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Gericht: Finanzgericht Münster
Urteil verkündet am 16.11.2006
Aktenzeichen: 8 K 2601/04
Rechtsgebiete: AO 1977, EStG, GmbHG, InsO


Vorschriften:

AO 1977 § 34
AO 1977 § 69
AO 1977 § 130 Abs. 1
EStG § 38 Abs. 3
EStG § 41a Abs. 1
GmbHG § 35
GmbHG § 64 Abs. 1
InsO § 87
InsO § 92
InsO § 131 Abs. 1 Nr. 2
InsO § 131 Abs. 1 Nr. 3
InsO § 142
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Münster

8 K 2601/04

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens bis zum 07.08.2006 werden dem Beklagten zu 75 v. H. und dem Kläger zu 25 v. H. auferlegt. Die danach entstandenen Kosten trägt der Kläger allein.

Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird zugelassen.

Gründe:

Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheids für Lohnsteuer wegen Verletzung der steuerlichen Pflichten als Geschäftsführer einer GmbH.

Der Kläger (Kl.) war seit dem 15.11.2002 Inhaber von 100 v. H. der Geschäftsanteile mit einem Nominalwert von 25.000 EUR an der XT GmbH (GmbH). Er wurde gleichzeitig auch zum - alleinigen - Geschäftsführer bestellt unter Abberufung der früheren Inhaberin der Geschäftsanteile, Frau NX, die Klägerin des Parallelverfahrens 8 K 2598/04 ist. Diese Veränderungen wurden am 25.11.2002 im Handelsregister eingetragen.

Der Kl. beantragte am 19.12.2002 die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH. Mit Beschluss vom 27.12.2002 des Amtsgerichts - Insolvenzgericht - E wurde RA P zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt. Mit Beschluss vom 18.03.2003 wurde das Insolvenzverfahren eröffnet und RA P zum Insolvenzverwalter bestellt.

NX hatte mit notarieller Urkunde vom 15.10.2002 (UR-Nr.: 87/2002 Notarin FT in E) von dem inzwischen verstorbenen Kaufmann XT 100 v. H. der Geschäftsanteile mit einem Nominalwert von 25.000 EUR erworben, die zu diesem Zeitpunkt im Handelsregister des Amtsgerichts X eingetragen war. Gegenstand des Unternehmens war der Handel mit Fleisch- und Wurstwaren aller Art. Der Kaufpreis betrug ausweislich von § 2 der Urkunde 1 EUR. Wegen der Einzelheiten wird auf die Urkunde vom 15.10.2002 (Vertragsakte/Anteilsverkauf vom 15.10.2002) Bezug genommen. Ausweislich der notariellen Urkunde UR-Nr.: 88/02 der Notarin FT vom selben Tag hielt NX eine Gesellschafterversammlung der GmbH ab, berief den bisherigen Geschäftsführer XT ab und erteilte ihm Entlastung. Gleichzeitig bestellte sie sich selbst zur Geschäftsführerin und verlegte den Sitz der Gesellschaft nach ICN, B-Str. 9 b. Unter dieser Adresse befindet sich die Praxis des damaligen Rechtsberaters der GmbH und jetzigen Prozessbevollmächtigten des Kl. und von NX.

Ebenfalls am 15.10.2002 schloss NX mit XT einen Arbeitsvertrag, wonach diesem ab dem 16.10.2002 Handlungsvollmacht mit den Aufgabenbereichen Ein- und Verkauf eingeräumt wurde. Außerdem sollte er Ansprechpartner für die Betriebsleiterin sein und in Abwesenheit der Geschäftsführerin Gespräche führen. Als Vergütung wurde ein Bruttolohn von 6.000 EUR im Monat vereinbart. Ferner erhielt XT einen Firmenwagen auch zur privaten Nutzung.

Der Geschäftsverlauf der GmbH hatte sich wie folgt entwickelt:

