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Gericht: Finanzgericht Niedersachsen
Urteil verkündet am 28.09.2006
Aktenzeichen: 16 K 76/05
Rechtsgebiete: SGB VIII, UStG, 6. EG-Richtlinie


Vorschriften:

SGB VIII § 30
SGB VIII § 35a
UStG § 4 Nr. 23
6. EG-Richtlinie Art. 13 Teil A Abs. 1h)
6. EG-Richtlinie Art. 13 Teil A Abs. 1i)
Umsätze aus der psychotherapeutischen Beratung und Betreuung von Problemfamilien nach Art. 13 Teil A Abs. 1 h) und i) 6. EG-Richtlinie steuerfrei.
Finanzgericht Niedersachsen

16 K 76/05

Tatbestand:

Streitig ist die Frage, ob die Umsätze, die der Kläger mit seinem "lebensweltorientierten Familienkrisendienst" erzielt, umsatzsteuerfrei sind.

Der Kläger, ausgebildeter und diplomierter Sozialarbeiter, betreibt ab 2001 einen "lebensweltorientierten Familienkrisendienst". Gegenstand ist die psychotherapeutische Beratung und Betreuung von Problemfamilien, und zwar ambulant als auch stationär. Wegen weiter Einzelheiten des Leistungsangebots des Klägers wird auf das Unternehmenskonzept des Klägers (Bl. 53 ff FG-Akte) verwiesen. Bei diesen Leistungen handelt es sich um Leistungen, die überwiegend unter § 35 a SGB VIII (Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche), teilweise unter § 30 SGB VIII (Erziehungsbeistand/Betreuungshelfer) fallen. Grundlage der zu erbringenden Leistungen sind die Hilfepläne des Jugendamtes.

Der Kläger schließt mit dem Landkreis ... als örtlicher Träger der Jugendhilfe laufend Leistungsvereinbarungen. Darin verpflichtet sich der Kläger, Leistungen in Form der Betreuung der Problemfamilien entsprechend seinem Leistungskonzept zu erbringen; der Landkreis bestätigt, dass diese Leistungen zu bestimmten Kosten führen. Außerdem erteilt der Landkreis dem Kläger vor der Erbringung von Leistungen gegenüber einer bestimmten zu betreuenden Person eine Kostenübernahmezusage.

Der Kläger erbringt seine Leistungen ausschließlich gegenüber Landkreisen als Trägern der örtlichen Jugendhilfe. Die Höhe der Umsätze im ambulanten Bereich betrugen 2001 75.152,- DM und 2002 112.549,- EUR.

Der Kläger hat die Umsätze insgesamt als steuerfrei behandelt und zunächst keine Umsatzsteuererklärungen abgegeben. Im Rahmen einer Umsatzsteuersonderprüfung im Jahre 2004 folgte dem der Beklagte zwar hinsichtlich des stationären Bereichs, sah aber die ambulant erbrachten Leistungen mangels einer Steuerbefreiungsvorschrift als steuerpflichtig an. Dementsprechend erfasste er die Umsätze in den Umsatzsteuerbescheiden 2001 und 2002, jeweils vom 29. April 2004. Vorsteuern hat der Beklagte jeweils geschätzt. Der Kläger hat im Einspruchsverfahren eine Umsatzsteuererklärung für 2002 mit höheren Vorsteuern nachgereicht; der Beklagte hat unter Auswertung der Erklärung am 30. März 2005 einen geänderten Bescheid erlassen.

Der Kläger ist der Auffassung, dass für das Jahr 2001 die Kleinunternehmerregelung des § 19 UStG zur Anwendung komme, weil nach einer Umsatzprognose nicht mit einem höheren Umsatz als 100.000,- DM zu rechnen sei. Der Kläger beruft sich insoweit auf eine Entscheidung des FG München.

Hinsichtlich der Umsätze im ambulanten Bereich sei zwar nicht § 4 Nr. 23 UStG, wohl aber Art. 13 Abs. 1 Buchstaben h und i der 6. EG-Richtlinie einschlägig. Diese sei unmittelbar einschlägig. Eine Gewinnerzielungsabsicht sei nach neuerer Rechtsprechung nicht schädlich.

Der Kläger beantragt,

die Umsatzsteuer für die Streitjahre jeweils auf 0,- DM/0,- EUR festzusetzen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte sieht keinen Raum für die Anwendung der Kleinunternehmerregelung im Jahre 2001, weil mit höheren Umsätzen als 32.500,- DM zu rechnen gewesen sei. Nach der Rechtsprechung des BFH sei im Erstjahr diese Grenze und nicht der Betrag von 100.000,- DM anzuwenden.

Die Befreiungsvorschrift in der 6. EG-Richtlinie betreffe nur Einrichtungen, die nicht systematisch Gewinnerzielung anstrebten. Gegen die gegenteilige Entscheidung des Hessischen Finanzgerichts sei Revision eingelegt worden, es biete sich daher an, die Entscheidung des BFH abzuwarten.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist begründet.

Auch die Umsätze, die der Kläger im ambulanten Bereich erzielt hat, sind umsatzsteuerfrei.

