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Gericht: Finanzgericht Münster
Beschluss verkündet am 13.08.2009
Aktenzeichen: 7 V 2557/09 AO
Rechtsgebiete: AO, ZPO


Vorschriften:

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Der Antragsgegner wird verpflichtet, bei der Beitreibung inländischer Steuerforderungen gegen die Antragstellerin in Bulgarien die nach deutschem Recht maßgeblichen Pfändungsfreigrenzen zu beachten und der Antragstellerin einen Betrag in Höhe von 1.038,56 EUR als Teil ihres Einkommens zu belassen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsgegner.

Gründe:

I. Zu entscheiden ist im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes, ob die Pfändungsfreigrenzen gemäß §§ 319 Abgabenordnung (AO) i.V.m. 850 ff Zivilprozessordnung (ZPO) auch für die im Ausland lebende Antragstellerin zu beachten sind.

Die Antragstellerin schuldet dem Antragsgegner Einkommensteuer nebst Nebenleistungen für die Kalenderjahre 1997 bis 1999 in Höhe von rd. .......... EUR. Wegen der offenen Rückstände hat der Antragsgegner diverse Pfändungsmaßnahmen vorgenommen, die nur zu einem geringen Teil Erfolg hatten (Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 27.01.2009 in eine Kontoverbindung bei der Sparkasse C.).

Die Antragstellerin ist Rentnerin und wohnt derzeit in Bulgarien. Sie leidet unter schwerer Diabetes und ist sehbehindert. Aus der gesetzlichen Rentenversicherung bezieht sie eine monatliche Rente in Höhe von 466,73 EUR. Daneben erhält sie von ihrem geschiedenen Ehemann monatliche Rentenzahlungen in Höhe von 1.000 EUR. Die von ihr zu zahlenden Krankenversicherungsbeiträge belaufen sich auf 326,77 EUR. Der Antragstellerin stehen somit 1.139,96 EUR für ihren weiteren Lebensunterhalt zur Verfügung.

Der Antragsgegner berechnete bei seinen Pfändungsmaßnahmen die Pfändungsfreigrenze mit 247,50 EUR. Dabei kürzte er die Freigrenze nach dem im Bundessteuerblatt 2008 S. 936 (Anhang 2 III EStH 2008) veröffentlichten Ländergruppenschlüssel, obwohl nach dem Wortlaut des Erlasses lediglich einkommensteuerliche Beträge im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 2 Einkommensteuergesetz (EStG), des § 4 f Satz 4 EStG, des § 10 Abs. 1 Nr. 5 Satz 3 und Nr. 8 Satz 5 EStG, des § 32 Abs. 6 Satz 4 EStG und des § 33 a Abs. 1 Satz 5 und Abs. 2 Satz 3 EStG zu kürzen sind.

Der Antragsgegner beantragte sodann über die Oberfinanzdirektion Münster und das Bundeszentralamt für Steuern in Bonn bei den bulgarischen Finanzbehörden zwischenstaatliche Amtshilfe bei der Steuererhebung. Dem Antrag wurde eine Anzeige der Rückstände beigefügt. Ein Hinweis auf die inländische Pfändungsfreigrenze wurde nicht erteilt. Vielmehr wurde in dem Ersuchen festgehalten, dass Ratenzahlungen nicht zulässig seien. Aufgrund des Ersuchens wurde das Konto der Antragstellerin in Bulgarien sodann in vollem Umfang gesperrt.

Am 22.07.2009 hat die Antragstellerin wegen dieses Sachverhalts Klage erhoben und zugleich einen Antrag auf vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz gestellt.

Zur Begründung führt sie an, dass ihr kein Geld mehr zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts zur Verfügung stehe. Denn in Bulgarien würden Pfändungsfreigrenzen (z.B. nach § 850 c ZPO) nicht berücksichtigt. Da es sich um eine deutsche Vollstreckung gegenüber einer deutschen Staatsangehörigen handele, müssten die deutschen Gesetze eingehalten werden. Dafür habe die deutsche Behörde, die weiterhin Herr des Verfahrens sei, auch Sorge zu tragen. Der Antragsgegner sei daher verpflichtet, die bulgarischen Behörden darauf aufmerksam zu machen, dass das Konto zwar gepfändet werden solle, aber nur über den Betrag, der über den Pfändungsfreibetrag hinausgehe. Ansonsten verschaffe sich der Antragsgegner zusätzliche Pfändungseinnahmen, die nach deutschem Recht aufgrund des Pfändungsschutzes nicht hätten gezahlt werden dürfen. Die Antragstellerin sei schwer krank und fast vollständig erblindet. Sie benötige dringend Insulin und eine Haushaltshilfe, da sie sich nicht selbständig versorgen könne. Aufgrund der Tatsache, dass das Konto gesperrt sei und kein Betrag mehr an die Antragstellerin ausgezahlt werde, sei sie nicht in der Lage, das Insulin, das sie dringend zum Leben benötige, zu kaufen und die Haushaltshilfe zu bezahlen. Über weiteres Vermögen verfüge die Antragstellerin nicht. Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Antragstellerin wird auf ihre Schriftsätze vom 22.07.2009 und 04.08.2009 Bezug genommen.