Ursprünglich betrieb XT einen Fleischhandel als Einzelfirma in den Geschäftsräumen XL Str. 21 in 00000 C. Deren aktiver Geschäftsbetrieb wurde zum 31.12.2001 eingestellt und auf die GmbH übertragen. Die gewerblich genutzte Fläche von insgesamt rd. 4.300 qm vermietete XT ab 01.01.2002 für 17.780 EUR an die GmbH. Ab 01.01.2002 bis zur Übertragung der Geschäftsanteile auf NX bestand zwischen der Einzelfa. XT und der GmbH eine umsatzsteuerliche Organschaft. Insgesamt wurden ca. 35 Arbeitnehmer und eine große Anzahl von Aushilfskräften beschäftigt. Die Umsätze der Einzelfirma hatten im Jahr 2001 138 Mio. DM betragen. 70 v. H. der Umsätze wurden mit dem N-Konzern getätigt aufgrund fester vertraglicher Vereinbarungen, die im Verlauf des September bis Anfang Oktober 2002 ausliefen (Seite 9 Gutachten im Insolvenzantragsverfahren des zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellten Rechtsanwalts P). Da die Konditionen mit der N bereits im zweiten Halbjahr 2001 zur Insolvenzreife der Einzelfirma geführt hatten, wurde dieses Geschäft ab 01.01.2002 auf die GmbH übertragen, wobei der sich aus dem laufenden Geschäftsbetrieb ergebende Fehlbetrag durch die Stellung von Scheinrechnungen gegenüber der FTG, die die Forderungen gegen die N ständig aufgekauft hatte, verschleiert wurde. Aufgrund der Vereinbarungen mit der FTG kam es zu Stornierungen und Rückbelastungen in Höhe der Beträge, denen keine Lieferungen an die N zugrunde lagen. Die GmbH selbst schloss am 07.12.2001 mit Wirkung vom 01.01.2002 einen eigenen Factoring-Rahmenvertrag mit der FTG ab. Die Luftrechnungen in der Zeit vom Februar bis April 2002 wurden nach Verhandlungen zwischen XT und der FTG mit 3,5 bis 3,6 Mio. EUR beziffert. Die Erteilung von sogenannten Luftrechnungen wurde daraufhin jedoch nicht eingestellt, sondern fortgesetzt, um die Fehlbeträge auch weiterhin - buchmäßig - ausgleichen zu können. Wegen der Einzelheiten wird auf das Gutachten des vorläufigen Insolvenzverwalters vom 13.03.2003, insbesondere Seiten 2 bis 10 Bezug genommen. Nach der Vermögensübersicht per 31.12.2002 ergibt sich ein Buchwert des aktiven Anlage- und Umlaufvermögens in Höhe von 1,4 Mio. EUR, wovon 1,095 Mio. EUR auf Guthaben bei Kreditinstituten und Kassenbestände entfallen. Die Verbindlichkeiten bei Kreditinstituten betrugen ca. 5 Mio. EUR, die Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen 6,86 Mio. EUR. Mittlerweile hat der Insolvenzverwalter Masseunzulänglichkeit angezeigt.

Am 29.10. und 03.12.2002 haben bei der GmbH Durchsuchungen des FA für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung O (Steufa) stattgefunden, die am 05.11.2002 zur Pfändung des Guthabens der GmbH bei der Volksbank XL durch den Beklagten (das Finanzamt -FA-) führte. Die gepfändeten und überwiesenen Beträge wurden in Höhe von 19.319,87 EUR mit rückständiger Lohnsteuer (LSt) 06/02 und in Höhe von 18.386,23 EUR mit rückständiger LSt 07/02 verrechnet. Aus der Barkasse der GmbH pfändete das FA weitere 10.087,37 EUR. Die durch die Zwangsvollstreckung erfolgte Befriedigung des FA wurde später vom Insolvenzverwalter wegen des Gesamtbetrags von 47.793,47 EUR erfolgreich gem. § 131 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 Insolvenzordnung (InsO) angefochten.

Von der LSt 07/02 blieben nach der Pfändung noch 3.763 EUR offen, ferner Lohnsteuer für August in Höhe von 20.782 EUR und für September 2002 in Höhe von 16.316 EUR.

Ab dem 31.10.2002 führte der jetzige Prozessbevollmächtigte des Kl. und NX ein sogenanntes Anderkonto über das, gedeckt durch eingehende Betriebseinnahmen, neben Barabhebungen (insgesamt 44.000 EUR), Lohnzahlungen und übrige laufende Betriebsausgaben abgewickelt wurden. Danach wurden im November noch erhebliche Lohnzahlungen geleistet, die letzten Lohnzahlungen erfolgten an mehr als 20 Arbeitnehmer in der Zeit vom 21.11. bis 02.12.2002. Wegen der Einzelheiten wird auf die Umsatzübersicht des Anderkontos 00000000 bei der Sparkasse E Bezug genommen (Blatt 74 bis 77 FG-Akte).

Eine Lohnsteuer-Anmeldung wurde - verspätet - letztmalig für Oktober 2002 in Höhe von 11.141,36 EUR abgegeben. Danach wurde die anzumeldende Lohnsteuer bis Februar 2003 geschätzt.

