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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht Niedersachsen
Urteil verkündet am 23.01.2006
Aktenzeichen: 16 K 12/04
Rechtsgebiete: EStG, AuslG


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 1 Nr. 1
EStG § 62 Abs. 1
EStG § 63
AuslG § 51
AuslG § 53
AuslG § 54
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tatbestand

Streitig ist die Frage, ob einem in Deutschland lebenden Ausländer, der nicht im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis ist, Kindergeld gewährt werden kann.

Der Kläger stammt aus Angola und lebt seit dem 31. Mai 1998 in Deutschland. Ein von ihm gestellter Asylantrag wurde abgelehnt. Er ist Vater der drei minderjährigen Töchter C, M und M, die ausweislich der von ihm vorgelegten Haushaltsbescheinigung in seinem Haushalt leben.

Die Tochter M ist taubstumm, die Tochter M leidet an Asthmabronchiale, Malaria und rezidivierenden Infekten und bedarf ständiger ärztlicher Hilfe. Da in Angola eine medizinische Betreuung der Tochter M nicht möglich wäre und für sie bei Abschiebung akute Lebensgefahr bestehen würde, erkannte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit Bescheid vom 17. Mai 2001 für M ein Bleiberecht nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG an. Alle drei Töchter sind seit 2001 im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis.

Für den Kläger bestand zunächst ein humanitäres Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 8 EMRK, weil ihm eine Trennung von seinen Kindern nicht zugemutet werden konnte. Seit Oktober 2003 verfügt der Kläger über eine Aufenthaltsbefugnis.

Einen ersten Kindergeldantrag des Klägers vom 24. September 2001 hat der Beklagte mit Bescheid vom 25. September 2001 unter Hinweis auf die Regelung des § 62 Abs. 2 EStG abgelehnt. Dieser Bescheid ist bestandskräftig.

Am 14. Oktober 2003 stellte der Kläger erneut einen Kindergeldantrag. Diesen hat der Beklagte durch einen Bescheid, der laut Abgangsvermerk am 28. November 2003 zur Post ging, wiederum abgelehnt. Den dagegen eingelegten Einspruch hat der Beklagte mit Einspruchsbescheid vom 15. Dezember 2003 als unbegründet zurückgewiesen.

Im Klageverfahren vertritt der Kläger die Auffassung, dass ihm Kindergeld für die drei Töchter zustehen würde. Der Ausschluss von Ausländern mit minderem ausländerrechtlichem Status verstoße gegen Art. 3 GG.

Der Kläger ist der Auffassung, dass Kindergeld bis einschließlich des Kalendermonats festzusetzen sei, in dem die mündliche Verhandlung stattfindet. Bei Verpflichtungsklagen komme es auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung an. Der Beklagte habe im Übrigen die Kindergeldfestsetzung abgelehnt, ohne die Ablehnung auf einen bestimmten Zeitraum zu begrenzen.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 27. November 2003 und der Einspruchsentscheidung vom 15. Dezember 2003 den Beklagten zu verpflichten, Kindergeld für die Kinder C, M und M für den Zeitraum ab Oktober 2001 in gesetzlicher Höhe festzusetzen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte verweist auf die Vorschrift des § 62 Abs. 2 EStG. Da der Kläger nicht im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis sei, könne ihm kein Kindergeld gewährt werden.

Das Gericht hat zunächst mit Beschluss vom 6. Mai 2004 das Ruhen des Verfahrens angeordnet im Hinblick auf die anhängigen Verfahren, die die Verfassungsmäßigkeit des Ausschlusses des Kindergeldanspruchs von Ausländern mit minderem Aufenthaltsstatus zum Gegenstand haben. Mit Beschluss vom 23. Januar 2006 hat es unter Verzicht der Beteiligten auf die Einlegung von Rechtsmitteln diesen Beschluss aufgehoben.

Gründe

Die Klage hat teilweise Erfolg.

I. Die Klage ist unzulässig, soweit der Kläger die Festsetzung von Kindergeld über Dezember 2003 hinaus beantragt.

Der Beklagte hat entgegen der Rechtsauffassung des Klägers mit dem Ablehnungsbescheid vom 28. November 2003 lediglich die Festsetzung von Kindergeld für den Zeitraum von dem auf die bestandskräftige Ablehnung der Kindergeldfestsetzung durch Bescheid vom 25. September 2001 folgenden Kalendermonat Oktober 2001 an bis einschließlich Dezember 2003 und nicht auch für damals noch in der Zukunft liegende Zeiträume abgelehnt. Auch der Einspruchsbescheid vom 15. Dezember 2003 bezieht sich allein auf den Zeitraum von Oktober 2001 bis Dezember 2003.

