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Gericht: Finanzgericht Thüringen
Urteil verkündet am 05.09.2007
Aktenzeichen: III 680/06
Rechtsgebiete: EStG


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 1
EStG § 62
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Thüringen

III 680/06

Familienleistungsausgleich ab Juni 2005 sowie Rückerstattung für den Zeitraum Juni 2005 bis Dezember 2005

In dem Rechtsstreit

...

hat der III. Senat des Thüringer Finanzgerichts

am 5. September 2007

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Unter Aufhebung des Bescheides vom 9. Februar 2006, geändert durch Bescheid vom 17. Juli 2006 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 17. Juli 2006 wird die Beklagte verpflichtet, Kindergeld ab Juni 2005 in der gesetzlich vorgesehenen Höhe zu gewähren.

2. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.

3. Das Urteil ist wegen der von der Beklagten zu tragenden Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Hinterlegung oder Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruches des Klägers abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

Streitig ist, ob für die am X. XXX 1967 geborene, zu einem Grad von 100 v.H. Behinderte A. Kindergeld gewährt werden kann, obwohl sie in Räumlichkeiten lebt, die nicht unmittelbar zur Wohnung des Klägers gehören.

A. ist ein vollwaises, behindertes Pflegekind. Im Juni 2004 verstarb ihr Vater. Seit dem wurden der Kläger als ihr Bruder und dessen Frau zu ihren Pflegeeltern bestimmt. Sie betreuten A. zunächst in ihrer eigenen Wohnung in der B-Straße im Erdgeschoß. Der Kläger erhielt antragsgemäß Kindergeld. Im Mai 2005 zog A. in eigene Räumlichkeiten in der B-Straße, ebenfalls im Erdgeschoss. Beide Häuser grenzen unmittelbar aneinander; sie befinden sich in einem Wohnblock (vgl. Bauplan, Bl. 38 Finanzgerichtsakte sowie die Bilder Bl. 48 ff). Die Wohnungen grenzen nicht unmittelbar aneinander, so dass eine Verbindung mittels eines Mauerdurchbruchs bautechnisch nicht möglich ist. Die Wohnung des Klägers besteht aus vier kleinen Zimmern, Küche und Bad und hat eine Größe von insgesamt 68,7 qm. Die von A. bewohnten Räumlichkeiten umfassen 59,87 qm. Sie werden durch öffentliche Mittel nach dem Sozialgesetzbuch finanziert, der Kläger zahlt 75 Euro monatlich dazu. Um von der Wohnung des Klägers zu A. zu gelangen, muss man das Haus verlassen und den ca. 13 Meter entfernt gelegenen nächsten Hauseingang betreten.

Die Beklagte versagte Kindergeld mit Bescheid vom 9. Febr. 2006 zunächst ab Januar 2006 (Bl. 19 AA-Akte), mit geändertem Bescheid vom 17. Juli 2006 schon ab Juni 2005 und forderte bereits gezahltes Kindergeld zurück, da A. nicht mehr in den Haushalt des Klägers aufgenommen worden sei. Der Einspruch wurde ebenfalls am 17. Juli 2006 zurückgewiesen. Mit Schreiben vom 17. August 2006 erhob der Kläger Klage wegen der Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung. Ein nicht begründeter PKH-Antrag wurde am 25. April 2007 abgelehnt. Danach legte der Kläger eine Klagebegründung vor und beantragte zugleich eine Berichtigung des Rubrums, die Benennung des Klägers dürfe nicht sachgerecht sein. Die Aktenaufschrift daraufhin wurde zunächst antragsgemäß geändert.

Der Kläger trägt vor, A. bedürfe ständiger Betreuung. Daher habe er als Bruder sie zunächst in die eigene Wohnung aufgenommen. Diese sei jedoch viel zu klein, zumal noch vier Enkelkinder betreut würden, von denen zwei abwechselnd in seiner Wohnung übernachten würden. Dies geschehe deswegen, weil eine alleinstehende, in Schichten arbeitende Tochter auf die Betreuung ihrer Kinder durch ihn angewiesen sei. Zudem sei die Ehefrau des Klägers chronisch krank. Daher habe der Kläger - in Abstimmung mit dem Sozialamt - für A. eine unmittelbar im Nachbarhaus gelegene Wohnung angemietet. A. sei nicht in der Lage, ein eigenständiges Leben zu führen. Sie schlafe zwar in der Wohnung und halte sich auch in der Freizeit 3 darin auf, doch verfüge die Wohnung nicht über einen Herd, da dies ein zu großes Gefahrenpotenzial für A. darstelle. Eine "Rund-um-die-Uhr-Betreuung" von A. sei gewährleistet.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Kindergeld versagenden Bescheides vom 9. Februar 2006, geändert durch Bescheid vom 17. Juli 2006 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 17. Juli 2006 Kindergeld in der gesetzlich vorgesehenen Höhe ab Juni 2005 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie trägt vor, A. lebe nicht mehr im Haushalt des Klägers, sondern in einer eigenen Wohnung. Insbesondere sei diese abgeschlossen und liege räumlich getrennt im Nachbarhaus. Von einem gemeinsamen Haushalt könne daher keine Rede sein.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist begründet, der angegriffene Bescheid vom 9. Februar 2006, geändert durch Bescheid vom 17. Juli 2006 in Gestalt der zugehörigen Einspruchsentscheidung sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten.

