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Gericht: Finanzgericht Nürnberg
Urteil verkündet am 12.01.2006
Aktenzeichen: VI 311/2005
Rechtsgebiete: EStG, AO
Vorschriften:
EStG § 32 Abs. 4 S. 2 | |
EStG § 70 Abs. 4 | |
AO § 155 Abs. 4 |
Tatbestand
Streitig ist, ob der rückwirkenden Bewilligung von Kindergeld ein bestandskräftiger Aufhebungsbescheid entgegen steht.
Der Kläger bezog für seinen Sohn S (geb. xxx .1977), der sich in Ausbildung befand, laufend Kindergeld. Mit Bescheid vom 17.06.2003 wurde die Bewilligung von Kindergeld ab Januar 2003 aufgehoben, weil nach der vorläufigen Berechnung der Einkünfte und Bezüge der Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG (im Streitjahr 7.188 €) überschritten werde. Der vorläufigen Berechnung lag eine Selbstauskunft von S vom 15.05.2003 zugrunde, wonach er im Anschluss an die Hochschulausbildung ab 01.05.2003 ein Promotionsstudium anschließen werde. Die monatlichen Bezüge bezifferte er mit 1.450 € brutto monatlich (1/2 BAT IIa). Der daraufhin von der Beklagten intern durchgeführten Ermittlung der Einkünfte und Bezüge von S für das Kalenderjahr 2003 (vgl. Bearbeitervermerk vom 10.06.2003, Blatt 6 der Kindergeldakte) wurde der voraussichtliche Bruttoarbeitslohn von S für 8 Monate i.H.v. 11.600 € (monatlich 1.450 €, BAT IIa) und der Arbeitnehmer-Pauschbetrag i.H.v. 1.044 € zugrunde gelegt. Daraus ergaben sich Einkünfte und Bezüge i.H.v. 10.556 €. Der Bescheid vom 17.06.2003 wurde bestandskräftig.
Am 26.05.2004 stellte der Kläger erneut Antrag auf Bewilligung von Kindergeld für das Jahr 2003 mit der Begründung, das zu versteuernde Einkommen seines Sohnes S betrage lediglich 4.271 € und liege damit unter dem Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG. Zur Begründung legte er den Einkommensteuerbescheid 2003 für S vom 24.05.2004 vor. Daraus ergab sich, dass S Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit i.H.v. 7.293 € erzielte und die Einkünfte aus Kapitalvermögen mit 0 € angesetzt wurden, weil von den Einnahmen i.H.v. 421 € nach Abzug des Werbungskostenpauschbetrags i.H.v. 51 € und des Sparerfreibetrags i.H.v. 370 € keine steuerpflichtigen Einkünfte mehr übrig blieben.
Mit Bescheid vom 16.11.2004 wurde der erneute Antrag auf Bewilligung von Kindergeld für das Jahr 2003 abgelehnt, weil die Einkünfte und Bezüge von S im Kalenderjahr 2003 weiterhin den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überstiegen. Die Beklagte ermittelte die Summe der Einkünfte und Bezüge von S mit 8.449,80 €. Wie bereits bei der vorläufigen Berechnung, die dem Aufhebungsbescheid vom 17.06.2003 zugrunde lag, wurden entsprechend der bislang herrschenden Rechtsansicht die Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung bei der Grenzbetragsberechnung nicht in Abzug gebracht.
Im Einspruchsverfahren wurden im Wesentlichen die Belege, die der Einkommensteuerveranlagung 2003 zugrunde gelegen hatten, vorgelegt.
Im Hinblick auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2005 (2 BvR 167/02), wonach vom Arbeitnehmer geleistete Sozialversicherungsbeiträge, die im Bruttoarbeitslohn enthalten sind, nicht in die Jahresgrenzbetragsberechnung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG mit einzubeziehen seien, erließ die Beklagte am 28.06.2005 einen Teilabhilfebescheid und bewilligte dem Kläger Kindergeld für S für den Zeitraum Juli bis Dezember 2003. Ausweislich der vorgelegten Unterlagen betrug der Arbeitnehmeranteil von S an der Sozialversicherung im Jahr 2003 insgesamt 2.588 €. Der Jahresgrenzbetrag wurde somit nicht überschritten.
