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Gericht: Finanzgericht Rheinland-Pfalz
Urteil verkündet am 19.10.2006
Aktenzeichen: 6 K 2764/05
Rechtsgebiete: EStG
Vorschriften:
EStG § 32 Abs. 4 Nr. 2 | |
EStG § 70 Abs. 4 |
Finanzgericht Rheinland-Pfalz
In dem Finanzrechtsstreit
hat das Finanzgericht Rheinland-Pfalz - 6. Senat - am 19. Oktober 2006 durch den Richter am Finanzgericht als Berichterstatter
für Recht erkannt:
Tenor:
1. Der Kindergeldbescheid vom 11. November 2005 wird unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 28. November 2005 dahin geändert, dass dem Kläger Kindergeld für sein Kind R ab dem Monat Februar 2005 gewährt wird.
2. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der vom Beklagten zu tragenden Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v.H. des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand:
Strittig ist die Berücksichtigung von Sozialversicherungsbeiträgen bei der Prognose über die eigenen Einkünfte und Bezüge eines Kindes im laufenden Jahr der Kindergeldzahlung.
Der Kläger ist Vater des Kindes R, geb. am 22. Januar 1987. Er erhielt für das Kind fortlaufend Kindergeld. Mit Bescheid vom 17. Dezember 2004 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers vom 14. Dezember 2004 für den Zeitraum von Februar bis Dezember 2005 ab, da die eigenen Einkünfte und Bezüge des dann über 18 Jahre alten Kindes den für diesen Zeitraum anteiligen Grenzbetrag von EUR 7.040 übersteigen würden. Am 12. April 2005 bat der Kläger unter Vorlage einer Bescheinigung über die Berufsausbildungsbeihilfe für das Kind um Neuberechnung des Kindergeldes. Mit Bescheid vom 18. April 2005 lehnte der Beklagte die Gewährung nach Neuberechnung abermals ab. Dem Bescheid war wie dem Bescheid vom 17. Dezember 2004 nach der Rechtsbehelfsbelehrung folgender "Wichtiger Hinweis" angefügt: "Falls nach Ablauf des Jahres feststeht, dass die Einkünfte und Bezüge ihres Kindes den Grenzbetrag nicht überschritten haben, können sie einen erneuten Antrag auf Festsetzung des Kindergeldes stellen". Der Bescheid wurde bestandskräftig.
Auf erneuten Antrag des Klägers am 1. Mai 2005 nach Bekanntwerden des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts zur Berücksichtigung von Sozialversicherungsbeiträgen bei der Ermittlung des Grenzbetrages der eigenen Einkünfte und Bezüge eines Kindes gewährte der Beklagte mit Bescheid vom 11. November 2005 Kindergeld rückwirkend ab dem Mai 2005.
Hiergegen legte der Kläger Einspruch ein. Mit Einspruchsentscheidung vom 28. November 2005 wurde der Einspruch zurückgewiesen, da der Ablehnungsbescheid vom 18. April 2005 bestandskräftig geworden sei und daher Kindergeld auf den erneuten Antrag am 1. Mai 2005 erst ab diesem Monat gewährt werden könne.
Der Kläger trägt vor, auch in den Fällen, in denen das Kindergeld im Rahmen der Prognoseentscheidung zunächst wegen Überschreitung des Grenzbetrages abgelehnt worden und dann nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wegen des Abzugs der Sozialversicherungsbeiträge im Rahmen der abschließenden Prüfung dieser Grenzbetrag unterschritten sei, würde entgegen der Ansicht der Beklagten die Änderungsmöglichkeit des § 70 Abs. 4 EStG eingreifen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Kindergeldbescheid vom 11. November 2005 unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 28. November 2005 dahin zu ändern, dass ihm Kindergeld für das Kind R ab dem Januar 2005 gewährt wird.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte trägt vor, der bestandskräftig gewordene Ablehnungsbescheid vom 18. April 2005 würde Bindungswirkung bis Ende April 2005 entfalten, da der Kläger einen erneuten Antrag auf Gewährung von Kindergeld erst im Mai 2005 gestellt hätte. Eine Korrektur nach § 70 Abs. 4 EStG auf Grund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts sei grundsätzlich nicht möglich, weil eine Änderung der Rechtsauffassung durch die Rechtsprechung kein nachträgliches Bekanntwerden im Sinne der Vorschrift sei.
