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Gericht: Finanzgericht Münster
Urteil verkündet am 19.12.2007
Aktenzeichen: 13 K 556/02 L
Rechtsgebiete: EStG, SGB IV, TVG


Vorschriften:

EStG § 3 Nr. 39
SGB IV § 8 Abs. 1 Nr. 1
TVG § 4 Abs. 1 S. 1
TVG § 4 Abs. 3
TVG § 5 Abs. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Münster

13 K 556/02 L

Tenor:

Unter Abänderung des Nachforderungsbescheids vom 16. November 2001 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11. Januar 2002 werden die Lohn- und Folgesteuern 1999 und 2000 wie folgt festgesetzt:

XXXXXXX

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger zu 9/10 und der

Beklagte zu 1/10.

Die Revision wird zugelassen.

Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Tatbestand:

Zu entscheiden ist über eine Lohnsteuernachforderung nach Steuerfreistellung des Arbeitslohns für geringfügig Beschäftigte nach § 3 Nr. 39 des Einkommensteuergesetzes (EStG).

Bei dem Kläger führte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) im Jahr 2001 eine Betriebsprüfung gemäß § 28p Abs. 1 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IV) durch. Die Prüferin stellte fest, dass für geringfügig Beschäftigte gem. § 8 Abs. 1 Nr. 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) die Zahlung des Urlaubsgeldes und der Sonderzahlung nicht bzw. nicht in entsprechender Höhe des Manteltarifvertrags für den ..................... des Landes Nordrhein-Westfalen gezahlt worden war. Dieser Tarifvertrag war gemäß § 5 des Tarifvertragsgesetzes (TVG) für allgemeinverbindlich erklärt worden. Diese Feststellungen führten zur Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen.

Im Oktober 2001 führte der Beklagte bei dem Kläger eine Lohnsteuer-Außenprüfung durch. Der Prüfer stellte unter Hinweis auf das Ergebnis der Prüfung durch die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte fest, dass für folgende Arbeitnehmerinnen in dem Zeitraum 1. April 1999 bis 30. April 2001 unter Berücksichtigung tarifvertraglich geschuldeter Einmalzahlungen für Urlaubs- und Weihnachtsgeld, die unstreitig jährlich 1.200 DM bzw. 790 DM für eine Vollzeitbeschäftigte betragen, das laufende Arbeitsentgelt die Geringfügigkeitsgrenze in Höhe von 630 DM monatlich überschritten hatte:

 1999 2000 2001
B.B. 
F.F.F.
H1.H1. 
L.L. 
T.T. 
 U.

Mangels Beschäftigung i. S. des § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV sei das Arbeitsentgelt nicht gemäß § 3 Nr. 39 EStG steuerbefreit. Steuerpflichtig seien aber nur die tatsächlich gezahlten Beträge. Wegen der Einzelheiten, auch zur Höhe der nachgeforderten Lohnsteuern, wird auf Tz. 3 des Außenprüfungsberichts vom 09.11.2001 verwiesen. Ein entsprechender Nachforderungsbescheid erging am 16.11.2001.

Mit dem Einspruch vertrat der Kläger die Auffassung, für die Festsetzung der Grenzen bei den geringfügig Beschäftigten könne nicht entsprechend zum Sozialversicherungsrecht das Entstehungsprinzip maßgebend sein. Steuerlich gelte das Zuflussprinzip. Nach den zugeflossenen Arbeitslöhnen seien die Grenzen des § 3 Nr. 39 EStG eingehalten. Zahle ein Arbeitgeber untertariflich, seien aus dem nicht oder zu wenig gezahlten Arbeitsentgelt keine Steuern zu zahlen, weil die Einnahmen nicht zugeflossen seien.

Mit der Einspruchsentscheidung vom 11.01.2002 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Die Steuerfreiheit nach § 3 Nr. 39 EStG sei nicht zu gewähren. Auf Grund des Überschreitens der Geringfügigkeitsgrenze lägen die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV nicht vor. Der Verzicht von Arbeitnehmern auf die Auszahlung arbeitsvertraglich zugesicherter Leistungen sei unbeachtlich, da Beiträge zur Sozialversicherung auch für geschuldetes, bei Fälligkeit nicht gezahltes Arbeitsentgelt zu entrichten seien. Der Steuerpflicht unterliege jedoch nur der tatsächlich zugeflossene Arbeitslohn.

