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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht Thüringen
Urteil verkündet am 22.02.2006
Aktenzeichen: III 762/05
Rechtsgebiete: EStG, AO


Vorschriften:

EStG § 70 Abs. 2
EStG § 70 Abs. 3
EStG § 70 Abs. 4
EStG § 32 Abs. 4 S. 2
EStG § 31 S. 3
AO § 173 Abs. 1 Nr. 2
AO § 155
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Im Namen des Volkes

Urteil

In dem Rechtsstreit

hat der III. Senat des Thüringer Finanzgerichts mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung in der Sitzung vom 22. Februar 2006 für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.

3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist, ob eine rückwirkende Durchbrechung der Bestandskraft eines Ablehnungsbescheides in Betracht kommt, insbesondere ob die Korrekturvorschrift des § 70 Abs. 4 EStG eingreift.

Die Klägerin ist die Mutter des am 2.09.1983 geborenen Kindes A. Dieses befand sich im Kalenderjahr 2003 in einer Ausbildung zur Krankenschwester.

Da nach einer Prognoseentscheidung der Beklagten die Einkünfte und Bezüge des Kindes den im Kalenderjahr 2003 maßgeblichen Grenzbetrag überschritten, hob der Beklagte die Festsetzung von Kindergeld mit Bescheid vom 12.03.2003 ab Januar 2003 auf.

Im April 2004 beantragte die Klägerin erneut Kindergeld und reichte eine Erklärung über die im Kalenderjahr 2003 erzielten Einnahmen sowie erhöhten Werbungskosten ihrer Tochter ein. Ihrem Antrag fügte die Klägerin eine Kopie einer Gehaltsmitteilung für den Monat Dezember 2003 bei, aus dem sich auch die im gesamten Jahr 2003 gezahlten Sozialversicherungsbeiträge ergaben (vgl. Blatt 94 der Kindergeldakte der Beklagten).

Nach Auffassung der Beklagten überschritten trotz der weiteren geltend gemachten Werbungskosten die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag. Sie lehnte den Antrag auf Kindergeld mit Bescheid vom 17.05.2004 ab. Den hiergegen erhobenen Einspruch wies die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 22.07.2004 als unbegründet zurück. Gegen diese erhob die Klägerin keine Klage.

Im Juni 2005 beantragte die Klägerin erneut Kindergeld für das Kalenderjahr 2003 und reichte die Lohnsteuerkarte ihrer Tochter mit der Bitte um Überprüfung des Ablehnungsbescheides für das Kalenderjahr 2003 ein.

Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 5.07.2005 ab, da mit dem Bescheid vom 17.05.2004 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.07.2004 bereits bestandskräftig und abschließend über das Kindergeld für das Kalenderjahr 2003 entschieden worden sei. Eine Korrekturnorm, aufgrund derer diese Bestandskraft durchbrochen werden könne, liege nicht vor.

Nach erfolglosem Einspruch verfolgt die Klägerin ihr Begehren mit der Klage weiter. Sie ist der Auffassung, die Bestandskraft des ablehnenden Bescheides könne nach § 70 Abs. 4 EStG rückwirkend durchbrochen werden, da die Beklagte das Gesetz falsch angewandt habe, weil die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag tatsächlich unterschritten hätten. Da das Bundesverfassungsgericht zwischenzeitlich mit Beschluss vom 11.01.2005 2 BvR 167/02, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 ff. entschieden habe, dass das Kindeseinkommen bei der Prüfung des Kindergeldanspruches um die vom Kind gezahlten Sozialversicherungsbeiträge zu reduzieren sei, komme es zum Unterschreiten des Grenzbetrages. Die Beklagte habe im Übrigen zu Unrecht tatsächlich angefallene Mietkosten trotz der vorgelegten Nachweise nicht als Werbungskosten bei der Prüfung des Grenzbetrages berücksichtigt. Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Ablehnungsbescheid vom 5.07.2005 in Gestalt der dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 2.09.2005 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin Kindergeld für die Tochter A für den Zeitraum von Januar bis Dezember 2003 in gesetzlicher Höhe zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie meint, die Bestandskraft des Ablehnungsbescheid könne nicht durchbrochen werden, da weder die Voraussetzungen des § 70 Abs. 4 EStG noch des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO vorlägen. Das nachträgliche Bekanntwerden im Sinne des § 70 Abs. 4 EStG beziehe sich lediglich auf Tatsachen und Beweismittel und umfasse nicht die bloße Änderung einer Rechtsauffassung. Eine Korrektur materieller Fehler könne nach § 70 Abs. 3 EStG nur mit Wirkung für die Zukunft erfolgen.