Das FA erließ am 11.07.2003 gegen den Kl. einen Haftungsbescheid über die Lohnsteuer ab November 2002 bis Februar 2003 in Höhe von insgesamt 111.934,00 EUR einschließlich Nebenabgaben, worin Verspätungs- und Säumniszuschläge enthalten waren. Zur Begründung führte das FA aus, der Kl. habe als alleiniger Geschäftsführer die ihm gemäß § 34 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) i.V.m. § 35 GmbH-Gesetz obliegenden Pflichten der GmbH, insbesondere die Abführung der von der GmbH einbehaltenen Lohnsteuern an das FA, nicht erfüllt. Insoweit liege zumindest eine grob fahrlässige Pflichtverletzung vor. Deshalb sei die Haftung gemäß §§ 69, 34 AO gegeben.

Der dagegen eingelegte Einspruch, der nicht begründet wurde, hatte insoweit Erfolg, als die Haftungssumme auf insgesamt 53.422 EUR für Nov. und Dez. 2002 herabgesetzt wurde. Für Jan. und Feb. 2003 waren auf "0" EUR berichtigte LSt-Anmeldungen abgegeben worden. Das FA führte in der Einspruchsentscheidung (EE) vom 14.04.2004 aus, der Kl. habe die einbehaltene LSt sowie die Nebenleistungen für Nov. und Dez. 2002 pflichtwidrig nicht bzw. nicht gem. § 41 a Abs. 1 EStG angemeldet und an das FA abgeführt. Durch dieses zumindest grob fahrlässige Verhalten des Kl. sei der Finanzverwaltung ein entsprechender Schaden entstanden. Eine Inanspruchnahme der GmbH sei aufgrund der Insolvenz nicht möglich gewesen.

Wegen der Einzelheiten wird auf den Haftungsbescheid und die EE Bezug genommen.

Mit der dagegen erhobenen Klage macht der Kl. geltend, bei Übernahme der Geschäftsführung habe er wegen der zuvor erfolgten Beschlagnahme durch die Steufa bzw. die Staatsanwaltschaft O keine Geschäftsunterlagen zur Verfügung gehabt. Der Geschäftsbetrieb sei eingestellt und die Arbeitnehmer entlassen gewesen. Er habe auch keine Steuererklärung abgegeben und keine Steuerunterlagen zur Verfügung gehabt. LSt sei von ihm nicht einbehalten worden. Der frühere Geschäftsführer XT sei am 03.12.2002 in Untersuchungshaft genommen worden. Er habe seinen jetzigen Prozessbevollmächtigten beauftragt, Recherchen anzustellen und anschließend den Insolvenzantrag zu stellen.

Nach Durchführung eines Erörterungstermins durch den Berichterstatter am 10.05.2006 beruft sich der Kl. auch darauf, dass der Insolvenzverwalter eine evtl. Abführung von Lohnsteuern an das FA, wie andere Verfügungen auch, angefochten hätte.

Der Kl. beantragt (sinngemäß),

den vom FA am 07.08.2006 gem. § 130 Abs. 1 AO geänderten Haftungsbescheid über insgesamt 13.413 EUR ersatzlos aufzuheben.

Das FA beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das FA sieht den Tatbestand der Geschäftsführerhaftung nur noch für den Anmeldungszeitraum Nov. 2002 als gegeben an. Der auf die LSt November 2002 entfallende Haftungsbetrag wurde mit dem Teilrücknahmebescheid vom 07.08.2006, auf den Bezug genommen wird (Bl. 81 FG-Akte), um 50 v. H. auf 11.360 EUR herabgesetzt. Einer vollständigen Abhilfe stehe entgegen, dass sich ausweislich der vorgelegten Kontenübersicht die Lohnzahlungen im Nov. 2002 auf ca. 40.000 EUR beliefen, wovon 16.000 EUR auf den Zeitraum ab 25.11.2002 entfielen.

Hinsichtlich der Kausalität zwischen Pflichtverletzung des Kl. und dem Schaden, nämlich der Nichtabführung der Lohnsteuer, vertritt das FA die Auffassung, diese entfalle nicht bereits dadurch, dass der Insolvenzverwalter möglicherweise bei pflichtgemäßem Verhalten des Kl. die Zahlung der Lohnsteuer angefochten hätte.

Wegen des Verlaufs des Erörterungstermins am 10.05.2006 wird auf das Protokoll vom 10.05.2006 Bezug genommen.