A.

Verfahrensbeteiligter und Kläger ist, wie es bereits in der Klageschrift ausdrücklich und zutreffend zum Ausdruck kommt, Herr X persönlich. Dies wird durch die ausdrückliche Bezeichnung in der Klageschrift vom 17. August 2006 unzweifelhaft deutlich gemacht. Allein er ist durch den an ihn adressierten Aufhebungsbescheid und die an ihn gerichtete Einspruchsentscheidung beschwert. Da der Kläger innerhalb der Klagefrist eindeutig als Herr X bezeichnet wurde, war die zwischenzeitlich erfolgte Rubrumsänderung unzutreffend. Es hätte sich hier um einen Beteiligtenwechsel gehandelt, der jedoch als subjektive Klageänderung gem. § 67 FGO nur innerhalb der Klagefrist zulässig gewesen wäre (vgl. Gräber, Kommentar zur FGO, § 67 Anm. 11). Dieser wäre auch nicht sachdienlich gewesen. Daher bleibt es bei der ursprünglichen Stellung des Klägers als Verfahrensbeteiligter, die bloße Namensänderung auf den Akten führt nicht zu einem rechtlich wirksamen Beteiligtenwechsel.

B.

Der Kläger hat gem. § 62 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auch einen Anspruch auf Kindergeld. Hiernach ist anspruchsberechtigt, wer neben weiteren, hier unstreitigen Voraussetzungen Kinder i.S.d § 63 EStG hat. Als solche werden Kinder i.S.d. § 32 Abs. 1 EStG be4 rücksichtigt. Gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG können auch Pflegekinder zu einer Kindergeldberechtigung führen. Pflegekinder sind nach der Legaldefinition des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG Personen, mit denen der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie nicht zu Erwerbszwecken in seinen Haushalt aufgenommen hat und das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht. Ein familienähnliches Band ist gegeben, wenn das Kind wie zur Familie gehörig angesehen und behandelt wird. Dies wird dann angenommen, wenn zwischen dem Steuerpflichtigen und dem Kind ein Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis wie zwischen Eltern und leiblichen Kindern besteht (BFH, Urteil vom 21.04.2005, III R 53/02, BFH/NV 2005, 1547).

In Rechtsprechung und Schrifttum wird fast einhellig die Auffassung vertreten, dass ein familienähnliches Band auch mit einem bereits Volljährigen bei dessen Hilflosigkeit und Behinderung begründet werden kann (vgl. BFH-Urteil vom 5. Oktober 2004, VIII R 69/02, BFH/NV 2005, 524, m.w.N.). Auch volljährige, behinderte Geschwister können als Pflegekinder anerkannt werden (vgl. (vgl. Schmidt/Loschelder, EStG,§ 32 Rz 13). Da A. zu 100 v.H. geistig behindert ist und ihre Eltern nicht mehr leben, sind diese Voraussetzungen im Streitfall auch nach Ansicht der Beklagten zu bejahen.