Soweit der Kläger darüber hinaus die Bewilligung von Kindergeld für den Zeitraum Januar bis Juni 2003 begehrte, hatte der Einspruch keinen Erfolg. Die Beklagte vertrat dazu die Auffassung, einer rückwirkenden Bewilligung stehe der bestandskräftige Aufhebungsbescheid vom 17.06.2003 entgegen. Korrekturvorschriften, die eine Durchbrechung der Bestandskraft ermöglichen würden, lägen nicht vor.
Mit seiner Klage beantragt der Kläger, den Ablehnungsbescheid vom 16.11.2004 und die Einspruchsentscheidung vom 28.06.2005 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, Kindergeld für S für den Zeitraum Januar bis einschließlich Juni 2003 i.H.v. vom monatlich 154 € zu bewilligen.
Zur Begründung trägt er, vertreten durch seine Prozessbevollmächtigten, Folgendes vor:
Die Beklagte könne sich nicht darauf berufen, der rückwirkenden Kindergeldfestsetzung stehe ein bestandskräftiger Aufhebungsbescheid entgegen, weil dies gegen die Grundsätze von Treu und Glauben verstoßen würde. Der Kläger habe sich nach Erhalt des Aufhebungsbescheids vom 17.06.2003 bei dem zuständigen Sachbearbeiter erkundigt, wie es sich mit seinen Rechten verhalte, wenn sich für das Jahr 2003 nachträglich herausstelle, dass die Einkommensgrenze für die Bewilligung von Kindergeld nicht überschritten werde. Der Sachbearbeiter habe ihm für diesen Fall mitgeteilt, es sei ihm dann unbenommen, erneut einen Antrag auf Bewilligung von Kindergeld für das gesamte Jahr 2003 zu stellen. Nur aufgrund dieser Auskunft habe der Kläger davon abgesehen, gegen den Aufhebungsbescheid vom 17.06.2003 Einspruch einzulegen.
Darüber hinaus habe die Beklagte unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch einen Abhilfebescheid für den Zeitraum Januar bis Juni 2003 zu erteilen. Jede andere Betrachtungsweise würde dem Sinn und Zweck des erneuten Kindergeldantrags für das abgelaufene Kalenderjahr widersprechen. Die Beklagte könne nicht den Umstand, dass nachträglich keine höheren Werbungskosten nachgewiesen worden seien, als Vorwand dafür benutzen, die Vorgaben des Verfassungsgerichtsurteils nicht von Amts wegen umzusetzen. Danach seien die vom Sohn des Klägers geleisteten Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung bei den Einkünften und Bezügen, die der Jahresgrenzbetragsberechnung zugrunde gelegt werden, in Abzug zu bringen.
Im Übrigen könne es nicht angehen, dass der Kläger durch den abgelehnten Antrag schlechter gestellt werde, als wenn er überhaupt keinen Antrag auf Kindergeld gestellt hätte.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Begründung nimmt sie auf ihre Ausführungen in der Einspruchsentscheidung vom 28.06.2005 Bezug. Darin ist ausgeführt, der rückwirkenden Bewilligung von Kindergeld stehe der bestandskräftige Ablehnungsbescheid vom 17.06.2003 entgegen. Korrekturvorschriften, die die Bindungswirkung des bestandskräftigen Bescheids beseitigen würden, lägen nicht vor.
Darüber hinaus werde bestritten, dass der Kläger vom zuständigen Sachbearbeiter die behauptete Rechtsauskunft erhalten habe. Der Kindergeldakte sei hierüber nichts zu entnehmen. Anhaltspunkte für ein treuwidriges Verhalten seien nicht erkennbar.
Gründe
Die Klage ist begründet.