Der Senat hat am 16.11.2006 mündlich verhandelt. Hinsichtlich des Verlaufs und des Ergebnisses wird ebenfalls auf das Protokoll vom selben Tag Bezug genommen.

Die Klage ist in dem noch streitigen Umfang unbegründet.

Der Bescheid vom 07.08.2006, den das FA während des Klageverfahrens erlassen hat und der nur noch eine Haftung in Höhe von 50 v. H. des ursprünglichen Haftungsbetrags für LSt Nov. 2002 umfasst, ist rechtmäßig. Der Kl. haftet als Geschäftsführer der GmbH gemäß §§ 34, 69 AO. Er hat zumindest grob fahrlässig seine Pflicht verletzt, die von der GmbH vom Lohn der Arbeitnehmer einzubehaltende LSt von mindestens 11.360 EUR zuzüglich der darauf entfallenden Nebenabgaben für diesen Anmeldungszeitraum an das FA abzuführen. Dem FA ist bereits dadurch ein Schaden entstanden, dass die GmbH Lohnzahlungen geleistet hat, ohne dass der Kläger als deren gesetzlicher Vertreter die Erfüllung der Pflicht, zum Fälligkeitstermin die einbehaltene LSt abzuführen, sichergestellt hat. Der durch die Pflichtverletzung verursachte Schaden entfällt daher nicht deshalb, weil der Insolvenzverwalter möglicherweise bei Erfüllung der Pflicht die Zahlung hätte anfechten können (§§ 129 ff InsO).

Unstreitig war der Kl. Geschäftsführer der GmbH. Die steuerlichen Pflichten der GmbH hatte der Kl. als deren gesetzlicher Vertreter nicht erst mit der Eintragung im Handelsregister am 25.11.2002 zu erfüllen, sondern bereits mit seiner Bestellung durch Gesellschafterbeschluss, die vorausgegangen sein muss, nämlich ausweislich des Gutachtens des Sachverständigen im Insolvenzantragsverfahren vom 13.03.2003 (S. 10) am 15.11.2002. Die Wirksamkeit der Bestellung als Geschäftsführer einer GmbH ist nicht von der Eintragung in das Handelsregister abhängig (BFH-Urteil vom 17.2.1988, VII R 46/85, BFH/NV 1988, 683).

Als Geschäftsführer hatte der Kl. für die Erfüllung der steuerlichen Pflichten der GmbH als Arbeitgeber zu sorgen, die gemäß § 38 Abs. 3 EStG vom Arbeitslohn der Arbeitnehmer einbehaltene LSt nach § 41 a Abs. 1 EStG spätestens am 10. Tag nach Ablauf des Lohnsteuer-Anmeldungszeitraums dem FA als Betriebsfinanzamt die Summe der im Anmeldungszeitraum einbehaltenen und zu übernehmenden Lohnsteuer anzugeben (Nr. 1) und diese abzuführen (Nr. 2). Die GmbH hat, wie sich aus dem vom Kl. vorgelegten Kontoauszug des seit dem 31.10.2002 bei der Sparkasse E geführten Anderkonto ergibt, in erheblichem Umfang Arbeitslohn gezahlt. Dies wird vom Kl. seit Durchführung des Erörterungstermins auch nicht mehr bestritten. Wie hoch die bei Auszahlung der Nettolöhne gleichzeitig gem. § 38 Abs. 3 EStG einzubehaltende LSt tatsächlich war, ist mangels Abgabe einer Lohnsteuer-Anmeldung für den Anmeldungszeitraum November 2002 und weiterer Angaben des Kl. nicht mehr feststellbar und daher gem. § 162 AO zu schätzen. Der Senat hält die Schätzung der LSt durch das FA auf einen Betrag von 11.360 EUR für zutreffend, denn er entspricht in etwa der für Oktober angemeldeten Lohnsteuer in Höhe von 11.341,36 EUR. Des weiteren ist bei der Schätzung der Höhe der LSt zu berücksichtigen, dass nicht nur der im November überwiesene Arbeitslohn, der nach dem Kontoauszug über 35.000 EUR ausmacht, sondern auch die Barauszahlung von Arbeitslohn in Betracht kommt, denn im November wurden insgesamt über 40.000 EUR bar vom Betriebskonto abgehoben. Zum Fälligkeitstag am 10.12.2002 hätte der Kl., der zu diesem Zeitpunkt noch Geschäftsführer der GmbH war, die LSt, die vom ungekürzt ausgezahlten Arbeitslohn einbehalten worden ist, anmelden und abführen müssen. Dies ist jedoch nicht geschehen. Die Haftung gemäß § 69 AO umfasst auch die Verspätungs- und Säumniszuschläge.