Aber auch die hier allein streitige Tatbestandsvoraussetzung der Haushaltsaufnahme ist erfüllt. Das Kind muss gem. § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG in den Haushalt der Pflegeeltern aufgenommen worden sein. Dabei sind die Gesamtumstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Es ist keine enge Auslegung des Haushaltsbegriffes geboten (vgl. Schmidt/Loschelder, EStG, § 32 Rz 15). Haushaltsaufnahme bedeutet die Aufnahme in die Familiengemeinschaft mit einem dort begründeten Betreuungs- und Erziehungsverhältnis familienhafter Art. Neben dem örtlich gebundenen Zusammenleben müssen Voraussetzungen materieller Art (Versorgung, Unterhaltsgewährung) und immaterieller Art (Fürsorge, Betreuung) erfüllt sein (vgl. BFH, Urteil vom 20. Juni 2001, VI R 224/98, BFHE 195, 564, BStBl II 2001, 713). Alle drei Merkmale müssen vorliegen (vgl. zutreffend Blümich/Heuermann, Kommentar zum EStG § 63 Rz. 21). Die Merkmale können jedoch in unterschiedlich starker Ausprägung vorliegen. Ein Kind gehört dann zum Haushalt eines Berechtigten, wenn es dort wohnt, versorgt und betreut wird, so dass es sich in der Obhut des Berechtigten befindet. Formale Gesichtspunkte, z.B. die Sorgerechtsregelung oder die Eintragung in ein Melderegister, können allenfalls unterstützend herangezogen werden. Im Streitfall sind diese drei Merkmale erfüllt. Unstreitig trägt der Kläger die Verantwortung für das materielle Wohl seiner Schwester. Er hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt, dass er und seine Frau sich als gerichtlich bestellte Betreuer in vollem Umfang um A. kümmern, sie umfassend versorgen und betreuen, die Hauptmahlzeiten kochen, Wäsche machen, finanzielle, persönliche, gesundheitliche und Behördenangelegenheiten etc. erledigen, da A. kein selbstbestimmtes Leben führen kann. Das örtlich gebundene Zusammenleben als weiteres Merkmal kann im Streitfall geringer ausgeprägt sein, da das 5 materielle und das immaterielle Merkmal der Haushaltaufnahme umso stärker wiegen. Zwar lebt A. nicht unmittelbar in der Wohnung des Klägers. Vielmehr musste aus Platzgründen eine gesonderte Wohnung angemietet werden. Diese ist jedoch im unmittelbar benachbarten Gebäude eingerichtet worden. Da seine eigene Wohnung mit ca. 69 qm durch ihn, seine Ehefrau sowie regelmäßig durch zwei Enkelkinder genutzt wurde, war es erforderlich, gesonderte Räume anzumieten.

Es rechtfertigt keinen Unterschied, ob ein Kind in einem großen Einfamilienhaus in gesonderten Räumen wohnt oder in Räumlichkeiten, die nur wenige Schritte von der Wohnung der Pflegeeltern entfernt gelegen sind. Auch in dieser Konstellation ist das vom BFH geforderte "örtlich gebundene Zusammenleben" möglich. A. nutzt diese Räume wie beispielsweise in einem Seitenflügel eines größeren Hauses gelegene Zimmer. Trotz Abgeschlossenheit der Wohnung des Klägers bleibt eine enge räumliche Nähe, die eine Vollversorgung ermöglicht. Zudem sind sogar Kinder, die durch Internatsunterbringung oder auf Grund ihres Studiums sehr weit von den Eltern entfernt leben noch als deren Haushalt zugehörig anzusehen. Die örtliche Trennung zwischen dem Kläger und A. ist weit geringer als dies etwa bei dem Verhältnis zwischen Eltern und auswärtigen Studenten der Fall ist. Es ist auch nicht erforderlich, dass das Kind ständig im Haushalt des Berechtigten lebt. Selbst ein wegen der Art seiner Behinderung dauerhaft und nicht nur vorübergehend vollstationär in einem Heim untergebrachtes Kind kann in den Haushalt eines Berechtigten aufgenommen sein, wenn die Betreuung des Kindes in dessen Haushalt einen zeitlich bedeutsamen Umfang hat und über Besuche in den Ferien oder im Urlaub hinausgeht. Erst recht muss dann ein in unmittelbarer Nachbarschaft wohnendes, behindertes Kind berücksichtigungsfähig sein, wenn aufgrund der minimalen Entfernung zwischen der Wohnung des Klägers und den Räumlichkeiten des Kindes von ca. 13 Metern eine engmaschige Betreuung gewährleistet ist.

Darüber hinaus hat A. mangels vollständig eingerichteter Küche gar keine eigenständige Wohnung. Wie der BFH z.B. im Urteil vom 07.11.2006 (IX R 19/05, BFH/NV 2007, 810) zum Eigenheimzulagegesetz definiert hat, richtet sich der Wohnungsbegriff nach dem Bewertungsrecht (vgl. BFH-Beschluss vom 6. April 2005, IX B 198/04, BFH/NV 2005, 1244; BMF-Schreiben in BStBl I 2005, 305, Rz. 2). Danach ist eine Wohnung eine Zusammenfassung mehrerer Räume, in denen ein selbständiger Haushalt geführt werden kann; sie müssen nach außen abgeschlossen und es müssen wenigstens ein Bad oder eine Dusche und ein WC sowie eine Küche oder Kochgelegenheit vorhanden sein (vgl. BFH-Urteile in BFH/NV 2004, 616;vom 27. Oktober 1998 X R 157/95, BFHE 187, 445, BStBl II 1999, 91, m.w.N.). An einer Kochgelegenheit fehlt es unstreitig, denn die von A. genutzten Räumlichkeiten wurden wegen des damit für sie verbundenen Gefahrenpotentials nicht mit einer Kochgelegenheit ausgestattet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung -ZPO (vgl. zur Anwendung des § 708 Nr. 10 zutreffend das Urteil des FG München vom 20. Januar 2005, 3 K 4519/01, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 2005, 969). Der Senat hält eine Zulassung der Revision nicht für geboten.



Ende der Entscheidung

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