Mit der Klage wiederholt und vertieft der Kläger sein außergerichtliches Vorbringen. Der Rechtsstreit wegen der Versicherungsbeiträge vor dem Sozialgericht Z. S ... KR .../02 wurde durch Vergleich vom 02.06.2004 in der Hauptsache erledigt. Hiernach sollte für die Entscheidung der Rechtsfrage, ob der Kläger bei untertariflicher Bezahlung seiner Arbeitnehmer trotz Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrages Gesamtsozialversicherungsbeiträge aus dem geschuldeten Arbeitsentgelt oder dem gezahlten Entgelt zu entrichten habe (Geltung des Entstehungsprinzips im Beitragsrecht der Sozialversicherung) der Ausgang der Revisionsverfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) B 12 KR 7/03 R und B 12 KR 10/03 R maßgeblich sein. Mit Urteilen vom 14. Juli 2004 B 12 KR 1/04 R (BSGE 93, 119), B 12 KR 7/03 R ([...]) und B 12 KR 10/03 R ([...]) bestätigte das BSG die Geltung des Entstehungsprinzips.

Der Kläger trägt nunmehr vor, es möge zutreffend sein, dass § 3 Nr. 39 EStG an die Vorschriften des Sozialversicherungsrechts anknüpfte, um die Steuerfreiheit von Lohnzahlungen beurteilen zu können. Es möge auch sein, dass das BSG das Entstehungsprinzip präferiert habe. Im Steuerrecht gelte jedoch das Zuflussprinzip. Es habe eine getrennte Beurteilung nach Steuerrecht und Sozialversicherungsrecht zu erfolgen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze vom 03.05.2005 und 15.10.2007 Bezug genommen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid über die Nachforderung von Lohnsteuer, Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer 1999 bis 2001 vom 16.11.2001 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11.01.2002 um 11.064,00 DM herabzusetzen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Ausweislich der Entscheidung des BSG habe die von der BfA festgesetzte Nachforderung zu Recht bestanden. Die Steuerfreiheit nach § 3 Nr. 39 EStG knüpfe an die Vorschriften des Sozialversicherungsrechts an. Daher sei der steuerliche Nachforderungsbescheid zu Recht ergangen.

Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung, § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, aber nur teilweise begründet.

Der angefochtene Nachforderungsbescheid ist zum Teil rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO.

1. Nach § 3 Nr. 39 EStG ist steuerfrei das Arbeitsentgelt aus einer geringfügigen Beschäftigung im Sinne des § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV, für das der Arbeitgeber Beiträge nach § 168 Abs. 1 Nr. 1b (geringfügig versicherungspflichtig Beschäftigte) oder nach § 172 Abs. 3 (versicherungsfrei geringfügig Beschäftigte) des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) zu entrichten hat, wenn die Summe der anderen Einkünfte des Arbeitnehmers nicht positiv ist.

Eine geringfügige Beschäftigung liegt nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV in der ab 1. April 1999 geltenden Fassung vor, wenn die Beschäftigung regelmäßig weniger als fünfzehn Stunden in der Woche ausgeübt wird und das Arbeitsentgelt regelmäßig im Monat 630 DM nicht übersteigt. Das regelmäßige Arbeitsentgelt i.S. des § 14 Abs. 1 SGB IV setzt sich aus den laufenden Entgeltzahlungen nach den arbeitsvertraglichen Regelungen sowie den jährlichen Sonderzahlungen zusammen, die den Arbeitnehmern tariflich zustehen oder nach der bisherigen Übung mit Sicherheit zu erwarten sind (z.B. Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld) und die für diese Berechnung auf die einzelnen Monate des Jahres zu verteilen sind (Erhard in Blümich, EStG, KStG, GewStG, § 3 EStG Rn. 370; Becht in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, § 3 Nr. 39 EStG Anm. 44; Schlegel in jurisPK-SGB IV, § 8 Rn. 38). Bei untertariflicher Bezahlung beurteilt sich die Versicherungspflicht wegen Überschreitens der Geringfügigkeitsgrenze nach dem tariflich zustehenden und nicht lediglich nach dem zugeflossenen Arbeitsentgelt, sog. Entstehungsprinzip (BSG in BSGE 93, 119; Parallelentscheidungen in [...]); Landessozialgericht (LSG) des Landes Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28. Juni 2007 L 16 R 2/07, [...]; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11. Oktober 2006 L 5 KR 530/05, [...]).