Hinsichtlich des weiteren Vortrages der Beteiligten wird auf die ausgetauschten Schriftsätze verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Korrektur des Ablehnungsbescheides. Eine rückwirkende Kindergeldfestsetzung ist wegen der Bestandskraft des vorhergehenden Ablehnungsbescheides nicht möglich, da dessen Bestandskraft mangels des Vorliegens der Voraussetzungen einer Korrekturvorschrift nicht rückwirkend durchbrochen werden kann.

Der Bescheid der Beklagten vom 17.05.2004, mit dem sie einen Antrag der Klägerin auf Gewährung von Kindergeld für die Zeit von Januar bis Dezember 2003 ablehnte, wurde bestandskräftig, weil die Beklagte einen hiergegen gerichteten Einspruch als unbegründet zurückgewiesen hat und die Klägerin gegen die entsprechende Einspruchsentscheidung keine Klage erhoben hat.

Der bestandskräftig gewordene Ablehnungsbescheid entfaltet Bindungswirkung für die Zeit bis zu dem Ende des Monats, in dem er bekannt gegeben wurde (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofes - BFH - vom 25. Juli 2001 VI R 78/98, Sammlung der amtlich veröffentlichten Entscheidungen des BFH - BFHE - 196, 253, Bundessteuerblatt - BStBl - II 2002, 88 und VI R 146/98, BFHE 196, 257, BStBl II 2002, 89). Erfasst der Ablehnungsbescheid wie im Streitfall einen konkreten Regelungszeitraum vor dem Zeitpunkt seiner Bekanntgabe, kann Kindergeld rückwirkend grundsätzlich nur für Zeiträume außerhalb dieses Regelungszeitraums festgesetzt werden. Da der bestandskräftig gewordene Ablehnungsbescheid im Streitfall den konkreten Regelungszeitraum Januar bis Dezember 2003 umfasst, ist insoweit Bindungswirkung eingetreten und Kindergeldansprüche für diesen Zeitraum aus formell-rechtlichen Gründen ausgeschlossen.

Entgegen der Auffassung der Klägerseite sind auch die Voraussetzungen, unter denen die Bestandskraft des ablehnenden Bescheides nach den Korrekturvorschriften des § 70 Abs. 2 bis 4 EStG und der §§ 172 ff. der Abgabenordnung rückwirkend durchbrochen werden kann, im Streitfall nicht gegeben.

1. Eine rückwirkende Korrektur des Ablehnungsbescheides ist insbesondere nicht nach § 70 Abs. 4 EStG möglich. Nach dieser Vorschrift ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG über- oder unterschreiten.

Der Umstand, dass der Tochter der Klägerin auch über den 30.09.2003 hinaus Mietaufwendungen entstanden sind, war der Beklagten bei Erlass des Ablehnungsbescheides bereits bekannt. Im Übrigen hat die Beklagte die über den 30.09.2003 hinaus entstandenen Mietaufwendungen auch zu Recht nicht als Werbungskosten bei der Prüfung des Grenzbetrages berücksichtigt. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes sind Aufwendungen für erhöhten Lebensbedarf wegen einer auswärtigen Unterbringung des Auszubildenden, wie z. B. Miete und Verpflegungsmehraufwendungen, regelmäßig nicht abziehbar, weil Aufwendungen dieser Art typischerweise mit dem Jahresgrenzbetrag abgegolten sind, weil in diesem Betrag der existenznotwendige Bedarf eines auswärtig untergebrachten Kindes hinreichende Berücksichtigung findet (vgl. BFH-Urteile vom 21. Juli 2000 VI R 153/99, BFHE 192, 316, BStBl II 2000, 566; vom 25.05.2004 VIII R 29/03, n.v., VIII R 32/03, n.v. und VIII R 104/03, BFH/NV 2004, 1525 und vom 22. Mai 2002 VIII R 74/01, BFHE 199, 283, BStBl II 2002, 695).

