR (2004) nicht überstiegen hätten.

Mit Bescheid vom 05.08.2005 setzte die Bekl. daraufhin zu Gunsten des Kl. wieder Kindergeld für C. fest, allerdings erst mit Wirkung ab Januar 2004. Die Festsetzung von Kindergeld bereits ab Februar 2003 lehnte sie unter Hinweis auf die Bestandskraft ihres Bescheides vom 12.12.2002 ab.

Hiergegen richtet sich die von dem Kl. nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage.

Er ist der Auffassung, dass die ablehnende Entscheidung vom 12.12.2002 vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht länger aufrecht erhalten werden könne. Gegenüber der von ihm erstrebten Festsetzung von Kindergeld für C. bereits mit Wirkung ab Februar 2003 könne sich die Bekl. im Hinblick auf die Regelung des § 70 Abs. 4 EStG auch nicht mit Erfolg auf die Bestandskraft ihres Bescheides vom 12.12.2002 berufen.

Der Kl. beantragt sinngemäß,

den Bescheid vom 05.08.2005, soweit damit eine Festsetzung von Kindergeld für C. mit Wirkung ab Februar 2003 abgelehnt wurde, und die Einspruchsentscheidung (EE) vom 28.09.2005 aufzuheben und die Bekl. zu verpflichten, zu seinen Gunsten Kindergeld für C. bereits mit Wirkung ab Februar 2003 festzusetzen.

Die Bekl. beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass der von dem Kl. erstrebten Festsetzung von Kindergeld für C. mit Wirkung ab Februar 2003 bereits die Bestandskraft des Bescheides vom 12.12.2002 entgegenstehe. Denn auch negative Prognoseentscheidungen würden "Bestandskraft" bis einschließlich ihres Bekanntgabemonats entfalten.

Eine Änderung des Bescheides vom 12.12.2002 allein wegen der von C. im Zeitraum Februar bis Dezember 2003 entrichteten Sozialversicherungsbeiträge werde auch nicht durch die Regelung des § 70 Abs. 4 EStG ermöglicht. Denn eine Änderung der Rechtsauffassung durch die Rechtsprechung sei kein nachträgliches Bekanntwerden im Sinne dieser Vorschrift. Die Vorschrift des § 70 Abs. 4 EStG könne im Streitfall vielmehr nur dann zur Anwendung kommen, wenn nachträglich bekannt würde, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes C. - exklusive der Sozialversicherungsbeiträge - den maßgeblichen Grenzbetrag unterschritten.

Vor diesem Hintergrund sei es daher auch unerheblich, zu welchem Zeitpunkt dem zuständigen Bearbeiter die genaue Höhe der von C. im Zeitraum Februar bis Dezember 2003 erzielten Einkünfte und Bezüge bekannt geworden sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze sowie die von der Bekl. vorgelegte Kindergeldakte verwiesen.

Gründe

II.

Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten gem. § 90 Abs. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung.

Die Klage ist begründet.

Dem Kl. steht ein Anspruch auf Festsetzung von Kindergeld zu seinen Gunsten für das Kind C. bereits mit Wirkung ab Februar 2003 zu. Denn die von C. in dem Zeitraum Februar bis Dezember 2003 erzielten Einkünfte und Bezüge, die nach Maßgabe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2005 - 2 BvR 167/02 (NJW 2005, 1923) unter Berücksichtigung der von C.s Ausbildungsvergütung einbehaltenen Sozialversicherungsbeiträge zu ermitteln sind, übersteigen den für den Zeitraum Februar bis Dezember 2003 maßgeblichen anteiligen Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 S. 2 EStG nicht.

Einer Festsetzung von Kindergeld zu Gunsten des Kl. für C. bereits mit Wirkung ab Februar 2003 steht auch nicht die Bestandskraft des Bescheides vom 12.12.2002 entgegen. Denn die Durchbrechung der Bestandskraft dieses Bescheides ist durch die Regelung des § 70 Abs. 4 EStG gedeckt.

Nach dieser Vorschrift ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG über- oder unterschreiten.

Unter welchen Voraussetzungen eine - im Streitfall unstreitig gegebene - Unterschreitung des Grenzbetrages nach § 32 Abs. 4 EStG nachträglich bekannt geworden ist, ist im Einkommensteuergesetz selbst nicht geregelt. Infolgedessen sind die Voraussetzungen dieses Merkmals - wie der BFH bereits zu der mit § 70 Abs. 4 EStG vergleichbaren Regelung des § 11 Abs. 4 Eigenheimzulagegesetz entschieden hat (vgl. Urteil vom 07.07.2005 - IX R 66/04, BFH/NV 2006, 256) - nach Maßgabe von Rechtsprechung und Schrifttum zu der insoweit gleichlautenden Regelung in § 173 AO zu bestimmen. Danach sind zur Aufhebung oder Änderung von Kindergeldbescheiden führende nachträglich bekannt gewordene Tatsachen im Sinne des § 70 Abs. 4 EStG solche Tatsachen, die im Zeitpunkt des Abschlusses der Willensbildung des für die Kindergeldfestsetzung zuständigen Beamten noch nicht bekannt waren.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat die Bekl. die vom Kl. begehrte Festsetzung von Kindergeld für das Kind C. bereits mit Wirkung ab Februar 2003 zu Unrecht abgelehnt. Denn die genaue Höhe der von der Ausbildungsvergütung des Kindes C. einbehaltenen Sozialversicherungsbeiträge und damit die genaue Höhe der nach § 32 Abs. 4 S. 2 EStG maßgeblichen Einkünfte und Bezüge des Kindes C. war dem für die Kindergeldfestsetzung zuständigen Mitarbeiter des Bekl. bei Erlass des Bescheides vom 12.12.2002 noch nicht bekannt, d. h. ist dem Bekl. nachträglich im Sinne des § 70 Abs. 4 EStG bekannt geworden.

Bei der genauen Höhe der von C. im Zeitraum Februar bis Dezember 2003 entrichteten Sozialbeiträge handelt es sich auch um eine rechtlich erhebliche Tatsache im Sinne des § 70 Abs. 4 EStG. Denn Tatsache ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann (vgl. Urteil des BFH vom 14.05.2003 - X R 60/01, BFH/NV 2003, 1144).

Demgegenüber kann sich die Bekl. auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass der Kl. den auf einer rechtsfehlerhaften Berechnung der von C. im Zeitraum Februar bis Dezember 2003 voraussichtlich erzielten Einkünfte und Bezüge beruhenden Bescheid vom 12.12.2002 hat bestandskräftig werden lassen. Denn durch die Einführung des § 70 Abs. 4 EStG in das Einkommensteuergesetz sollte u. a. auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass regelmäßig erst im Jahresrückblick darüber entschieden werden kann, ob die Einkünfte und Bezüge eines Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 S. 2 EStG über- oder unterschreiten, d. h. weder der Kindergeldberechtigte noch die Familienkasse sollten an eine - aus welchen Gründen auch immer - fehlerhafte Prognoseentscheidung gebunden sein (vgl. auch FG Düsseldorf, Urteile vom 12.01.2006 - 14 K 4078/05 und 14 K 4361/05 Kg, Juris-Dok.).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11 und 711 ZPO.

Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen.

Ende der Entscheidung

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