Mit Schriftsatz vom 18. September 2006 und mit Schriftsatz vom 25. September 2006 haben der Kläger und der Beklagte Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter erklärt und auf mündliche Verhandlung verzichtet.
Gründe:
Die Klage, über die das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten gem. § 79a Abs. 3, 4 FGO durch den Berichterstatter und gem. § 90a Abs. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist begründet.
Dem Kläger war für seine Tochter R gem. § 32 Abs. 4 Nr. 2 EStG ab dem Februar 2005 Kindergeld zu gewähren, da das Kind zwar nach Vollendung des 18. Lebensjahres, aber vor Vollendung des 27. Lebensjahres für einen Beruf ausgebildet wurde und keine eigenen Einkünfte und Bezüge von mehr als 7.040 EUR -anteilig für die Zeit von Februar bis Dezember 2005- hatte. Der Gewährung von Kindergeld stand dabei die Bestandskraft des Ablehnungsbescheides vom 18. April 2005 nicht entgegen, der der Beklagte diese negative Kindergeldfestsetzung im laufenden Jahr 2005 und somit vor Ablauf des Prognosezeitraums auf Grund der Korrekturvorschrift des § 70 Abs. 4 EStG ändern konnte.
Nach § 70 Abs. 4 EStG ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG über- oder unterschreiten. Die Vorschrift setzt voraus, dass die zu korrigierende Kindergeldfestsetzung vor Beginn oder während eines Kalenderjahres als Prognoseentscheidung über die Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr ergangen ist. Dieses Erfordernis ist dem Wortlaut des § 70 Abs. 4 EStG zwar nicht unmittelbar zu entnehmen, folgt indessen aus der Systematik und dem Zweck der Vorschrift. Die Regelung des § 70 Abs. 4 EStG soll nach der Gesetzesbegründung sicherstellen, dass die Festsetzung von Kindergeld für ein volljähriges Kind nach Ablauf des Kalenderjahres korrigiert werden kann, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG entgegen einer früheren Prognose der Familienkasse überschreiten oder entgegen der Prognose nicht überschreiten. Die Korrekturmöglichkeit ist erforderlich, weil das Kindergeld im Laufe des Kalenderjahres monatlich gezahlt wird, ein Anspruch darauf aber entfällt, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes nach Ablauf des Kalenderjahres den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG übersteigen. Ob der Jahresgrenzbetrag überschritten wird, entscheidet sich erst im Laufe des Kalenderjahres und kann regelmäßig erst nach Ablauf des Jahres abschließend geprüft werden. Die Regelung des § 70 Abs. 4 EStG soll deshalb die Korrektur von Kindergeldfestsetzungen, die vor Beginn oder während eines Kalenderjahres als Prognoseentscheidung ergehen, ermöglichen. In diesen Fällen ist zum Zeitpunkt der Festsetzung noch ungewiss, ob der Jahresgrenzbetrag überschritten wird, gleichwohl ist die Familienkasse gehalten, das Kindergeld monatlich auszuzahlen (BFH-Urteil vom 28. Juni 2006 - III R 13/06, in juris).
Zwar hat der BFH in dem vorgenannten Urteil die Frage, ob § 70 Abs. 4 EStG die Aufhebung bzw. Änderung der Kindergeldfestsetzung auch dann ermöglicht, wenn sich lediglich die rechtliche Beurteilung des der Prognoseentscheidung zu Grunde liegenden Sachverhalts geändert hat, ausdrücklich offen gelassen, weil es in dem dort entschiedenen Streitfall keiner Entscheidung dieser Frage bedurfte. Nach nahezu einhelliger Auffassung der Finanzgerichte ist diese Frage aber zu bejahen (Finanzgericht Düsseldorf, Urteil vom 12. Januar 2006 - 14 K 4078/05 Kg, EFG 2006, 1445; Niedersächsisches Finanzgericht , Urteil vom 21. März 2006 - 13 K 398/05, EFG 2006, 1261; Finanzgericht München, Urteil vom 14. März 2006 - 12 K 4695/05; Finanzgericht Münster, Urteile vom 29. März 2006 - 1 K 4716/05 Kg und vom 25. April 2006 11 K 3797/05 Kg, EFG 2006, 1380; Hessisches Finanzgericht, Urteil vom 6. April 2006 - 3 K 3760/05, EFG 2006, 1181; Finanzgericht Köln, Urteile vom 17. Mai 2006 - 15 K 9/06 und vom 7. Juni 2006 - 10 K 4621/05).