Zwar sind nach nunmehriger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschluss vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02, Deutsches Steuerrecht - DStR - 2005, 911; Finanzrundschau - FR - 2005, 706, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 ff.) entgegen früherer BFH-Rechtsprechung (vgl. z. B. BFH-Beschluss vom 11. Dezember 2001 VI R 16/0, n.v.; BFH-Urteil vom 21. Juli 2000 VI R 153/99, BFHE 192, 316, BStBl II 2000, 566) Sozialversicherungsbeiträge des Kindes nicht in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einzubeziehen. Der Umstand, dass und in welcher Höhe die Tochter der Klägerin im Jahr 2003 Sozialversicherungsbeiträge gezahlt hat, war der Beklagten im Streitfall bei Erlass des Ablehnungsbescheids aber bereits bekannt. Denn die Klägerin hatte ihrem Antrag auf Kindergeld vom April 2004 eine Kopie einer Gehaltsmitteilung für den Monat Dezember 2003 beigefügt, aus dem sich auch die im gesamten Jahr 2003 gezahlten Sozialversicherungsbeiträge ergaben.

Der Umstand, dass nach Erlass des Ablehnungsbescheids durch die Beklagte das Bundesverfassungsgericht entgegen früherer Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs entschieden hat, dass für die Berücksichtigungsfähigkeit von Kindern im Familienleistungsausgleich deren eigene Einkünfte um Sozialversicherungsbeiträge zu mindern sind, rechtfertigt im Streitfall keine Korrektur des Ablehnungsbescheides nach § 70 Abs. 4 EStG.

a.) Ob im Streitfall eine rückwirkende Korrektur des Ablehnungsbescheides nach § 70 Abs. 4 EStG in Betracht kommt, ist im Schrifttum umstritten. Teilweise wird eine Anwendbarkeit des § 70 Abs. 4 EStG im Streitfall bejaht (vgl. z.B. Balke, NWB 2005, Fach 3, 13455, dort 13459; wohl auch Balke/Habscheidt, NWB Fach 3, Seite 13871 ff., dort Seite 13878; andererseits aber siehe dort Seite 13873; Geckle/Schneider, INF 2005, 495, 496). Teilweise wird ein Eingreifen des § 70 Abs. 4 EStG abgelehnt, da § 70 Abs. 4 EStG nur bei nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen, die zu einem anderen Ergebnis als die Prognoseentscheidung führen eingreife (so auch: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, § 70, Anm. 19; Felix, in Kirch-hoff/Söhn/Mellinghoff, § 70, Rdnr. E 4, E 5 und E 12; Harenberg und Eschenbach, NWB Fach 3, 13551 ff.; Grune, AktStR 2005, 481 ff.; so auch: DA-FamEstG 70.6 Satz 5; wohl auch Heuermann, in Blümich, EStG, § 70, Rdnr. 41, "wenn sich die Einkünfte und Bezüge anders als zunächst prognostiziert entwickeln"; a. A. Pust, in Littmann, EStG, § 70, Rdndr. 257, der die Norm auch bei bloßen Änderungen von Rechtsauffassungen für anwendbar hält). Danach stellen aber Rechtsprechungsänderungen (wie im Rahmen des § 173 AO) keine nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen dar (so auch: BMF-Schreiben vom 17.06.2005 - St I 4 - S 2471 - 210/2005, juris Dok.-Nr. FMNR3076000005).

Nach Überzeugung des Senats ergibt bei Auslegung des § 70 Abs. 4 EStG, dass diese Regelung im Streitfall keine rückwirkende Korrektur des Ablehnungsbescheides zulässt.

b.) Soweit die Vorschrift des § 70 Abs. 4 EStG ihrem Wortlaut nach darauf abstellt, dass nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG über- oder unterschreiten, ist nicht eindeutig, ob dies - wie regelmäßig - darauf zurückzuführen sein muss, dass neue Tatsachen hinsichtlich der Höhe der Einkünfte und Bezüge bekannt werden oder ob sich das Unter- bzw. Überschreiten des Grenzbetrages auch aus der Zugrundelegung einer anderen Rechtsauffassung bei Berechnung der Einkünfte und Bezüge ergeben kann.

c.) Jedoch spricht die historisch-teleologische Auslegung des § 70 Abs. 4 EStG gegen seine Anwendbarkeit im Streitfall.

