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Gericht: Finanzgericht Niedersachsen
Urteil verkündet am 16.05.2007
Aktenzeichen: 7 K 239/05
Rechtsgebiete: EStG
Vorschriften:
EStG § 16 Abs. 4 S. 1 |
Finanzgericht Niedersachsen
Tatbestand:
Streitig ist, ob den Klägern jeweils ein Freibetrag nach § 16 Abs. 4 Einkommensteuergesetz (EStG) zu gewähren ist.
Die miteinander verheirateten Kläger wurden gemäß §§ 26, 26 b EStG zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger ist am 2. August 1947 und die Klägerin am 7. August 1947 geboren.
Im Streitjahr erzielten die Kläger u. a. Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit sowie Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung.
Des Weiteren waren die Kläger zusammen mit ... als Kommanditisten und der ... Verwaltungsgesellschaft mbH, dessen Stammkapital die Klägerin zu 100 % gehalten hatte, Gesellschafter der ... GmbH & Co. KG bis zum 31. Dezember 2001 gewesen. Dieser Betrieb wurde zum 1. Januar 2002 durch die Veräußerung des Betriebsgrundstücks und die Überführung der übrigen Wirtschaftsgüter in das Privatvermögen aufgegeben; hierüber haben sich die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung verständigt.
Mit Bescheid für 2002 über die gesonderte und einheitliche Feststellung der Besteuerungsgrundlagen vom ... stellte der Beklagte einen Veräußerungsgewinn für den Kläger in Höhe von ... EUR und für die Klägerin in Höhe von ... EUR fest.
Im Rahmen der Durchführung der Einkommensteuerveranlagung 2002 erließ der Beklagte zunächst einen Einkommensteuerbescheid vom ... Nachdem die Kläger eine geänderte Anlage GSE eingereicht und die Besteuerung des Veräußerungsgewinns mit dem ermäßigten Steuersatz des § 34 Abs. 3 EStG beantragt hatten, erging gemäß § 172 Abs. 1 Nr. 2 Abgabenordnung (AO) ein Änderungsbescheid vom ... Insoweit berücksichtigte der Beklagte die Tarifvergünstigung nach § 34 Abs. 3 EStG und setzte die Einkommensteuer 2002 auf ... EUR fest.
Dagegen legten die Kläger am ... Einspruch ein, mit dem sie jeweils die Berücksichtigung eines Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG wegen der Vollendung des 55. Lebensjahrs begehrten.
Mit Einspruchsbescheid vom 12. Mai 2005 wies der Beklagte den vorbezeichneten Einspruch als unbegründet zurück.
Dagegen erhoben die Kläger Klage, mit der sie weiterhin die Gewährung der Freibeträge nach § 16 Abs. 4 EStG begehren. Ihrer Ansicht nach seien die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt, da die Kläger jeweils im Streitjahr 2002 das 55. Lebensjahr vollendet hätten. Im Gegensatz zu der bis zum Veranlagungszeitraum 1995 geltenden Fassung des § 16 Abs. 4 EStG lasse sich der Neuregelung des § 16 Abs. 4 EStG nicht mehr entnehmen, dass die Vollendung des 55. Lebensjahrs vor bzw. spätestens bei Betriebsaufgabe gegeben sein müsse. Da die Einkommensteuer eine Jahressteuer sei, die regelmäßig am Jahresende entstehe, könne es auf die Chronologie der unterjährigen Geschehensabläufe insoweit nicht ankommen. Es reiche daher aus, wenn im Falle der Betriebsaufgabe das 55. Lebensjahr spätestens am Ende des Veranlagungszeitraums vollendet sei.