Der Regelungsgehalt eines Bescheides, durch den ein Antrag auf Festsetzung von Kindergeld abgelehnt wird, erschöpft sich in der Bescheidung des Antragstellers für den Zeitraum bis einschließlich des Monats der Bekanntgabe des Ablehnungsbescheides. Über die in der Zukunft liegenden und damit zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht entstandenen Kindergeldansprüche kann ein Ablehnungsbescheid oder eine diesem gleichzusetzende sog. Nullfestsetzung schon deshalb keine Regelung treffen, weil noch nicht absehbar ist, ob die für die Kindergeldgewährung erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen vorliegen (BFH Urteil vom 28. Januar 2004BFH/NV 2004, 786).

Im Streitfall gilt der Ablehnungsbescheid vom 28. November 2003 gem. § 122 Abs. 2 Nr. 1 Abgabenordnung (AO) am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post, d.h. am 1. Dezember 2003, als bekannt gegeben. Damit hat der Beklagte die Kindergeldfestsetzung bis einschließlich Dezember 2003 abgelehnt.

Für die nachfolgenden Zeiträume liegen die Sachurteilsvoraussetzungen nicht vor, weil der Kläger insoweit weder durch einen ablehnenden Bescheid im Sinne des § 40 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) beschwert ist, noch, wie von § 44 FGO vorausgesetzt, erfolglos das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren durchlaufen hat. Begehrt der Kläger weiterhin die Gewährung von Kindergeld für die Zeit ab Januar 2004, so wird er deshalb zunächst erneut beim Beklagten einen Kindergeldantrag zu stellen haben.

II. Für den Zeitraum Oktober 2001 bis Dezember 2003 ist die Klage indes zulässig und begründet.

Der Kläger ist für die drei Töchter C, M und M gem. §§ 32 Abs. 1 Nr. 1, 62 Abs. 1 und 63 EStG kindergeldberechtigt. Die Kinder des Klägers waren damals noch minderjährig und lebten mit ihm zusammen in Deutschland in einem gemeinsamen Haushalt.

Allerdings hat nach § 62 Abs. 2 EStG in der bis einschließlich 2004 gültigen Gesetzesfassung ein Ausländer einen Anspruch auf Kindergeld nur, wenn er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis ist. Über einen entsprechenden Aufenthaltstitel verfügte der Kläger in den Jahren 2001 bis 2003 nicht.

§ 62 Abs. 2 EStG ist jedoch einschränkend verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass der Ausschluss der Kindergeldberechtigung für solche Ausländer nicht gilt, die nach den §§ 51, 53 oder 54 Ausländergesetz auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden können und die sich seit mindestens einem Jahr ununterbrochen in Deutschland aufhalten.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 6. Juli 2004 1 BvL 4,5,6/97, BVerfGE 111, 160 entschieden, dass § 1 Abs. 3 Satz 1 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms vom 21. Dezember 1993 (BGBl. I 1993, 2353) mit Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) unvereinbar ist, weil keine Gründe von solchem Gewicht ersichtlich sind, die die unterschiedliche Behandlung ausländischer Eltern ohne Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis im Vergleich zu anderen ausländischen Eltern rechtfertigen könnten. Der Gesetzgeber dürfe nicht allein aus fiskalischen Erwägungen heraus eine Gruppe von Personen, gegenüber denen der Staat aus Art. 6 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG zu einem Familienlastenausgleich verpflichtet ist, von einer bestimmten Leistung ausschließen, die anderen gewährt wird. Der Ausschluss müsse sachlich gerechtfertigt sein, woran es hier fehle. Deutsche, Ausländer mit Aufenthaltsberechtigung oder -erlaubnis und Ausländer ohne einen solchen Titel, die aber dennoch legal in Deutschland lebten, seien in gleicher Weise durch die persönlichen und finanziellen Aufwendungen bei der Kindererziehung belastet. Soweit es Ziel der gesetzlichen Neuregelung gewesen sei, Kindergeld nur solchen Ausländern zu gewähren, die sich auf Dauer in Deutschland aufhalten, sei die Regelung ungeeignet, dieses Ziel zu erreichen, weil einerseits diejenigen, die über eine Aufenthaltsbefugnis verfügen, sich nicht typischerweise nur kurzfristig in Deutschland aufhielten, andererseits eine Aufenthaltserlaubnis auch befristet bei kurzfristigem Aufenthalt erteilt werde.

