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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hamburgisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 20.08.2009
Aktenzeichen: 3 Bs 104/09
Rechtsgebiete: GG, VwGO, EMRK, AufenthG


Vorschriften:

GG Art. 19 Abs. 4
VwGO § 123
EMRK Art. 8
AufenthG § 25 Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 5
AufenthG § 104 a
1. Dem Gebot der Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO) widerspricht es nicht, eine einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO auch bei lediglich offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens zu erlassen, wenn dies auf der Grundlage einer Folgenabwägung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes erforderlich ist (hier: vorläufige Untersagung der Abschiebung im Hinblick auf einen möglichen Verstoß gegen Art. 8 EMRK).

2. Die Vorschriften in § 104 a AufenthG und in §§ 25 Abs. 5, 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK finden auch in Bezug auf die Fallgruppe langjährig geduldeter sog. "faktischer Inländer" ohne wertende Verknüpfung nebeneinander Anwendung.


Hamburgisches Oberverwaltungsgericht Beschluss

3 Bs 104/09

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Hamburgische Oberverwaltungsgericht, 3. Senat, durch die Richter Korth und Niemeyer sowie die Richterin Groß am 20. August 2009 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 27. Mai 2009 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 6.250,-- Euro festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Die mit der Beschwerde dargelegten Gründe, die das Beschwerdegericht gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfen hat, rechtfertigen es nicht, den Beschluss des Verwaltungsgerichts nach Maßgabe des Beschwerdeantrags zu ändern. Aus ihnen ergibt sich nicht, dass entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts die Antragsgegnerin zu aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegenüber den Antragstellern berechtigt wäre.

1. Die Antragsgegnerin trägt vor, das Verwaltungsgericht habe außer Acht gelassen, dass der Anordnungsanspruch von den Antragstellern gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft zu machen sei. Das Verwaltungsgericht habe angenommen, es sei offen, ob ein Abschiebungsverbot vorliege, und lediglich im Rahmen einer Folgenabwägung aufgrund eines überwiegenden Aussetzungsinteresses die Vornahme aufenthaltsbeendender Maßnahmen untersagt. Wenn das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes jedoch nur offen sei, sei dieses gerade nicht glaubhaft gemacht, mit der Folge, dass der Antrag abzulehnen sei.

Diese Rüge greift nicht durch. Denn die Antragsgegnerin verkennt, dass eine einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO auch aufgrund einer Folgenabwägung ergehen darf.

Der in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verankerte Anspruch des Bürgers auf eine tatsächlich und rechtlich wirksame Kontrolle verpflichtet die Gerichte, bei ihrer Entscheidungsfindung diejenigen Folgen zu erwägen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes für den Bürger verbunden sind. Dies gilt nicht nur im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO, sondern ist im Hinblick auf den in gleicher Weise gegebenen Anspruch auf Gewährung effektiven (vorläufigen) Rechtsschutzes in Fällen drohender Grundrechtsbeeinträchtigung auch im einstweiligen Rechtsschutz nach § 123 VwGO zu beachten.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 31.3.2004, NVwZ 2004, 1112; Beschl. v. 22.11.2002, NJW 2003, 1236; Beschl. v. 25.7.1996, NVwZ 1997, 479; Beschl. v. 25.10.1998, BVerfGE 79, 69) darf daher im Rahmen eines Verfahrens nach § 123 VwGO das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition um so weniger zurückgestellt werden, je schwerer die sich aus der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes ergebenden Belastungen wiegen und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können. Führt die Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes zu schweren und unzumutbaren Nachteilen, so darf der einstweilige Rechtsschutz aufgrund mangelnder Erfolgsaussichten nur dann versagt werden, wenn eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage erfolgt ist. Hält das Gericht die erforderliche eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit, des Umfangs der noch erforderlichen Ermittlungen oder der Komplexität der zu behandelnden Rechtsfragen für untunlich, so muss es seine Entscheidung auf der Grundlage einer Folgenabwägung ohne Berücksichtigung der Erfolgsaussichten der Hauptsache treffen (vgl. auch: Puttler in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl. 2006, § 123 Rn. 94, 100; Schoch in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Oktober 2008, § 123 Rn. 70, 82 ff.; Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 123 Rn. 25; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz, 5. Aufl. 2008, Rn. 136 - 142 zu Fallgruppen). Das Beschwerdegericht hat auf dieser Linie wiederholt in Fällen des Abschiebungsschutzes und darüber hinaus einstweilige Anordnungen auf der Grundlage einer Folgenabwägung erlassen (Beschl. v. 6.3.2009, 3 Bs 47/09; v. 22.1.2009, 3 Bs 206/08; v. 20.1.2009, 3 Bs 9/09; v. 26.11.2008, 3 Bs 223/08; v. 23.6.1999, 5 Bs 118/99; v. 24.6.1997, OVG Bs VI 25/97).