Das ergibt sich allerdings nicht aus einer Rechtsnorm des nationalen Umsatzsteuergesetzes, wie auch der Kläger einräumt. Insbesondere ist nicht § 4 Nr. 23 UStG einschlägig, weil die Vorschrift voraussetzt, dass der Steuerpflichtige Jugendliche für Erziehungs-, Ausbildungs- oder Fortbildungszwecke bei sich aufnimmt. Dies ist hier nicht der Fall.

Allerdings sind die streitigen Leistungen nach der 6. EG-Richtlinie von der Umsatzsteuer befreit. Ein Einzelner kann sich in Ermangelung fristgemäß erlassener Umsetzungsmaßnahmen auf Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, gegenüber allen nicht richtlinienkonformen innerstaatlichen Vorschriften berufen. Er kann sich auf diese Bestimmungen auch berufen, soweit sie so geartet sind, dass sie Rechte festlegen, die der Einzelne dem Staat gegenüber geltend machen kann. Ein Mitgliedstaat kann einem Steuerpflichtigen, der beweisen kann, dass er steuerrechtlich unter einen Befreiungstatbestand der Richtlinie fällt, nicht entgegenhalten, dass er die Vorschriften, die die Anwendung eben dieser Steuerbefreiung erleichtern sollen, nicht erlassen hat (BFH Urteil vom 18. August 2005 V R 71/03, BStBl. II 2006, 143).

Im Streitfall zählt Art. 13 Teil A Abs. 1 h) 6. EG-Richtlinie die Tätigkeiten, die steuerfrei sind, inhaltlich hinreichend genau auf; die Vorschrift ist nicht zureichend in nationales Recht transformiert worden.

Gem. Art. 13 A Abs. 1 h) 6. EG-Richtlinie befreien die Mitgliedstaaten die eng mit der Kinder- und Jugendbetreuung verbundenen Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung von der Umsatzsteuer.

Diese Voraussetzungen liegen im Falle der hier streitigen Tätigkeit des Klägers vor. Der Kläger erbringt Dienstleistungen, die eng mit der Kinder- und Jugendbetreuung verbunden sind. Art und Umfang seiner Tätigkeit werden in §§ 30 und 35 a SGB VIII geregelt und durch die vom Jugendamt erstellten Hilfepläne für die betreuten Personen konkretisiert. Bei dem Unternehmen des Klägers handelt es sich um eine vom Staat als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung. Die Anerkennung eines Unternehmens als Einrichtung mit sozialem Charakter kann auch aus der Übernahme der Kosten für seine Leistungen durch Krankenkassen oder andere Einrichtungen der sozialen Sicherheit abgeleitet werden. Maßgebend ist insoweit, dass es sich ihrer Art nach um Leistungen handelt, für die die Kosten von den Sozialversicherungsträgern übernehmbar waren (BFH Urteil vom BStBl. II 2004, 849). Eine derartige Kostenübernahme liegt im Streitfall vor, wie sich aus der zwischen dem Kläger und dem Landkreis ... abgeschlossenen Rahmenvereinbarung sowie den für die jeweiligen Einzelfälle erteilten Kostenübernahmezusagen ergibt.

Der Begriff der "Einrichtung" ist grundsätzlich weit genug, um auch private Einheiten mit Gewinnerzielungsabsicht zu erfassen. Hat der Gemeinschaftsgesetzgeber die Inanspruchnahme der betreffenden Befreiungen wie bei der hier in Rede stehenden Norm nicht ausdrücklich vom Fehlen eines Gewinnstrebens abhängig gemacht, kann das Streben nach Gewinnerzielung die Inanspruchnahme dieser Befreiungen nicht ausschließen (EuGH Urteil vom 26. Mai 2005 C-498/03 -"Kingscrest"-, Beilage zu BFH/NV 2005, 310; BFH Urteil vom 18. August 2005 V R 71/03, BStBl. II 2006, 143).

Der Senat sieht auch keine Veranlassung, die Entscheidung bis zur Entscheidung des BFH in der Sache V R 2/06 zurückzustellen, weil von dieser Entscheidung keine neuen Erkenntnisse für das Klageverfahren zu erwarten sind. Das Hessische Finanzgericht hat in seinem Urteil vom 13. Dezember 2005 die Revision zugelassen, weil es davon ausging, dass nach Art. 13 Teil A Abs. 1 h) der 6. EG-Richtlinie Einrichtungen auch dann von der Steuer befreit sind, wenn sie mit Gewinnerzielungsabsicht betrieben werden und damit von der Entscheidung des BFH vom 28. Februar 2002 V B 31/01, BFH/NV 2002, 957 abgewichen ist. Der BFH hat jedoch schon mit Urteil vom 18. August 2005 V R 71/03, das zum Zeitpunkt des Ergehens der Entscheidung des Hessischen FG jedoch noch nicht veröffentlicht war, seine diesbezügliche Rechtsansicht geändert, so dass hinsichtlich dieser Frage die Rechtslage inzwischen geklärt ist.

Der zweite Punkt, derentwegen das Hessische FG die Revision zugelassen hatte - dort war zwischen Kläger und Jugendamt ein als gemeinnützig anerkannter Verein zwischengeschaltet, so dass sich die Frage stellt, ob die erbrachten Dienstleistungen noch "eng" mit der Kinder- und Jugendbetreuung zusammenhängen - ist für den Streitfall ohne Belang, weil er einen anders gelagerten Sachverhalt betrifft.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Ende der Entscheidung

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