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Gericht: Finanzgericht Münster
Urteil verkündet am 01.12.2008
Aktenzeichen: 5 K 4329/03 Kg
Rechtsgebiete: EStG, Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über soziale Sicherheit, AO, FlüAbk.


Vorschriften:

EStG § 52 Abs. 61a
EStG § 62 Abs. 2
Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über soziale Sicherheit vom 30. April 1964 in Gestalt des Zusatzabkommens vom 2. November Art. 33
AO § 8
FlüAbk. Art. 24 Abs. 1 Buchst. b
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Münster

5 K 4329/03 Kg

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens werden der Klägerin auferlegt.

Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist der Kindergeldanspruch für einen rechtskräftig als Aslyberechtigter anerkannten Kindergeldberechtigten für die Dauer des Asylverfahrens.

Die Klägerin (Klin.) ist eine Gebietskörperschaft. Sie leistete Hilfe für den Lebensunterhalt an den Beigeladenen (Beigel.), seine Ehefrau und seine Kinder. Der Beigel., der die ... Staatsangehörigkeit hat, war im November 2001 mit seiner Ehefrau in die Bundesrepublik eingereist und hatte Asyl beantragt. Während der Dauer des Asylverfahrens waren er, seine Ehefrau und seine am 00.00.0000 und 00.00.0000 geborenen Kinder NC und KC im staatlichen Übergangsheim für Asylbewerber, B-Straße 26, T untergebracht. Die Familie nutzte dort ein 30 qm großes Zimmer. Diele, Küche und Bad waren Gemeinschaftsflächen und wurden von anderen Asylantragstellern mitbenutzt. Während der Dauer des Asylverfahrens hatte der Beigel. eine Aufenthaltsgestattung nach dem AsylVfG a. F. und ist keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen.

Mit Urteil des Verwaltungsgerichts N, das seit dem 12.03.2002 rechtskräftig ist, wurde der Beigel. als Asylberechtiger anerkannt.

Am 06.05.2003 beantragte der Beigel. Kindergeld für seine beiden Kinder. Unter dem 07.05.2003 beantragte die Klin. Erstattung des Kindergelds bei der Beklagten (Bekl.), da sie bei der Leistung der Hilfe zum Lebensunterhalt an den Beigel. das Kindergeld nicht angerechnet hatte. Mit Bescheid vom 28.05.2003 wurde dem Beigel. Kindergeld ab April 2003 bewilligt und ab Juli 2003 ausgezahlt. Die Klin. erhielt eine Durchschrift des Bescheids. Am 10.06.2003 legte die Klin. gegen den Bescheid vom 28.05.2003 Einspruch ein, mit dem Begehren, Kindergeld ab Einreise bzw. Geburt der Kinder zu bewilligen und an die Klin. auszuzahlen. Mit Einspruchsentscheidung (EE) vom 17.07.2003 wurde dem Einspruch insoweit stattgegeben, als Kindergeld ab März 2003 bewilligt und an die Klin. gezahlt wurde. Im Übrigen wurde der Einspruch zurückgewiesen. Gegenüber dem Beigel. wurde mit Bescheid vom 21.07.2003 die Kindergeld-Festsetzung entsprechend geändert. Im August 2003 zog der Beigel. mit seiner Familie aus dem Übergangsheim für Asylbewerber aus und lebt seit dem in D.

Die Klin. begehrt mit ihrer Klage die Bewilligung des Kindergelds für den Beigel. für den Zeitraum Mai 2002 bis Februar 2003. Sie meint, der Kindergeldanspruch des Beigel. habe auch für die Dauer des Asylverfahrens bestanden.

Die Klin. beantragt,

unter Änderung des Bescheids der Bekl. vom 28.05.2003 in Gestalt der EE vom 17.07.2003 Kindergeld für NC (geboren 00.00.0000) und KC (geboren 00.00.0000) für Mai 2002 bis Februar 2003 dem Beigel. zu bewilligen,

hilfsweise für den Unterliegensfall,

die Revision zuzulassen.

Die Bekl. beantragt,

die Klage abzuweisen,

hilfsweise für den Unterliegensfall,

die Revision zuzulassen.

Sie trägt vor, die Anerkennung als Asylberechtiger begründe keinen rückwirkenden Anspruch auf Kindergeld. Gemäß DA 62.4.2, DA-FamEStG 2004 setze eine rückwirkende Bewilligung von Kindergeld voraus, dass der Berechtigte im Inland "gewohnt" habe. Das Übergangswohnheim für Asylbewerber stelle keine Wohnung in diesem Sinne dar.

Der Beigel. hat keine Stellungnahme abgegeben und keinen Antrag gestellt.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet.

I. Die Klin. ist klagebefugt. Sie hat gemäß § 67 Satz 2 EStG als Sozialleistungsträgerin das Recht, Kindergeld zu Gunsten des Beigel. zu beantragen. Dieses Recht beinhaltet auch die Befugnis, gegen ablehnende Bescheide der Kindergeldkasse Einspruch einzulegen und zu klagen (ständige Rechtsprechung, s. z.B. BFH-Urteil vom 26. November 2003 VIII R 32/02, BFHE 204, 454, BStBl. II 2004, 588 m. w. N.).