Die Kläger beantragen,
den Einkommensteuerbescheid 2002 vom ... in der Fassung des Einspruchsbescheids vom ... dahingehend zu ändern, dass den Klägern hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung ihres Gewerbebetriebes jeweils in Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG gewährt und die Einkommensteuer entsprechend festgesetzt wird.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hält an seiner Rechtsauffassung fest. Voraussetzung für die Gewährung des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG sei, dass der Steuerpflichtige das 55. Lebensjahr bereits zum Zeitpunkt der Veräußerung oder der Aufgabe des Betriebs vollendet habe. Da die Betriebsaufgabe jedoch zum 1. Januar 2002 erfolgt sei und die Kläger erst im August 2002 jeweils das 55. Lebensjahr vollendet hätten, käme ein entsprechender Freibetrag nicht in Betracht. Ein Erreichen der Altersgrenze im Verlaufe des Veranlagungszeitraums reiche insoweit nicht aus.
Wegen des weitergehenden Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Sitzungsprotokoll vom 16. Mai 2007 Bezug genommen.
Dem Gericht haben die für die Kläger beim Beklagten geführten Einkommensteuerakten 2002 unter der Steuernummer ... sowie die Steuerakten der ... GmbH & Co. KG unter der Steuernummer ... vorgelegen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist begründet.
Den Klägern ist jeweils der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG zu gewähren, so dass bei den gewerblichen Einkünften der Kläger im Zusammenhang mit der Betriebsaufgabe der ... GmbH & Co. KG der für den Kläger entstandene Aufgabegewinn von ... EUR vom Freibetrag umfasst wird und der für die Klägerin entstandene Aufgabegewinn von ... EUR abzüglich des Freibetrags von 51.200,00 EUR anzusetzen ist.
Hat der Steuerpflichtige das 55. Lebensjahr vollendet oder ist er im sozialversicherungsrechtlichen Sinne dauernd berufsunfähig, so wird gemäß § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG in der für das Streitjahr maßgebenden Fassung der Veräußerungsgewinn auf Antrag zur Einkommensteuer nur herangezogen, soweit er 51.200,00 EUR übersteigt.
Nach Durchführung der mündlichen Verhandlung ist der Senat der Ansicht, dass den Klägern jeweils der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG zu gewähren ist, auch wenn sie jeweils erst im Verlaufe des Veranlagungsjahrs und nicht bereits im Zeitpunkt der Betriebsaufgabe das 55. Lebensjahr vollendet haben. Die Vollendung des 55. Lebensjahrs tritt gemäß § 108 AO in Verbindung mit §§ 187 Abs. 2 Satz 2, 188 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) mit Ablauf des Tages ein, der dem 55. Geburtstag vorausgeht.
In Rechtsprechung und Literatur wird zwar überwiegend die Meinung vertreten, dass der Steuerpflichtige im Zeitpunkt der Veräußerung bzw. Aufgabe das 55. Lebensjahr vollendet haben muss, um die persönlichen Tatbestandsvoraussetzungen des § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG zu erfüllen (sinngemäß BFH, Urteil vom 21. September 1995 IV R 1/95, BStBl II 1995, 893: ergangen zur dauernden Berufsunfähigkeit; FG Münster, Urteil vom 15. März 2007 14 K 3073/06 E, [...]; Blümich/Stuhrmann, Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, Kommentar, 88. Ergänzungslieferung Oktober 2005, § 16 EStG Rz. 460; Kauffmann in Frotscher, Einkommensteuergesetz, Kommentar, 125. Lieferung März 2005, § 16 Rz. 254; Kobor in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz, Kommentar, 210. Lieferung Juli 2003, § 16 EStG Anm. 508; Reiß in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Einkommensteuergesetz, Kommentar, 39. Ergänzungslieferung August 1992, § 16 Rdnr. G 15; Hörger/Rapp in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, 61. Ergänzungslieferung Mai 2004, § 16 Rn 239; Schmidt/Wacker, Einkommensteuergesetz, Kommentar, 26. Auflage, § 16 Rz 579; BMF, Schreiben vom 20. Dezember 2005 IV B 2 - S 2242 - 18/05, BStBl I 2006, 7 Abschnitt IV). Dabei soll die Vollendung im Fall der Veräußerung zum Zeitpunkt des Erfüllungsgeschäfts bzw. im Fall der Aufgabe zum Zeitpunkt des Endes der Betriebsaufgabe mit der Verwertung der letzten wesentlichen Betriebsgrundlage genügen (Kauffmann in Frotscher, a.a.O., § 16 Rz. 254; Kobor in Herrmann/Heuer/Raupach, a.a.O., § 16 EStG Anm. 508; Kauffmann in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, a.a.O., § 16 Rdnr. G 15; Hörger/Rapp in Littmann/Bitz/Pust, a.a.O., § 16 Rn 239; Schmidt/Wacker, a.a.O., § 16 Rz 579; Kanzler, Die zeitliche Komponente beim erhöhten Freibetrag wegen Betriebsaufgabe oder -veräußerung nach § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG a.F. Zugleich einige Gedanken zur Neuregelung des § 16 Abs. 4 EStG durch das Jahressteuergesetz 1996, FR 1995, 851; Wendt, Steuersenkungsgesetz/Steuersenkungsergänzungsgesetz: Neuregelung der Betriebsaufgabe/Veräußerung wegen Alters oder Berufsunfähigkeit, FR 2000, 1199).