Der begehrten Festsetzung des Steuervergütungsanspruchs (Kindergeldfestsetzung für Januar bis einschließlich Juni 2003) steht die bestandskräftige (negative) Festsetzung (Aufhebungsbescheid vom 17.06.2003) nicht entgegen. Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger Kindergeld für Januar bis Juni 2003 zu bewilligen, § 70 Abs. 4 EStG.
Voraussetzung des Begehrens, eine geänderte Kindergeldfestsetzung zu erlangen ist, dass nicht bereits eine bestandskräftige Kindergeldfestsetzung vorliegt oder für eine Änderung eine Änderungsnorm einschlägig ist. Dies ergibt sich aus den allgemeinen Regelungen der Abgabenordnung (AO) über die Bestandskraft von Verwaltungsakten bzw. sonstigen Änderungsnormen (z.B. § 70 Abs. 2 - 4 EStG) -unter Berücksichtigung des Regelungsgehalts des Verwaltungsakts-, die auch für die Kindergeldfestsetzung als Steuervergütung gelten (§ 155 Abs. 4 AO).
Nach der Rechtsprechung des BFH beschränkt sich dabei die Bindungswirkung eines bestandskräftigen, die Gewährung von Kindergeld ablehnenden oder aufhebenden Bescheids -worunter auch eine sog. Nullfestsetzung fällt (BFH-Urteil vom 25.07.2001 VI R 78/98, BStBl. II 2002, 88)- auf die Zeit bis zum Ende des Monats seiner Bekanntgabe (BFH in BStBl. II 2002, 88).
Der Aufhebungsbescheid vom 17.06.2003 ist bestandskräftig. Dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig. Anhaltspunkte, die zu einer anderen rechtlichen Würdigung führen könnten, sind nicht ersichtlich und werden auch nicht vorgetragen.
Soweit der Neuantrag des Klägers vom 26.05.2004 als Antrag auf Änderung des bestandskräftigen Aufhebungsbescheids vom 17.06.2003 gewertet wird, ist die Beklagte verpflichtet, diesem in vollem Umfang stattzugeben, § 70 Abs. 4 EStG.
A. Gemäß § 70 Abs. 4 EStG ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG über- oder unterschreiten.
aa) Ob für ein über 18 Jahre altes Kind Anspruch auf Kindergeld besteht, lässt sich erst nach Ablauf des Kalenderjahres endgültig beurteilen. Denn erst dann steht objektiv fest, welche Zeiträume des Jahres bei der Ermittlung des Grenzbetrages zu berücksichtigen und wie hoch die eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes in diesen Zeitabschnitten gewesen sind. Dennoch ist das Kindergeld auch im Fall volljähriger Kinder monatlich zu zahlen (§ 31 Satz 3 und § 71 EStG). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Kindergeldfestsetzungen, die vor Ablauf des Kalenderjahres erfolgt sind, aufzuheben zu können, wenn abzusehen ist oder bekannt wird, dass das Kind mit Rücksicht auf die Höhe seiner Einkünfte und Bezüge nicht berücksichtigungsfähig ist.
bb) Schon vor Einfügung des § 70 Abs. 4 EStG durch Art. 1 Nr. 21 des Zweiten Gesetzes zur Familienförderung vom 16. August 2001 (BGBl. I S. 2074) hat der Bundesfinanzhof die Änderungsmöglichkeit der Kindergeldfestsetzung daher sowohl für den Fall bejaht, dass sich die Überschreitung im Laufe eines Kalenderjahres abzeichnete, als auch für den Fall, dass sich die Überschreitung nach Ablauf eines Kalenderjahres herausstellte (BFH-Urteile vom 26.07.2001 VI R 83/98 und VI R 55/00, BStBl. II 2001, 85 und 86).