II. Die Ablehnung der Kindergeldbewilligung für den streitbefangenen Zeitraum ist nicht rechtswidrig und verletzt die Klin. und den Beigel. nicht in ihren Rechten (§ 101 FGO), denn es besteht insoweit kein Kindergeldanspruch des Beigel.

1) Ein unmittelbarer Kindergeldanspruch des Beigel. gemäß § 62 Abs. 2 EStG in der Fassung des Gesetzes vom 13.12.2006 (BGBl I S. 2915), der gemäß § 52 Abs. 61 a EStG in allen noch offenen Fällen anwendbar ist (im Folgenden: EStG) besteht nicht, denn der Beigel. hatte im streitbefangenen Zeitraum keinen qualifizierten Aufenthaltstitel gemäß § 62 Abs. 2 EStG. Die Anerkennung als Asylberechtigter gewährt ausländerrechtlich nicht rückwirkend einen qualifizierten Titel gemäß § 62 Abs. 2 EStG (s. dazu FG Münster, Urteil vom 18. Dezember 2002 7 K 5361/00 Kg, EFG 2003, 785).

Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des BFH, der sich der erkennende Senat anschließt, sind sowohl die Neufassung des § 62 Abs. 2 EStG als auch die zeitliche Anwendungsregelung (§ 52 Abs. 61a Satz 2 EStG) verfassungsgemäß (BFH-Urteile vom 15. März 2007 III R 93/03, BFHE 217, 443, BFH/NV 2007, 1234;vom 22. November 2007 III R 54/02, BFHE 220, 45, BFH/NV 2008, 457;vom 21. Februar 2008, III R 79/03, BFH/NV 2008, 1036). In den beiden letztgenannten Entscheidungen tritt der BFH ausdrücklich den Entscheidungen des Finanzgerichts Köln vom 9. Mai 2007 (10 K 1690/07, EFG 2007, 1247; 10 K 983/04, EFG 2007, 1254) entgegen, das die Neuregelungen für verfassungswidrig hält. Nach dem Urteil des BVerfG vom 6. Juli 2004 (1 BvL 4/97, BVerfGE 111, 160, BFH/NV Beilage 2005, 114) liegt ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG nämlich nur vor, wenn die Gewährung von Kindergeld allein von der Art des Aufenthaltstitels abhängt. Da § 62 Abs. 2 Nr. 3 EStG im Hinblick auf die in § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c) EStG genannten Aufenthaltstitel eine Differenzierung vornimmt, wird gerade nicht mehr allein auf den Aufenthaltstitel abgestellt, so dass nach Auffassung des Senats kein Verfassungsverstoß vorliegt (vgl. BFH-Urteil vom 22. November 2007 III R 54/02, BFHE 220, 45, BFH/NV 2008, 457).

2) Ein Anspruch auf Kindergeld für den Beigel. besteht auch nicht gem. Art. 33 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über soziale Sicherheit vom 30. April 1964, BGBl II 1965, 1170 in Gestalt des Zusatzabkommens vom 2. November 1984, BGBl II 1986, 1040. Nach dieser Regelung besteht ein Kindergeldanspruch nur dann, wenn der Kindergeldberechtigte erwerbstätig ist. Begünstigt sind auch nur Kinder, die sich in dem jeweils anderen Vertragsstaat gewöhnlich aufhalten. An diesen Voraussetzungen fehlt es im Streitfall. Der Beigel. war im streitbefangenen Zeitraum nicht erwerbstätig. Seine Kinder hielten sich ebenfalls in der Bundesrepublik Deutschland auf.

3) Auch ein Anspruch des Beigel. auf Kindergeld für den streitbefangenen Zeitraum gemäß Art. 24 Abs. 1 Buchstabe b des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl II 1953, 559; sogen. Genfer Konvention) - FlüAbk.- besteht nicht. Zwar unterfällt der Beigel. als rechtskräftig anerkannter Asylberechtigter unter den Geltungsbereich des FlüAbk. (FG Münster, Urteil vom 27. August 2002 1 K 4975/99 Kg, EFG 2002, 1619; Oberverwaltungsgericht für das Land NRW, Urteil vom 13. Dezember 1999 16 A 5587/97, [...]). Die o. g. Regelung der FlüAbk. gewährt Leistungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit, die ausschließlich aus öffentlichen Mitteln bestritten werden aber nur unter dem Vorbehalt "besonderer Bestimmungen" des Leistungsstaates (Art. 24 Abs. 1 Buchst. b ii FlüAbk.) Hierzu zählen die Einschränkungen des § 62 Abs. 2 EStG.