§ 70 Abs. 4 sollte mit Wirkung vom 1.01.2002 als lex specialis die bisher geltende Rechtslage lediglich klarstellen (so auch Heuermann, in Blümich, EStG, § 70, Rdnr. 41). Bereits nach der bisherigen Rechtslage war die Familienkasse berechtigt, die Festsetzung des Kindergeldes rückwirkend mit Wirkung zu Beginn des Kalenderjahres aufzuheben, wenn sich während dieses Kalenderjahres oder aber nach Ablauf dieses Kalenderjahres herausstellt, dass Einkünfte oder Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überschreiten (so: BFH-Urteile vom 26.07.2001 VI R 55/00, BFHE 196, 270, BStBl II 2002, 86, vom 26.07.2001 VI R 83/98 BFHE 196, 265, BStBl II 2002, 85). Dabei hatte der BFH lediglich offen gelassen, ob die Änderung in diesen Fällen auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO allein oder i.V.m. § 175 Abs. 2 AO oder auf § 70 Abs. 2 EStG zu stützen war. Da die Rechtsgrundlage für die Korrektur der entsprechenden Kindergeldfestsetzung bislang in Rechtsprechung und Literatur umstritten war, wollte der Gesetzgeber dieser Diskussion durch Einfügung des § 70 Abs. 4 EStG ein Ende setzen und die bisherige Rechtslage auf eine eindeutige Rechtsgrundlage stützen. Der Gesetzgeber wollte aber ersichtlich nicht durch § 70 Abs. 4 EStG eine allgemeine Fehlerbeseitigungsvorschrift neu schaffen, die auch rückwirkende Änderungen bestandskräftger Ablehnungs- oder Aufhebungsbescheide in Fällen von Rechtsprechungsänderungen zulässt.

Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 14/6160) soll § 70 Abs. 4 EStG sicherstellen, dass eine Kindergeldfestsetzung für ein volljähriges Kind auch nach Ablauf des Kalenderjahres korrigiert werden kann, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG entgegen einer früheren Prognoseentscheidung der Familienkasse über- oder unterschreiten. Damit werde dem Umstand Rechnung getragen, dass eine steuerrechtliche Entscheidung wie die Zuerkennung eines Freibetrages nach § 32 Abs. 6 EStG wegen des Jährlichkeitsprinzips grundsätzlich rückblickend erfolgt, die Steuervergütung Kindergeld jedoch bereits im Laufe des Kalenderjahres monatlich gezahlt wird. Die Gesetzesbegründung und der darin und im Wortlaut der Norm zum Ausdruck kommende Zweck der Regelung besagt, dass § 70 Abs. 4 EStG nur Anwendung findet, wenn sich ein Über- bzw. Unterschreiten der Einkünfte und Bezüge entgegen der zuvor getroffenen Prognoseentscheidung ergibt (gleiche Auffassung: Finanzgericht Düsseldorf, Urteil vom 12.01.2006 14 K 4503/05 Kg, juris).