Die Antragstellerin beantragt (sinngemäß),

ihr im Wege einer einstweiligen Anordnung Vollstreckungsschutz dahingehend zu gewähren, dass der Pfändungsfreibetrag nach § 850 c ZPO in Höhe von 1.038,56 EUR beachtet wird.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, dass der Antrag, die in Bulgarien vollzogenen Vollstreckungsmaßnahmen insoweit aufzuheben, als dass dort die in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Freigrenzen beachtet würden, unzulässig sei. Es liege keine inländische Vollstreckungsmaßnahme vor, gegen die sich ein Antrag richten könne. Das Amtshilfeersuchen an die bulgarischen Behörden stelle keinen anfechtbaren Verwaltungsakt dar, sondern bereite lediglich die Maßnahmen der ausländischen Behörde vor. Ausschließlich die ersuchte Behörde sei für die Fragen des Vollstreckungsverfahrens (Einstellung oder Beschränkung der Vollstreckung) zuständig. Der Antragsgegner sei weder Herr des Verfahrens noch weisungsberechtigt. Die Antragstellerin könne sich nur mit den im dortigen Recht vorgesehenen Rechtsbehelfen vor Ort wehren. Auch gebe es in Bulgarien sehr wohl Schuldnerschutzvorschriften. Dass allerdings die dortigen Lebenshaltungskosten für eventuelle - weit niedrigere - Pfändungsfreigrenzen zugrunde gelegt würden, sei selbstverständlich.

II. Der Antrag hat Erfolg.

1. Der Antrag ist zulässig.

Für den von der Antragstellerin begehrten Pfändungsschutz gemäß § 319 AO i.V.m. §§ 850 ff ZPO stellt der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung die statthafte Antragsart dar.

Zwar handelt es sich bei Pfändungs- und Einziehungsverfügungen im abgabenrechtlichen Vollstreckungsverfahren um Verwaltungsakte, so dass gerichtlicher Rechtsschutz grundsätzlich im Wege der Anfechtungsklage zu verfolgen ist und im einstweiligen Rechtsschutzverfahren der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung die statthafte Antragsart bedeutet (BFH-Beschluss vom 19.04.1988 VII B 167/87 BFH/NV 1989, 36). Das gilt jedoch nicht, wenn der Vollstreckungsschuldner - wie teilweise im Streitfall - antragsgebundene Schutzvorschriften in Anspruch nimmt. Für das Vollstreckungsverfahren durch die Finanzbehörden beurteilt sich die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns nach den Vorschriften der §§ 249 ff AO, wobei für den Bereich von Forderungspfändungen die Beschränkungen und Verbote der §§ 850 bis 852 ZPO sinngemäß gelten (§ 319 AO). In diesem Verfahren nimmt die Finanzbehörde zugleich die Funktion des Vollstreckungsgerichts ein (Tipke/Kruse, AO/FGO, Vor § 249 AO Rz. 13 und BFH-Urteil vom 24.10.1996 VII R 113/94, BFHE 181, 552, BStBl. II 1997, 308). Zu beachten ist, dass verschiedene Pfändungsschutzvorschriften der §§ 850 ff ZPO, wie etwa der hier mögliche Pfändungsschutz bei besonderen Bedürfnissen des Schuldners aus persönlichen Gründen (Krankheit) gemäß § 850 f ZPO, einen Antrag des Vollstreckungsschuldners voraussetzen, so dass die Schutzvorschriften auch nur bei Vorliegen eines solchen Antrags von der Finanzbehörde berücksichtigt werden können und müssen. Zur Berücksichtigung des spezifischen Vollstreckungsschutzes ist der Schuldner gehalten, zunächst einen entsprechenden Antrag beim Vollstreckungsgericht (hier dem Finanzamt als Vollstreckungsbehörde) zu stellen. Wird dieser abgelehnt, steht dem Vollstreckungsschuldner nach Durchführung des erforderlichen Einspruchsverfahrens die Verpflichtungsklage, gerichtet auf Berücksichtigung des beantragten Vollstreckungsschutzes zur Verfügung (vgl. auch Finanzgericht Brandenburg, EFG 2002, 662). Für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes stellt in Fällen der Verpflichtungsklage in der Hauptsache das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung die statthafte Antragsart dar (Tipke/Kruse, FGO § 114 Rz. 2 und Lindberg in Schwarz, FGO § 114 Rz. 2). Das gilt auch für die Fälle der ausländischen Amtshilfe bei der Beitreibung und Sicherung von inländischen Steueransprüchen, wonach grundsätzlich das für die inländische (deutsche) Behörde geltende Recht maßgeblich ist (wird im Folgenden noch ausgeführt).