Diese Pflicht hat der Kl. zumindest in grob fahrlässiger Weise verletzt. Er hat die zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße außer acht gelassen, in dem er, seinen eigenen Vortrag als wahr unterstellt, die Geschäftsführung über einen Monat innegehabt hat, ohne über Buchführungsunterlagen zu verfügen oder sonst einen Überblick über den Betrieb der GmbH zu haben. Der Kl. kann sich zur Entschuldigung auch nicht darauf berufen, er sei als Strohmann missbraucht worden und habe keinerlei Handlungsmöglichkeiten gehabt.

Der BFH hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass sich die Verantwortlichkeit des Geschäftsführers für die Erfüllung der steuerlichen Pflichten der GmbH allein aus seiner nominellen Bestellung zum Geschäftsführer ergibt, ohne Rücksicht darauf, ob sie auch tatsächlich ausgeübt werden kann (vgl. Urteile des BFH vom 07.05.1985 VII R 111/78, BFH/NV 1987, 210; vom 11.11.1986 VII R 201/83, BFH/NV 1987, 212 und Beschlüsse des BFH vom 05.03.1985 VII B 69/84, BFH/NV 1987, 422; vom 19.11.1985 VII S 13/85, BFH/NV 1986, 266; vom 25.04.1989 VII S 15/89, BFH/NV 1989, 757 und vom 07.03.1995 VII B 172/94, BFH/NV 1995, 941 sowie vom 08.03.2006 VII B 233/05, BFH/NV 2006, 1252). Ein GmbH-Geschäftsführer kann sich deshalb nicht damit entlasten, dass er von der Führung der Geschäfte ferngehalten wurde und die Geschäfte tatsächlich von einem anderen geführt worden sind. Wenn er die Geschäftsführung durch einen anderen duldet, so hat er durch geeignete Aufsichtsmaßnahmen dafür zu sorgen, dass dieser die steuerlichen Verpflichtungen der GmbH ordnungsgemäß und rechtzeitig erfüllt. Ist der Geschäftsführer nicht in der Lage, eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen, die ihm die Erfüllung seiner Pflichten ermöglichen, so muss er als Geschäftsführer zurücktreten und darf nicht im Rechtsverkehr den Eindruck erwecken, als sorge er für die ordnungsgemäße Abwicklung der Geschäfte (vgl. Urteile des BFH in BFH/NV 1987, 210, und vom 23.3.1993 VII R 38/92, BFH/NV 1994, 71 und Beschluss des BFH in BFH/NV 1995, 941, m. w. N.). Bis zu seinem Rücktritt bleibt der Geschäftsführer für die Erfüllung der steuerlichen Pflichten voll verantwortlich.

Der Senat ist allerdings davon überzeugt, dass der Kl. tatsächlich über den Geschäftsverlauf informiert war oder sich hätte informieren können, wenn er nicht lediglich als Strohmann die Geschäftsanteile übernommen hatte. Der Kl. hatte zumindest Einblick in das Geschäftskonto der GmbH bei der Sparkasse E nehmen können, das erst am 31.10.2002 eingerichtet worden war und über das der noch recht umfangreiche Zahlungsverkehr der GmbH abgewickelt wurde. In dem Büro der GmbH in ICN ist, wie er im Erörterungstermin hat erklären lassen, nur der Kl. und zuvor die frühere Geschäftsführerin tätig gewesen. Der Kl. war danach durchaus in der Lage, unabhängig von XT seinen steuerlichen Pflichten nachzukommen. Dass daneben, auf Grund der durch NX für XT erteilten Handlungsvollmacht, dieser möglicherweise noch weiter tätig war, fällt in den Verantwortungsbereich des Kl. und kann ihn wegen der mangelhaft ausgeübten Kontrolle nicht entschuldigen. Ob er selbst über das Konto verfügt hat oder als Bevollmächtigter der jetzige Prozessbevollmächtigte, ist für die Verantwortlichkeit des Kl. nicht von Bedeutung.