cc) Mit der Einfügung des § 70 Abs. 4 EStG wollte der Gesetzgeber die Änderungsbefugnis auf eine eindeutige gesetzliche Grundlage stellen. Nach der bis zur Einfügung des § 70 Abs. 4 EStG bestehenden Gesetzeslage hat der BFH die Änderungsmöglichkeit auch für den Fall bejaht, dass die Behörde bereits im Zeitpunkt der ursprünglichen Festsetzung Anlaß hatte, am Bestehen des Kindergeldanspruchs zu zweifeln; offen gelassen wurde die Änderungsbefugnis lediglich für den Fall, dass der Behörde bei feststehendem Sachverhalt ein reiner Rechtsanwendungsfehler unterlaufen ist (BFH-Urteil in BStBl. II 2002, 86, 87 unter 2. a) a.E.). Dieser Rechtsprechung ist auch bei Auslegung des § 70 Abs. 4 EStG Rechnung zu tragen.
dd) Liegt also eine fehlerhafte Rechtsanwendung der Behörde vor, kann eine Korrektur allenfalls nach § 70 Abs. 3 EStG - dies allerdings nur mit Wirkung für die Zukunft - oder nach Maßgabe der einschlägigen Vorschriften der Abgabenordnung erfolgen.
B. Unter Berücksichtigung der vorgenannten Ausführungen scheitert die Anwendung der Korrekturnorm des § 70 Abs. 4 EStG nicht bereits daran, dass der Beklagten bei Erlass des bestandskräftigen Ablehnungsbescheids lediglich ein Rechtsanwendungsfehler unterlaufen ist. Zum einen lag kein feststehender Sachverhalt, sondern nur eine Prognoseentscheidung für das laufende Jahr vor, zum anderen wurde bei der Prognoseberechnung der Jahresgrenzbetrag in jedem Fall - auch bei Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge - überschritten.
Der Ablehnungsbescheid vom 17.06.2003 beruht im Ergebnis nicht auf einem Rechtsanwendungsfehler. Bei der Prognoseentscheidung im Bescheid vom 17.06.2003 ist die Beklagte aufgrund der Angaben des Klägers bzw. seines Sohnes im Anhörungsverfahren zu Recht davon ausgegangen, dass der Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG im Jahr 2003 voraussichtlich überschritten werde. Der Berechnung lag dabei kein feststehender, sondern nur ein vorläufiger Sachverhalt, wie bei Prognoseentscheidungen üblich, zugrunde. Bei der Berechnung kam es im Ergebnis nicht darauf an, ob die von S voraussichtlich zu entrichtenden Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung berücksichtigt werden oder nicht, denn aufgrund des vorläufigen Ansatzes von Werbungskosten nur in Höhe des Arbeitnehmer-Pauschbetrags (1.044 €) wurde bei der Prognoseberechnung der Jahresgrenzbetrag in jedem Fall überschritten. Darüber hinaus war nach Aktenlage dem Kläger die vorläufige Berechnung, die die Beklagte vornahm, nicht bekannt.
C. Die erst nach Ablauf des Kalenderjahres feststehenden Werbungskosten von S, die lt. Einkommensteuerbescheid 2003 vom 24.05.2004 insgesamt 5.205 € betrugen und deren Höhe auch von der Beklagten im Wesentlichen nicht bestritten werden, stellen die nach § 70 Abs. 4 EStG erforderlichen nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen dar, die letztlich zur Unterschreitung des Jahresgrenzbetrags geführt haben. Da die Nichtberücksichtigung der von S zu leistenden Sozialversicherungsbeiträge für den Ablehnungsbescheid vom 17.06.2003 nicht ursächlich war, kann die geänderte Rechtsauslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG aufgrund des Beschlusses des BVerfG vom 11.05.2005 bei der Neuentscheidung voll berücksichtigt werden.
Ob und inwieweit eine Bewilligung von Kindergeld auch nach Vertrauensschutzgesichtspunkten gerechtfertigt wäre, kann letztlich dahingestellt bleiben. Der Senat geht davon aus, dass der Sachbearbeiter den Kläger lediglich auf den Regelungsinhalt des § 70 Abs. 4 EStG hingewiesen hatte.
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren war für notwendig zu erklären, weil das Verfahren Rechtsfragen zum Gegenstand hatte, deren Verfolgung dem Kläger allein nicht zuzumuten war (§ 139 Abs. 3 Satz 3 FGO).
Anmerkung
Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt (BFH III B 21/06)
Ende der Entscheidung
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