Bei schwankender Höhe des Arbeitsentgelts ist eine Prognoseentscheidung nach Durchschnittswerten zu treffen; eine Berechnung nach rückschauender Betrachtung ist unzulässig. Maßgeblich ist, welche Zahlungen der Arbeitnehmer bei vorausschauender, den Zeitraum eines Jahres umfassender Betrachtung insgesamt an laufendem Entgelt und Sonderzuwendungen zu erwarten hat. Hierbei genügt eine ungefähre Einschätzung, welches Entgelt nach der bisherigen Übung mit hinreichender Sicherheit zu erwarten ist. Prognosegrundlage können auch die Erfahrungswerte der Vergangenheit sein. Erweist sich eine berechtigte Prognose im Nachhinein infolge nicht vorhersehbarer Umstände als unzutreffend, bleibt sie für die Vergangenheit gleichwohl zutreffend (BSG, Urteil vom 27. September 1961 3 RK 12/57, BB 1962, 524; Bauer/Schuster, DB 1999, 689; von Beckerath, a.a.O. in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Einkommensteuergesetz, § 3 Nr. 39 Rn. B 39/45; Schlegel, a.a.O., Rn. 41 ff.).

2. Bei Anwendung dieser gesetzlichen Grundlagen auf den Streitfall ist das Arbeitsentgelt der von der Außenprüfung festgestellten Arbeitnehmerinnen in den Streitjahren nicht in vollem Umfang gemäß § 3 Nr. 39 EStG steuerfrei.

a) Nicht für alle genannten Arbeitnehmerinnen kann - soweit hier im Streit - eine geringfügige Beschäftigung i.S. des § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV festgestellt werden.

Sämtliche Arbeitnehmerinnen waren mit einer wöchentlichen Arbeitszeit zwischen 8,5 Stunden und 11,5 Stunden regelmäßig (dazu Becht a.a.O. Anm. 42) beschäftigt. Die Zeitgrenze des § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV war damit gewahrt. Dies gilt allerdings nicht für die Entgeltgrenze bei einigen Arbeitnehmerinnen.

aa) Im Streitfall sind nämlich die laufenden monatlichen Entgelte der Arbeitnehmerinnen um ein Zwölftel der tariflichen Sonderzahlungen zu erhöhen. Den Arbeitnehmerinnen standen nach dem Manteltarifvertrag für den ..................... des Landes Nordrhein-Westfalen jährliche Sonderzahlungen in Gestalt eines Urlaubsgelds in Höhe von 1.200 DM und eines Weihnachtsgelds in Höhe von 790 DM zu. Dieser Tarifvertrag war im Streitzeitraum allgemeinverbindlich i.S. des § 5 TVG. Der Anspruch auf diese Sonderzahlungen bestand demnach unabhängig davon, ob sie einzelvertraglich vereinbart waren oder ob die Arbeitnehmerinnen überhaupt von diesen Ansprüchen Kenntnis erlangt hatten. Denn die untertarifliche Bezahlung war gemäß § 134 des Bürgerlichen Gesetzbuches i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1, § 4 Abs. 3 und § 5 Abs. 4 TVG unwirksam. Die Klägerin war verpflichtet, den Arbeitnehmerinnen den tariflichen Mindestlohn einschließlich der Sonderzahlungen zu zahlen (vgl. LSG des Landes Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28. Juni 2007 L 16 R 2/07, [...]). Ein Verzicht auf entstandene tarifliche Rechte ist gemäß § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG nur in einem von den Tarifvertragsparteien gebilligten Vergleich zulässig. Hierfür ist - bezogen auf die jährlichen Sonderzahlungen - nichts ersichtlich. Die Verwirkung von tariflichen Rechten ist ausgeschlossen (§ 4 Abs. 4 Satz 2 TVG).

Die monatlichen anteiligen Sonderzahlungen sind für die Arbeitnehmerinnen wie folgt zu berechnen:

|Arbeitszeit |Sonderzuwendungen

 Stunden/Woche in % der Regelarbeitszeit 100 % anteilig p.a. anteilig p.m.
B.11,529,87%1.990,00 DM594,41 DM49,53 DM
F.9,7525,32%1.990,00 DM503,87 DM41,99 DM
H1.1025,97%1.990,00 DM516,80 DM43,07 DM
L.10,527,27%1.990,00 DM542,67 DM45,22 DM
T.1025,97%1.990,00 DM516,80 DM43,07 DM
U.8,522,08%1.990,00 DM439,39 DM36,62 DM

Die Erhöhung der monatlich bar ausgezahlten Entgelte um diese Beträge führt bei der gebotenen prognostischen Einschätzung für die Arbeitnehmerinnen B., F., H1. und L. in den nachfolgend tabellarisch dargestellten Zeiträumen zu einem Entgelt, das die Grenze des § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV überschreitet. Für Frau L. geht der Senat dabei von einem erstmalig im August 1999 beginnenden Jahresprognosezeitraum aus, für die übrigen Arbeitnehmerinnen von April 1999.



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