Diese Situation liegt aber im Streitfall gerade nicht vor. Nach der Systematik des § 70 EStG ist § 70 Abs. 4 EStG grundsätzlich nur auf die Fälle anwendbar, bei denen sich nachträglich die Fehlerhaftigkeit einer (während dem Kalenderjahr) getroffenen Prognoseentscheidung herausstellt. Im Streitfall hat die Klägerin zwar nach der von der Familienkasse getroffenen Prognoseentscheidung im Rahmen des Erlasses des Aufhebungsbescheides vom 12.03.2003 im April 2004 einen erneuten Kindergeldantrag gestellt. Im Rahmen der Prüfung dieses Antrages wurde die Prognoseentscheidung der Familienkasse überprüft mit dem Ergebnis, dass die eigenen Einkünfte und Bezüge trotz geltend gemachter erhöhter Werbungskosten der Tochter der Klägerin, den Jahresgrenzbetrag überschritten. Der daraufhin ergangene Ablehnungsbescheid vom 17.05.2004 wurde mangels Einlegung einer Klage gegen eine zugehörige Einspruchsentscheidung bestandskräftig. Damit ist eine Zäsur eingetreten und die Familienkasse hatte die Gelegenheit genutzt, ihre eigene Prognoseentscheidung zu überprüfen. Der Neuantrag auf Kindergeld vom Juni 2005, der zum streitgegenständlichen Ablehnungsbescheid vom 5.07.2005 führte, betrifft somit nicht den Anwendungsbereich des § 70 Abs. 4 EStG, nämlich, dass eine Überprüfung einer zuvor getroffenen Prognoseentscheidung begehrt wird. Vielmehr wird eine nochmalige Überprüfung der abschließenden Entscheidung im Bescheid vom 17.05.2004 begehrt. Dieses Änderungsbegehren liegt aber nach der Gesetzesbegründung und dem Zweck des § 70 Abs. 4 EStG nicht mehr im Anwendungsbereich der Norm (gleiche Auffassung: Finanzgericht Düsseldorf, Urteil vom 12.01.2006 14 K 4503/05 Kg, juris). Nur § 70 Abs. 3 EStG enthält eine allgemeine Fehlerberichtigungsvorschrift, die aber eine Korrektur materieller Fehler nur für die Zukunft vorsieht.

Deshalb überzeugt auch im Streitfall das Argument der Gegenmeinung nicht. Die Ansicht, nach der § 70 Abs. 4 EStG auch dann zur Änderung des Bescheides führe, wenn die Behörde nachträglich erkennt, dass sie bei der ursprünglichen Kindergeldfestsetzung einem Rechtsfehler unterlegen ist (vgl. u. a., Pust in Littmann, a.a.O.) begründet diese Erweiterung mit dem Argument, dass die Behörde ansonsten bei einer Festsetzung des Kindergeldes zu Beginn des Kalenderjahres gezwungen sei, bei der Prognose über die voraussichtlichen anfallenden Einkünfte und Bezüge des Kindes bereits eine abschließende Bewertung des vom Antragsteller unterbreiteten entscheidungserheblichen Sachverhalts vorzunehmen. Zwar ist nach der BFH-Rechtsprechung die Familienkasse auch dann befugt die Kindergeldfestsetzung rückwirkend aufzuheben, wenn sich nach Ablauf des Jahres herausstellt, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag überschreiten, auch wenn sie ursprünglich hätte unterbleiben müssen, weil bereits aufgrund der Prognose davon auszugehen war, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes voraussichtlich den Grenzbetrag überschreiten würden und wenn daher sie ursprünglich hätte unterbleiben müssen (vgl. BFH-Urteil vom 30. November 2004 VIII R 6/03, BFH/NV 2005, 890; ebenso: FG München, Urteil vom 20. Februar 2002 9 K 4195/01, juris; vgl. auch: Siegers, Anm. zum Urteil des Niedersächsischen FG vom 6. März 200211 K 397/0011, Entscheidungen der Finanzgerichte -EFG-2002, 1048, 1049; a.A: FG Düsseldorf, Urteil vom 19. November 199918 K 8117/98 Kg, EFG 2000, 272). Die Begründung es BFH für diese Auffassung, nämlich, dass die gesetzliche Konzeption es erforderlich mache, Kindergeldfestsetzungen, die vor Beginn oder während eines Kalenderjahres erlassen worden sind, wieder aufheben zu können, wenn abzusehen ist oder bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag überschreiten wer den bzw. überschritten haben, greift aber nicht, wenn wie im Streitfall die begehrte Änderung keinen Bezug mehr zur (ggf. fehlerhaften) Prognoseentscheidung hat.