Dem Kl. standen auch genügend Mittel zur Abführung der Lohnsteuer zur Verfügung. Aus dem vorgelegten Kontoauszug ergibt sich, dass dort erhebliche Guthabenbeträge vorhanden waren bzw. zur Verfügung standen. Allein durch die Barabhebung vom Konto bei der Sparkasse E in Höhe von 12.000 EUR am 20.11.2002 wäre der Lohnsteueranspruch des FA gedeckt gewesen. Außerdem wies das Konto nach einer Gutschrift von 951,43 EUR am 04.12.2002 vor der nächsten Belastung am 11.12.2002 ein Guthaben von 3.566,21 EUR auf, so dass allein mit diesen Mitteln die einbehaltenen Lohnsteuerabzugsbeträge von rund 13.000 EUR am Fälligkeitstag an das FA hätten abgeführt werden können. Es ist deshalb nicht von Bedeutung, dass die bis zum 15.12.2002 erfolgten Lohnzahlungen noch von NX zu verantworten waren. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass auch nach dem 15.11.2002 noch Lohnzahlungen erfolgten, für die der Kl. ohnehin verantwortlich war.

Durch die Pflichtverletzung, die Nichtabführung der -einbehaltenen- Lohnsteuer einschließlich der Nebenleistungen, ist dem FA auch ein Schaden in Höhe des Haftungsbetrags entstanden. Die Kausalität zwischen Pflichtverletzung und Schaden entfällt nicht deshalb, weil der Insolvenzverwalter die Zahlung der GmbH bei pflichtgemäßem Verhalten hätte anfechten können.

Da der Haftungstatbestand des § 69 AO das Bestehen eines haftungsbegründenden ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Fehlverhalten des Vertreters und dem Eintritt des Steuerausfalls als Vermögensschaden voraussetzt, fehlt es an dem erforderlichen Kausalzusammenhang, wenn der Steuerausfall auch bei pflichtgemäßem Verhalten des Haftungsschuldners nicht zu vermeiden gewesen wäre (vgl. BFH-Beschluss vom 11.08.2005 VII B 244/04, BStBl. II 2006, 201). Hätte also der Insolvenzverwalter die Zahlung, wäre sie pflichtgemäß erfolgt, anfechten können und das FA das Empfangene in die Insolvenzmasse leisten müssen, wäre es ebenfalls zum Steuerausfall gekommen.

Die Frage, ob die Abführung von Lohnsteuern in den letzten drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine anfechtbare, gläubigerbenachteiligende Rechtshandlung darstellt oder ob ein sogenanntes Bargeschäft nach § 142 InsO vorliegt, ist vom BFH noch nicht abschließend entschieden (vgl. BFH-Beschlüsse in BStBl. II 2006, 201 und vom 24.04.2006 VII S 43/05 (PKH) nv). Ebenfalls ist noch nicht entschieden, ob und in welchem Umfang für eine Haftung nach § 69 AO ein hypothetischer Geschehensablauf Berücksichtigung finden kann.

Nach § 130 InsO ist bei kongruenter Deckung, wenn der Gläubiger Anspruch auf die Sicherung oder Befriedigung in dieser Form und zu dieser Zeit hatte, diese Rechtshandlung anfechtbar, wenn sie entweder in den letzten drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden ist und zur Zeit der Handlung der Schuldner zahlungsunfähig war und wenn der Gläubiger zu dieser Zeit die Zahlungsunfähigkeit kannte oder wenn sie nach dem Eröffnungsantrag vorgenommen worden ist und wenn der Gläubiger zur Zeit der Handlung die Zahlungsunfähigkeit oder den Eröffnungsantrag kannte. Nach Abs. 2 der Vorschrift steht der Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit oder des Eröffnungsantrags die Kenntnis von Umständen gleich, die zwingend auf die Zahlungsunfähigkeit oder den Eröffnungsantrag schließen lassen.

Im Streitfall hatte das FA zwar Anspruch auf Befriedigung am 10.12.2002, wie bereits oben ausgeführt wurde, es war ihm aber zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt, dass die GmbH zahlungsunfähig war. Dies ergibt sich aus der Durchsuchung durch die Steufa am 29.10.2002, die das FA veranlasst hat, die bereits rückständige Lohnsteuer 06 und 07/02 am 05.11.2002 zu pfänden. Es kann offen bleiben, ob dem FA bereits zu diesem Zeitpunkt bekannt war, dass die GmbH zum Zwecke der Finanzierung und Verdeckung der Zahlungsunfähigkeit Luftrechnungen erteilt hatte und deshalb seit langem zahlungsunfähig war, denn die sofortige Pfändung und der mehrmonatige Rückstand bei der Lohnsteuer lassen zwingend darauf schließen, dass das FA von der Zahlungsunfähigkeit der GmbH (§ 17 InsO) ausging, so dass zumindest die Voraussetzung von § 130 Abs. 2 InsO erfüllt war. Dies wird vom FA auch nicht bestritten. Da die Zahlungsverpflichtung der GmbH in den Drei-Monats-Zeitraum vor Insolvenzantragstellung am 19.12.2002 fällt, wäre die Zahlung anfechtbar gewesen. Dass der Insolvenzverwalter auch tatsächlich von seinem Anfechtungsrecht Gebrauch gemacht hätte, ergibt sich daraus, dass die vom FA auf Grund der Pfändungen (inkongruent) erlangte Befriedigung erfolgreich angefochten worden ist.