2. Der Antrag ist auch begründet.

Gemäß § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO kann das Finanzgericht zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Wie sich aus der Verweisung auf § 920 Abs. 3 ZPO ergibt, ist dazu erforderlich, dass die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund dargelegt und glaubhaft gemacht hat.

Im Streitfall ergibt sich der Anordnungsanspruch aus den §§ 850 ff ZPO, welche gemäß § 319 AO sinngemäß anzuwenden sind. Die Höhe des nach inländischem Recht unpfändbaren Teils des Einkommens ist unter den Beteiligten unstreitig. Der Wohnsitzwechsel der Antragstellerin nach Bulgarien ändert daran nichts. Mangels gesetzlicher Grundlage kann das Finanzamt nicht die nach der ZPO festgelegten Pfändungsfreigrenzen (gewissermaßen nach eigenem Gutdünken) herabsetzen, weil der Steuerschuldner ins Ausland verzogen ist und deshalb möglicherweise niedrigere Lebenshaltungskosten hat. Herabsetzungen bzw. Erhöhungen von Pfändungsfreibeträgen berechnen sich nach den in den entsprechenden Vorschriften der ZPO festgelegten Grenzen, die auch den Belangen der Gläubiger abschließend Rechnung tragen. Der Gesetzgeber hat sich bewusst für eine Pauschalierung der pfändungsfreien Beträge entschieden, um die Zwangsvollstreckung praktikabel zu gestalten und eine unüberschaubare Anzahl von Einzelfallentscheidungen zu vermeiden. Dies gilt umsomehr, als dass auch innerhalb Deutschlands zum Teil erhebliche Unterschiede in den Lebenshaltungskosten bestehen dürften (vgl. dazu Landgericht Heilbronn, Beschluss vom 12.01.2006 1 T 9/06 m.w.N.). Um Willkürschätzungen zu umgehen, wäre es anderenfalls erforderlich, dass der entsprechenden Pfändungsschutzvorschrift in der ZPO z.B. eine tabellarische Anlage beigefügt wird mit ggf. jährlich zu ändernden festen Beträgen, die den jeweiligen Lebenshaltungskostenstandard der in Betracht kommenden Länder im Einzelnen als Berechnungsgrundlage haben. Das gilt wegen des Schutzbereichs des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz (GG) - ungeachtet des vorliegenden Einzelfalles - insbesondere, wenn es zweifelhaft erscheint, ob der Schuldner im Ausland einen vergleichbaren Rechtsschutz genießt wie ihm die im Inland geltenden Vorschriften bieten.

Der für die Regelungsanordnung erforderliche Anordnungsgrund ist ebenfalls gegeben. Gemäß § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO darf eine Regelungsanordnung nur erlassen werden, wenn wesentliche Nachteile, drohende Gewalt oder ähnlich schwerwiegende Folgen vom Antragsteller abzuwenden sind. Der geltend gemachte Grund muss so schwerwiegend sein, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung unabweisbar ist. Das ist z.B. der Fall, wenn die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Antragstellers durch die Ablehnung der beantragten Maßnahme unmittelbar bedroht ist (vgl. bereits BFH-Beschluss vom 25.09.1987 VII B 77/85, BFH/NV 1996, 223). Eine entsprechende gravierende wirtschaftliche bzw. persönliche Existenzgefährdung für die Antragstellerin liegt auf der Hand. Sie ergibt sich daraus, dass die Antragstellerin ohne den ihr zustehenden Pfändungsfreibetrag ihre Lebenshaltungskosten - insbesondere auch unter angemessener Berücksichtigung ihrer schweren Erkrankung - nicht bestreiten kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Ende der Entscheidung

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