d.) Gegen die Anwendbarkeit des § 70 Abs. 4 EStG im Streitfall spricht im Übrigen die systematische Auslegung der Norm. Denn § 70 Abs. 3 EStG enthält bereits eine allgemeine Fehlerbeseitigungsvorschrift, auf deren Grundlage aber Festsetzungen nur mit Wirkung für die Zukunft geändert werden können. Da der Gesetzgeber mit der Neueinführung des § 70 Abs. 4 EStG - wie bereits dargelegt - der bisherigen Diskussion um die Rechtsgrundlage für die Korrektur der entsprechenden Kindergeldfestsetzung ein Ende setzen und die bisherige Rechtslage auf eine eindeutige Rechtsgrundlage stützen wollte, wollte er aber ersichtlich nicht durch § 70 Abs. 4 EStG eine zusätzliche allgemeine Fehlerbeseitigungsvorschrift neu schaffen, die auch rückwirkende Änderungen bestandskräftger Ablehnungs- oder Aufhebungsbescheide in Fällen von Rechtsprechungsänderungen zulässt. Denn insoweit würde er für die betreffenden Fälle den Geltungsbereich des § 70 Abs. 3 EStG unterlaufen, der nur eine Änderung für die Zukunft vorsieht und § 70 Abs. 3 EStG würde insoweit ersichtlich leer laufen. Derartige fehlerhafte Bescheide sollen vielmehr nach der Systematik des § 70 EStG nur auf der Grundlage des § 70 Abs. 3 EStG mit Wirkung für die Zukunft geändert werden können. Dem Kindergeldberechtigten war es somit zuzumuten, den Eintritt der Bestandskraft durch Einlegung eines Einspruches und gegebenenfalls seiner Klage zu verhindern. Soweit dies nicht geschehen ist, geht die Bestandskraft der materiell-rechtlichen Richtigkeit (Rechtmäßigkeit) vor.

2. Eine Änderungsmöglichkeit ergibt sich auch nicht aus § 70 Abs. 2 EStG. Danach ist die Festsetzung von Kindergeld zu ändern oder aufzuheben, soweit sich die für den Anspruch auf Kindergeld erheblichen Verhältnisse nach Ergehen der Festsetzung geändert haben (vgl. BFH-Urteil vom 26. Juli 2001 VI R 164/98, BFHE 196, 257, BStBl II 2002, 89). Die Aufhebung der Änderung erfolgt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse. Eine Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 70 Abs. 2 EStG ist die Änderung der (persönlichen) tatsächlichen oder auch rechtlichen Verhältnisse des Anspruchsberechtigten oder des Kindes (vgl. vgl. auch BFH-Urteil vom 25.07.2001 VI R 18/99, BFHE 196, 260, BStBl II 2002, 81). Die Vorschrift greift nicht, wenn nachträglich festgestellt wird, dass das Recht von Anfang an unrichtig angewandt worden ist, also eine fehlerhafte Rechtsanwendung korrigiert werden soll (vgl. Finanzgericht Düsseldorf, Beschluss vom 14. April 1998 14 V 904/98, EFG 1998, 1072; Bergkemper in Herrmann/ Heuer/ Raupach, Kommentar zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer, § 70 Anm. 13; Felix in Kirchhof/ Söhn/ Mellinghoff, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 70 Rdnr. C 8; anders im Hinblick auf den Beschluss des BVerfG vom 10. Januar 2005 2 BvR 167/02 wohl Wenner, Soziale Sicherheit 2005, 176 ohne nähere Begründung).

Eine Änderung der maßgeblichen Verhältnisse ist im Streitfall nicht eingetreten. Die eigenen Einkünfte der Tochter haben sich gegenüber den Verhältnissen im Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten nicht geändert. Die Beklagte ist lediglich zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Sozialversicherungsbeiträge in der Grenzbetragsberechnung nicht zum Ansatz kommen.

3. Ein Änderung kommt auch nicht nach § 70 Abs. 3 EStG in Betracht. Nach dieser Regelung können materielle Fehler der letzten Festsetzung durch Neufestsetzung oder durch Aufhebung der Festsetzung beseitigt werden. Neu festgesetzt oder aufgehoben wird mit Wirkung ab dem auf die Bekanntgabe der Neufestsetzung oder der Aufhebung der Festsetzung folgenden Monat. Diese Vorschrift setzt nach ihrem Wortlaut eine positive Kindergeldfestsetzung voraus und kann daher zur - im übrigen von der Klägerin begehrten rückwirkenden - Korrektur eines rechtswidrigen Ablehnungs- oder Aufhebungsbescheides - wie im Streitfall nicht herangezogen werden (vgl. BFH-Urteile vom 25.07.2001 VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88; vom 21.01. 2004 VIII R 15/02, BFH/NV 2004, 910).