Die Insolvenzanfechtung greift aber dann nicht ein, wenn es sich bei der Abführung der Lohnsteuer um ein sogenanntes Bargeschäft gemäß § 142 InsO gehandelt hat. Ein solches liegt vor bei einer Leistung des Schuldners, für die unmittelbar eine gleichwertige Gegenleistung in sein Vermögen gelangt. Die Zahlung wäre dann nur unter den Voraussetzungen des § 133 Abs. 1 InsO, also mit hier nicht erkennbarem Gläubigerbenachteiligungsvorsatz anfechtbar.

Der BFH hat mit Beschluss vom 21.12.1998 VII B 175/98, BFH/NV 1999, 745 im summarischen Verfahren zu § 10 Abs. 1 Nr. 1 der Gesamtvollstreckungsordnung ein Bargeschäft bejaht, weil die Abzugsbeträge zum Arbeitslohn gehören, auf den die Arbeitnehmer einen arbeitsvertraglichen Anspruch haben. Diese Auffassung weicht allerdings von der Rechtsprechung des BGH (BGH-Urteil vom 22.01.2004 IX ZR 39/03 BGHZ 157, 350, NJW 2004, 1444 betreffend Pfändung durch das FA) ab, der die Abführung von LSt drei Monate vor Insolvenzantragstellung regelmäßig für gläubigerbenachteiligend hält und die Annahme eines Bargeschäfts bei Abführung der einbehaltenen LSt ablehnt. Der BGH (vgl. auch BGH-Urteil vom 08.12.2005 IX ZR 182/01, NJW 2005 1348 zur Anfechtung bei abgeführten Sozialversicherungsbeiträgen und vom 18.04.2005 II ZR 61/03, NJW 2005, 2546 zum Schadensersatz bei vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträgen) ist der Auffassung, nur Leistungen des Schuldners, für die dieser auf Grund einer Parteivereinbarung mit dem Anfechtungsgegner (hier: dem FA) eine gleichwertige Gegenleistung in sein Vermögen erhalten habe, könnten als Bargeschäfte angesehen werden. Der Schuldner habe aber mit dem FA weder eine Vereinbarung getroffen noch von ihm eine Gegenleistung erhalten. Zu berücksichtigen sei, dass die Lohnsteuer ebenso wie Sozialversicherungsbeiträge aus dem Vermögen des Arbeitgebers geleistet würden und zu Gunsten des Arbeitnehmers i. d. R. auch kein Treuhandverhältnis in Bezug auf diese Gelder bestehe. Nach der Rechtsprechung des BGH ist demnach davon auszugehen, dass im Fall der pflichtgemäßem Abführung der Lohnsteuer November 2002 eine Anfechtung dieser Zahlung durch den Insolvenzverwalter Erfolg gehabt hätte.

Die Finanzgerichte haben bei der hier gegebenen hypothetischen Anfechtbarkeit von Zahlungen der GmbH unterschiedlich entschieden. Die Entstehung eines kausalen Schadens haben verneint FG Berlin mit Urteil vom 27.02.2006 9 K 9114/05 (EFG 2006, 1122) und FG Rheinland-Pfalz mit Urteil vom 13.10.2005 6 K 2803/04 (EFG 2005, 83 mit Anmerkung Siegers). Sie folgen im Wesentlichen der Rechtsprechung des BGH in Zivilsachen. Dieser hat zur Frage der Schadensersatzpflicht des Geschäftsführers der zahlungsunfähigen GmbH gegenüber dem Sozialversicherungsträger gem. § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 266 a StGB entschieden, das Rangverhältnis von Forderungen bestimme sich im Insolvenzverfahren nach dem Willen des Gesetzgebers ausschließlich nach der InsO. Deshalb entfalle auch bei hypothetisch möglicher Anfechtung der Schaden (BGH in NJW 2005, 2546). Dagegen haben maßgeblich auf die verwirklichte tatbestandsmäßige Pflichtverletzung als Schadensursache abgestellt das FG Köln (Urteil vom 12.09.2005 8 K 5677/01, EFG 2006, 86) und das Schleswig-Holsteinisches Finanzgericht (Urteile vom 01.12.2005 2 K 101/04, EFG 2006, 1398 und 2 K 174/04, EFG 2006, 321) sowie das FG Düsseldorf (Urteil vom 31.01.2006 9 K 4573/03 H, EFG 2006, 706). Sie halten den hypothetischen Schadensverlauf für unbeachtlich, da nicht feststehe, ob tatsächlich die Reserveursache, nämlich die Anfechtung erfolge, z. B. sei zum Zeitpunkt der Pflichtverletzung offen, ob das Insolvenzverfahren überhaupt eröffnet werde (FG Köln in EFG 2006, 86).