Diese Erwägungen und Entscheidungsgründe des Bundesverfassungsgerichts treffen in gleicher Weise auf § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG in der Fassung des Jahressteueränderungsgesetzes 1996 vom 11. Oktober 1995 (BGBl. I 1250 ) zu, weil diese Vorschrift mit § 1 Abs. 3 Satz 1 BKGG in der Fassung vom 21. Dezember 1993 wortlautgleich ist. Dabei ist es unerheblich, dass sich die Regelung nunmehr in einem anderen Gesetz findet und rechtssystematisch in einen anderen Kontext eingebettet ist. Denn die Problematik, dass eine Gruppe von Eltern ohne sachlichen Grund aus dem Kreis der Anspruchsberechtigten ausgegrenzt wird, stellt sich hier wie dort. Jedenfalls sind vom Beklagten keine Gründe vorgetragen worden oder sonst ersichtlich, die die vom Gesetzgeber vorgenommene Differenzierung aus spezifisch einkommensteuerlichen Erwägungen heraus rechtfertigen könnten. Im Ergebnis ist deshalb auch § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss 1 BvL 4,5,6/97 (a.a.O.) dem Gesetzgeber eine Frist bis zum 1. Januar 2006 gesetzt, durch eine Neuregelung einen verfassungskonformen Zustand herzustellen. Diese Frist hat der Gesetzgeber sowohl für das BKGG als für die entsprechende Regelung im EStG ungenutzt verstreichen lassen. Das Bundesverfassungsgericht hat zum BKGG entschieden, dass, sollte der Gesetzgeber in der ihm gesetzten Frist nicht reagieren, für alle noch nicht rechts- oder bestandskräftig abgeschlossene Verfahren das bis zum 31. Dezember 1993 geltende Recht, d.h., das BKGG in der Fassung des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990 (BGBl. I 1990, 1354), anzuwenden ist. Nach dieser Gesetzesfassung haben Ausländer, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung im Geltungsbereich des Gesetzes aufhalten, einen Anspruch dann, wenn sie nach den §§ 51, 53 und 54 AuslG auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden können, frühestens jedoch für die Zeit nach einem gestatteten oder geduldeten ununterbrochenen Aufenthalt von einem Jahr.

Da § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG an dem gleichen verfassungsrechtlichen Makel leidet wie § 1 Abs. 3 Satz 1 BKGG in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms vom 21. Dezember 1993, ist die Vorschrift entsprechend dem Entscheidungsausspruch des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls verfassungskonform dahingehend einschränkend auszulegen, dass nur jenen ausländischen Eltern kein Kindergeld zu gewähren ist, in deren Person kein Abschiebungshindernis nach §§ 51, 53 und 54 AuslG vorliegt oder die sich nicht wenigstens ein Jahr ununterbrochen in Deutschland aufhalten.

Das Gericht ist nicht gehalten, nach Art. 100 Abs. 1 GG die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber einzuholen, ob die Vorschrift des § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Hat das Bundesverfassungsgericht bereits eine Entscheidung zu einer vergleichbaren Rechtsvorschrift getroffen, kann das unterinstanzliche Gericht diese Entscheidung in eigener Entscheidungszuständigkeit auf die andere Rechtsnorm übertragen. Dies hat unlängst der BFH in seinem Urteil vom 1. Juni 2004 IX R 35/04 BStBl. II 2005, 26 ebenso entschieden, in dem er unter Übertragung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 22 Nr. 3 EStG a.F. auf § 23 Abs. 4 S. 3 EStG in der bis 1993 geltenden Fassung in verfassungskonformer Auslegung das Verlustausgleichs- und -abzugsabverbot ohne Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nicht angewandt hat.

Im Streitfall steht dem Kläger ein Kindergeldanspruch für seine drei Töchter zu, weil in seiner Person ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG vorlag und er sich bereits seit 1998 und damit länger als ein Jahr ununterbrochen in Deutschland aufhielt.

III. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 136 Abs. 1 FGO.

IV. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).

V. Das Gericht lässt die Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 EStG zu.

Ende der Entscheidung

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