4) Ein Kindergeldanspruch des Beigel. besteht auch nicht gemäß Art. 29 FlüAbk. i. V. m. § 62 Abs. 1 EStG. Nach dieser Regelung werden von Flüchtlingen keine anderen oder höheren Gebühren, Abgaben oder Steuern, gleichviel unter welcher Bezeichnung erhoben, als unter ähnlichen Verhältnissen von Staatsangehörigen des Aufnahmelandes. Durch die Nichtgewährung von Kindergeld werden Flüchtlinge steuerrechtlich aber nicht schlechter gestellt, als Inländer. Auch Flüchtlinge, die einkommensteuerliche Einkünfte beziehen, kommen in den Genuss der Kinderfreibeträge gemäß § 32 Abs. 6 EStG. Soweit das Kindergeld gemäß § 31 EStG der Förderung der Familie dient, besteht ebenfalls kein Anspruch aus Art. 29 FlüAbk., denn insoweit hat das Kindergeld ein von den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die steuerliche Belastung unabhängige sozialrechtliche Funktion (BFH Urteile vom 25. Oktober 2007 III R 90/03, BFHE 219/540, BFH/NV 2008, 286;vom 22. November 2007 III R 60/99, BFHE 220, 39, BFH/NV 2008, 846). Ansprüche auf Teilhabe an Sozialleistungen werden aber nicht von Art. 29, sondern von Art. 24 FlüAbk. geregelt (sh. Gliederungspunkt 3).

5) Ein Kindergeldanspruch besteht auch nicht gemäß Art. 2 des Vorläufigen Europäischen Abkommen über Soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen (BGBl II 1956, 507) i. V. m. Art. 2 des Zusatzprotokolls dazu (BGBl II 1956, 528), im Folgenden: Vorläufiges Europäisches Abkommen über Soziale Sicherheit. Ein Anspruch von Flüchtlingen auf nicht auf Beiträgen beruhenden Leistungen besteht danach nämlich nur dann, wenn der Flüchtling seit mindestens 6 Monaten im Gebiet der Bundesrepublik "wohnt". Das Merkmal des "Wohnens" ist in den vorgenannten Regelungen nicht definiert. Allerdings unterscheidet das Vorläufige Europäische Abkommen über Soziale Sicherheit in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a) bis d) die Begriffsmerkmale des "Wohnens" und des "Aufenthalts" bzw. des "gewöhnlichen Aufenthalts", so dass nach der Abkommensregelung dem Merkmal des "Wohnens" gegenüber dem "Aufenthalt" eine eigene Bedeutung zukommen muss. Der Senat zieht zur Begriffsbestimmung des "Wohnens" die zu § 8 AO entwickelten Grundsätze heran. Gemäß § 8 AO hat einen Wohnsitz jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Das setzt voraus, dass Räumlichkeiten vorhanden sind, die objektiv auf Dauer zum Wohnen geeignet sind und dass Umstände bestehen, die auf ein Beibehalten und Benutzen der Wohnung schließen lassen (sh. z. B. BFH Urteil vom 19. März 2002 I R 15/01, BFH/NV 2002, 1411). Ein Übergangsheim für Asylbewerber ist nach Auffassung des erkennenden Senats nicht zum dauernden Wohnen geeignet und bestimmt (anderer Ansicht: FG Düsseldorf, Urteil vom 31. Juli 2008, 14 K 2206/06 KG, StE 2008, 628, Revision eingelegt, Az. des BFH III R 75/08). Der Aufenthalt dort ist sowohl vom Betreiber als auch vom Flüchtling von vornherein darauf angelegt, von nur vorübergehender Natur zu sein. Die räumliche Situation (keine für die Familien allein zur Verfügung stehenden Küche, Bad und Gemeinschaftsflächen) ist auch objektiv nicht zum dauernden Wohnen geeignet. Letztlich beruht der Aufenthalt in staatlichen Übergangsheimen auch nicht auf einer freien Entscheidung, sondern auf einer staatlichen Zuweisung.

Im streitbefangenen Zeitraum hat der Beigel. sich mit seiner Familie im Übergangsheim für Asylbewerber aufgehalten. Er hat somit noch nicht im Bundesgebiet "gewohnt". Der bloße Aufenthalt im Bundesgebiet, auch wenn er sich zu einem gewöhnlichen Aufenthalt i. S. v. § 9 AO verfestigt haben sollte, ist nicht ausreichend für die Anwendung des Art. 2 Abs. 1 Buchst. d) Vorläufiges Europäisches Abkommen über soziale Sicherheit.

6) Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die außergerichtlichen Kosten des Beigel. sind nicht erstattungsfähig.

Die Zulassung der Revision beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 FGO. Die beim BVerfG anhängige Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 62 Abs. 2 EStG (2 BvL 4/07; Vorlagebeschluss des FG Köln,) ist noch nicht entschieden. Des weiteren erfolgt die Revisionszulassung zum Zwecke der höchstrichterlichen Auslegung der Art. 24 und 29 FlüAbk und des Art. 2 Vorläufiges Europäisches Abkommen über Soziale Sicherheit. Im Urteil des BFH vom 25. Oktober 2007 III R 90/03, BFHE 219, 540, BFH/NV 2008, 286 ist die zuletzt genannte Frage ausdrücklich offengelassen worden.

Ende der Entscheidung

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