Der letzteren Auffassung schließt sich der Senat an. Zwar ist die Haftung nach § 69 Abs. 1 AO nach allgemeiner Auffassung eine Schadensersatzhaftung, die grundsätzlich zivilrechtlichen Grundsätzen folgt, dennoch müssen dabei auch die Wertungen des Steuerrechts Beachtung finden. Bei reiner Anwendung der Grundsätze des BGH ergibt sich, dass der Geschäftsführer einer GmbH deren steuerliche Pflicht zur Abführung der einbehaltenen LSt verletzen kann, ohne dass er eine persönliche Haftung befürchten muss, wenn er rechtzeitig, nicht pflichtgemäß entsprechend § 64 Abs. 1 GmbHG - spätestens 3 Wochen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit -, sondern innerhalb der Drei-Monats-Frist (§ 130 Abs. 1 InsO) den Insolvenzantrag stellt. Damit liefe der Zweck der Haftungsnorm, den Geschäftsführer zur steuerlichen Pflichterfüllung anzuhalten, gerade dann ins Leere, wenn der Steueranspruch besonders gefährdet ist. Diese Konsequenz kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass es sich dabei um ein Ergebnis der seit dem 01.01.1999 geltenden InsO handelt, die Vorrechte der Finanzverwaltung nicht mehr vorsieht, denn durch die Haftung des Geschäftsführers wird die Masse nicht geschmälert. Es handelt sich auch nicht um eine Insolvenzforderung, die gem. § 87 InsO nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgt werden kann (ebenso FG Düsseldorf in EFG 2006, 706). Deshalb steht auch § 92 InsO, der die Verfolgung eines Gesamtschadens der Gläubiger allein dem Insolvenzverwalter zuweist, der Inanspruchnahme des Kl. nicht entgegen. Soweit sich der Geschäftsführer wegen seiner Ersatzpflicht gegenüber der Gesellschaft wegen § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG an der Pflichterfüllung gem. § 41 a EStG gehindert sieht, muss er den ohnehin gebotenen Insolvenzantrag stellen.

Das Ausbleiben der Insolvenzantragstellung nach der dreiwöchigen Prüfungsfrist und die Weiterführung des Unternehmens mit Vorenthaltung von Sozialversicherungsbeiträgen führt nach der Rechtsprechung der Strafsenate des BGH zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Geschäftsführers der zahlungsunfähigen GmbH gem. § 266 a StGB (vgl. BGH-Beschluss vom 08.09.2005, 5 StR 67/05, NJW 2005, 3650). Die Grundsätze des Strafrechts sind allerdings auf die Schadensersatzhaftung nicht direkt anwendbar, sprechen jedoch ebenfalls dafür, bei der Wertung der nicht eingetretenen Reserveursache zu berücksichtigen, dass diese die regelwidrige Fortführung des insolventen Schuldners voraussetzt.

Die vom FG gem. § 102 FGO auf Ermessensfehler beschränkte Prüfung der Entscheidung des FA, den Kl. als Geschäftsführer gem. §§ 69, 191 Abs. 1 AO durch Haftungsbescheid in Anspruch zu nehmen, ist nicht zu beanstanden. Gegen die GmbH als Arbeitgeberin kann der Anspruch wegen der Insolvenz nicht durchgesetzt werden.

Die Kostenentscheidung folgt für bis zum 07.08.2006 entstandene Kosten aus § 136 Abs. 1 FGO, da das FA der Klage teilweise abgeholfen hat. Für danach entstandene Kosten gilt § 135 Abs. 1 FGO. Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO, § 709 ZPO.

Die Revision war gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen. Eine Entscheidung des BFH zu den aufgeworfenen Rechtsfragen liegt noch nicht vor (vgl. BFH in BStBl. II 2006, 201).

Ende der Entscheidung

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