Dieser Auffassung ist zu folgen, da die gegenteilige Auffassung des Beklagten die auf Grund der Prognoseentscheidung durch § 70 Abs. 4 EStG eingeschränkte Bestandskraft des Ablehnungsbescheides vom 18. April 2005 unberücksichtigt lässt, den Kläger in Anbetracht des vom Beklagten dem Bescheid angefügten Hinweises entgegen den Grundsätzen von Treu und Glauben unangemessen benachteiligt und zu unpraktikablen Ergebnissen führt.
Denn derartige Prognoseentscheidungen tragen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht den Charakter der Vorläufigkeit in sich. Die Vorschrift stellt auch nicht auf das nachträgliche Bekanntwerden von Tatsachen ab, wie dies in § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO der Fall ist, sondern auf die "Einkünfte und Bezüge" des Kindes. Was zu den Einkünften und Bezügen gehört und wie hoch diese sind, lässt sich aber nur durch eine rechtliche Beurteilung bestimmen. so dass die Änderungsmöglichkeit des § 70 EStG auch bei einem nachträglichen Bekanntwerden, dass die ursprünglich vorgenommene rechtliche Würdigung fehlerhaft war, eingreift (vgl. Finanzgericht Münster, Urteil vom 29. März 2006 - 1 K 4716/05 Kg, a.a.O.). Hinzu kommt im Streitfall, dass der Kläger den "Wichtigen Hinweis", der dem Ablehnungsbescheid beigefügt war, nur dahingehend verstehen konnte, dass eine jederzeitige Änderung der ablehnenden Kindergeldfestsetzung vor einer abschließenden Beurteilung der "Einkünfte und Bezüge" des Kindes möglich ist. Der "Wichtige Hinweis" bezieht sich auch nur allgemein auf die "Einkünfte und Bezüge" des Kindes und trifft keine Unterscheidung hinsichtlich einer Änderung der zu Grunde liegenden Umstände bzw. der rechtlichen Würdigung derselben. Es würde insoweit gegen die Grundsätze von Treu und Glauben verstoßen, wenn sich der Beklagte nunmehr entgegen des von ihm verwandten Hinweises darauf berufen könnte, eine Änderung des Ablehnungsbescheides sein trotz geänderter höchstrichterlicher Rechtsprechung wegen der eingetretenen Bestandskraft nicht mehr möglich (vgl. Hessisches Finanzgericht, Urteil vom 6. April 2006 - 3 K 3760/05, a.a.O.). Für den Kläger war in keiner Hinsicht ersichtlich, dass er nach der Auffassung des Beklagten zur Wahrung seiner Rechte Einspruch hätte einlegen und diesen dann bis zu einer abschließenden Entscheidung hätte ruhen lassen müssen. Ein solches Verfahren wäre zudem auch für die Familienkasse unpraktikabel, da diese gezwungen wäre, in rechtlicher Hinsicht eine abschließende Bearbeitung des Kindergeldfalles schon bei der Prognoseentscheidung vorzunehmen. Nach Kenntnis des Gerichts behält sich die Familienkasse aber bei der abschließenden Bearbeitung beispielsweise die Berücksichtigung von Werbungskosten vor, auch wenn diese im Rahmen der Prognoseentscheidung bei der Berechnung des Grenzbetrages zunächst zu Grunde gelegt wurden. Jedenfalls konnte der Kläger auf Grund des "Wichtigen Hinweises", wie er für ihn zu verstehen war, davon ausgehen, dass eine abschließende Beurteilung des Über- bzw. Unterschreitens des Grenzbetrages der eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes vor Ablauf des Kalenderjahres nicht getroffen werden würde.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Revision war gem. § 115 Absatz 2 Nr. 1 FGO zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat und da bereits wegen dieser Rechtsfrage Revisionen gegen die vorgenannten Urteil der Finanzgerichte beim BFH anhängig sind.
Gleichwohl hat das Gericht von einer Aussetzung des Verfahrens gem. § 74 FGO abgesehen, da der Unterhaltsbedarf, der durch das Kindergeld erfüllt werden soll, bereits beim Kläger eingetreten ist und eine Festsetzung von Kindergeld erst nach einer Entscheidung über die anhängigen Revisionen den Kläger nochmals unangemessen benachteiligen würde.
Ende der Entscheidung
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