4. Entgegen der Auffassung der Klägerseite sind auch die Voraussetzungen, unter denen die Bestandskraft des ablehnenden Bescheides nach den Korrekturvorschriften der §§ 172 ff. der Abgabenordnung rückwirkend durchbrochen werden kann, im Streitfall nicht gegeben.

Eine Korrektur kommt insbesondere auch nicht nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO i.V.m. § 155 Abs. 4 AO i.V.m. § 31 Satz 3 EStG in Betracht. Nach der für das Kindergeld als Steuervergütung entsprechend - neben den Änderungsvorschriften des Einkommensteuergesetzes - anwendbaren Regelung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 23.11.2001 VI R 125/00, BFHE 197, 387, BStBl II 2002, 26) ist ein Bescheid aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuervergütung führen und den Berechtigten kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Der Umstand, dass der Tochter der Klägerin auch über den 30.09.2003 hinaus Mietaufwendungen entstanden sind, war der Beklagten bei Erlass des Ablehnungsbescheides bereits bekannt. Auch der Umstand, dass und in welcher Höhe die Tochter der Klägerin im Jahr 2003 Sozialversicherungsbeiträge gezahlt hat, war der Beklagten im Streitfall bei Erlass des Ablehnungsbescheids bereits bekannt. Denn die Klägerin hatte ihrem Antrag auf Kindergeld vom April 2004 eine Kopie einer Gehaltsmitteilung für den Monat Dezember 2003 beigefügt, aus dem sich auch die im gesamten Jahr 2003 gezahlten Sozialversicherungsbeiträge ergaben.

Der Umstand, dass nach Erlass des Ablehnungsbescheids durch die Beklagte das Bundesverfassungsgericht entgegen früherer Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs entschieden hat, dass für die Berücksichtigungsfähigkeit von Kindern im Familienleistungsausgleich deren eigene Einkünfte um Sozialversicherungsbeiträge zu mindern sind, rechtfertigt im Streitfall ebenfalls keine Korrektur des Ablehnungsbescheides nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO. Denn darin liegt keine Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 AO. Danach ist Tatsache jeder Lebensvorgang, der insgesamt oder teilweise den gesetzlichen Steuertatbestand oder ein einzelnes Merkmal dieses Tatbestandes erfüllt, also Zustände und Vorgänge der Seinswelt, die Eigenschaften der Gegenstände dieser Seinswelt und die gegenseitigen Beziehungen zwischen diesen Gegenständen (vgl. BFH-Urteile vom 23.01.2001 XI R 42/00, BFHE 194, 9, BStBl II 2001, 379; vom 5.12.2002 IV R 58/01, BFH/NV 2003, 588). Nicht zu diesen Gegenständen der Seinswelt gehören Schlussfolgerungen und Urteile im Sinne der Logik. Sie sind jedenfalls dann keine Tatsachen, wenn die Schlussfolgerungen von der Behörde gezogen werden können und müssen, welche befugt ist, den Steuerbescheid aufzuheben oder zu ändern. Darum sind insbesondere die steuerrechtliche Würdigung von Tatsachen und die juristische Subsumtion unter den Tatbestand einer anspruchsbegründenden steuerlichen Rechtsnorm durch die zur Aufhebung oder Änderung des Steuerbescheides befugte Behörde keine Tatsache (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 2.08.1994 VIII R 65/93, BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264). Folglich kann die Behörde die Aufhebung oder Änderung nicht auf falsche Beurteilung von Rechtsfragen oder eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 20.12.1988 VIII R 121/83, BFHE 156, 339, BStBl II 1989, 585, 587) oder des Gesetzes stützen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Die Revision war zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO), da die Frage, ob eine Korrektur- oder Änderungsvorschrift eingreift, in einer Vielzahl gleich gelagerter, bereits anhängiger Verfahren von Bedeutung ist.

Ende der Entscheidung

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