Der Senat teilt diese Rechtsauffassung allerdings nicht. Die Vorschrift des § 16 Abs. 4 EStG, die mit Ausnahme der Höhe des Freibetrags bzw. des Ermäßigungsbetrags bis heute gleichlautend ist, ist in dieser Fassung erst durch das Jahressteuergesetz 1996 vom 11. Oktober 1995 (BGBl I 1995, 1250) entstanden. Bis dahin hatte die Freibetragsregelung des § 16 Abs. 4 EStG folgenden Wortlaut: "Der Veräußerungsgewinn wird zur Einkommensteuer nur herangezogen, soweit er bei der Veräußerung des ganzen Betriebes 30.000 Deutsche Mark und bei der Veräußerung eines Teilbetriebes oder eines Anteils am Betriebsvermögen den entsprechenden Anteil von 30.000 Deutsche Mark übersteigt. Der Freibetrag ermäßigt sich um den Betrag, um den der Veräußerungsgewinn bei der Veräußerung des ganzen Gewerbebetriebes 100.000 Deutsche Mark und bei der Veräußerung eines Teilbetriebes oder eines Anteils am Betriebsvermögen den entsprechenden Teil von 100.000 Deutsche Mark übersteigt. An die Stelle der Beträge von 30.000 Deutsche Mark tritt jeweils der Betrag von 120.000 Deutsche Mark und an die Stelle der Beträge von 100.000 Deutsche Mark jeweils der Betrag von 300.000 Deutsche Mark, wenn der Steuerpflichtige nach Vollendung seines 55. Lebensjahres oder wegen dauernder Berufsunfähigkeit seinen Gewerbebetrieb veräußert oder aufgibt." Durch den Konditionalhalbsatz "wenn der Steuerpflichtige nach Vollendung seines 55. Lebensjahres oder wegen dauernder Berufsunfähigkeit seinen Gewerbebetrieb veräußert oder aufgibt" in der bis zum Jahressteuergesetz 1996 geltenden Fassung des § 16 Abs. 4 EStG ergibt sich eindeutig die Abhängigkeit der Gewährung des Freibetrags vom Eintritt der Vollendung des 55. Lebensjahrs bereits im Zeitpunkt der Betriebsveräußerung oder Betriebsaufgabe. Demgegenüber enthält die Neuregelung eine solche Formulierung nicht. Statt dessen heißt es in § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG lediglich "Hat der Steuerpflichtige das 55. Lebensjahr vollendet ...". Nach Ansicht des Senats wird durch diesen Wortlaut kein zwingender Bezug zwischen dem Begriff der Vollendung des 55. Lebensjahrs und dem Zeitpunkt der Veräußerung bzw. Aufgabe des Betriebs hergestellt. Die diesbezügliche zeitliche Relation bleibt vielmehr offen (vgl. insoweit FG Münster, a.a.O., [...]; Schmidt/Seeger, a.a.O., § 34 Rz 61; Stahl in Carlé/Korn/Stahl/Strahl, Einkommensteuergesetz, Kommentar, 33. Ergänzungslieferung Januar 2007, § 16 Rz. 415). Auch in der Begründung zum Jahressteuergesetz 1996 wird die geänderte Formulierung nicht erläutert (vgl. Bundestags-Drucksache 13/1686; FG Münster, a.a.O., [...]). Bei wortgetreuer Auslegung des neuen Gesetzestextes sieht der Senat die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG dementsprechend als erfüllt an, wenn der Steuerpflichtige im Falle einer Betriebsveräußerung bzw. Betriebsaufgabe bis zum Ende des betreffenden Veranlagungszeitraums/Kalenderjahrs das 55. Lebensjahr vollendet hat (so auch Schmidt/Seeger, a.a.O., § 34 Tz. 61; Stahl in Korn, a.a.O., § 16 Rz. 415). Der Senat hält es für unzulässig, verschärfend ein zusätzliches Tatbestandsmerkmal, welches nicht (mehr) in der gesetzlichen Regelung enthalten ist, zu Lasten des Steuerpflichtigen zur Voraussetzung des Freibetrages zu machen. Durch die wortgetreue Anwendung der Regelung wird auch dem Umstand Rechnung getragen, dass die Einkommensteuer gemäß § 2 Abs. 7 EStG in Verbindung mit § 36 Abs. 1 EStG mit Ablauf des Veranlagungszeitraums entsteht und das Erreichen/Überschreiten einer Altersgrenze nicht der Disposition des Steuerpflichtigen unterliegt (Schmidt/Seeger, a.a.O., § 34 Rz 61; Stahl in Korn, a.a.O., § 16 Rz. 415). Außerdem ist die steuerliche Belastung eines Veräußerungsgewinns wegen des Zusammentreffens mit anderen Einkünften (z. B. Verlusten) erst mit dem Ablauf des Veranlagungszeitraums erkennbar (Schmidt/Seeger, a.a.O., § 34 Rz 61). Im Übrigen steht dieser Auslegung auch nicht das obige Urteil des Bundesfinanzhofs vom 21. September 1995 (IV R 1/95, BStBl II 1995, 893) entgegen, da diese Entscheidung nur die Regelung des § 16 EStG in der Fassung von 1987 und dementsprechend nicht das Streitjahr 2002 betrifft (so auch Schmidt/Seeger, a.a.O., § 34 Rz 61). Schließlich steht die vom Senat vorgenommene Auslegung im Einklang mit dem Sinn und Zweck der Freibetragsregelung des § 16 Abs. 4 EStG. Mit der Gewährung dieser sachlichen Steuerbefreiung soll der Gewinn aus einer Veräußerung bzw. Aufgabe kleinerer Betriebe aus sozialen Gründen nicht bzw. nicht vollständig der Besteuerung unterworfen werden, wenn der Steuerpflichtige ein bestimmtes Alter überschritten hat, um ihn dadurch steuerlich zu entlasten und soziale Härten auszugleichen (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses vom 16. Mai 2000 zum Steuersenkungsgesetz, Bundestags-Drucksache 14/3366, 117; BFH, Beschluss vom 19. Juli 1993 GrS 2/92, BStBl II 1993, 897; FG Münster, a.a.O., [...]; Hörger/Rapp in Littmann/Bitz/Pust, a.a.O., § 16 Rn 238; Wendt, a.a.O., FR 2000, 1199).
Da vorliegend die Kläger bis zum Ende des Veranlagungszeitraums 2002 - wenn auch rund acht Monate nach Betriebsaufgabe der ... GmbH & Co. KG - jeweils das 55. Lebensjahr vollendet haben und ihnen dementsprechend jeweils der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG zu gewähren ist, war der Klage stattzugeben.
Dem Beklagten wird gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO auferlegt, die Einkommensteuer 2002 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gericht neu festzusetzen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die übrigen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 151, 155 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Revision war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen.
Ende der Entscheidung
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