Eine derartige Folgenabwägung steht nicht im Widerspruch zum Gebot der Glaubhaftmachung. Die Antragsgegnerin weist zutreffend darauf hin, dass der Antrag nach § 123 VwGO dann begründet ist, wenn ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund vorliegen. Diese müssen glaubhaft (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO) gemacht werden, also für das Gericht mit einem gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad feststehen. Glaubhaft zu machen sind zunächst entscheidungserhebliche Tatsachen (§ 294 Abs. 1 ZPO), aus denen sich im Regelfall ergeben muss, dass der Antragsteller im Hauptsacheverfahren mit überwiegender Wahrscheinlichkeit obsiegen wird (Schoch in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, a.a.O., zu § 123 Rn. 69 f.). Unter den vom Bundesverfassungsgericht formulierten Voraussetzungen genügt in Fällen schwer wiegender Nachteile jedoch, dass auf der Basis der glaubhaft gemachten Tatsachen der Erfolg im Hauptsacheverfahren offen ist.

Dies entspricht Wortlaut und Zielsetzung des § 123 VwGO. Ziel des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO ist es, durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung die Schaffung vollendeter Tatsachen vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu verhindern. Durch den einstweiligen Rechtsschutz soll eine gerichtliche Maßnahme zum Offenhalten der Hautsacheentscheidung erwirkt werden. Wortlaut und Ziel des § 123 VwGO sind für eine Entscheidung aufgrund einer Folgenabwägung offen. Denn unter den vom Bundesverfassungsgericht formulierten Voraussetzungen kann eine Regelung bzw. Sicherung des bestehenden Zustandes gerade erforderlich sein, um die Schaffung vollendeter Tatsachen vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu verhindern.

Entsprechend diesen Grundsätzen hat das Verwaltungsgericht über die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes aufgrund einer Folgenabwägung entschieden. Das Verwaltungsgericht hat angenommen, dass die Beeinträchtigung der Rechte der Antragsteller im Falle einer rechtwidrigen Abschiebung schwer wiegt und nicht ohne Weiteres rückgängig zu machen ist. Es ist ferner davon ausgegangen, dass es offen ist, ob den Antragstellern im Hinblick auf Art. 8 EMRK zumindest ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zusteht und damit die Abschiebung aus rechtlichen Gründen unmöglich ist (BA S. 3). Das Verwaltungsgericht hat schließlich die als erforderlich angesehene weitere Aufklärung des Sachverhaltes in der gegebenen Verfahrenssituation dem bereits anhängigen Klagverfahren vorbehalten (BA S. 5).

Soweit die Antragsgegnerin einwendet, das Verwaltungsgericht habe unzutreffend angenommen, dass das Hauptsacheverfahren offen sei, folgt das Beschwerdegericht den (vom Beschwerdegericht allein zu prüfenden) vorgebrachten Einwänden nicht. Insoweit wird auf die nachfolgenden Ausführungen unter 2. und 4. verwiesen.

2. Die Antragsgegnerin macht mit der Beschwerde zudem geltend, dass das Verwaltungsgericht in die Prüfung der Voraussetzungen des Art. 8 EMRK nur diejenigen für die Antragsteller sprechenden Umstände habe einstellen dürfen, die glaubhaft gemacht worden seien. Demzufolge sei der Umstand, dass die Antragstellerin zu 1) "wohl ein Berufsvorbereitungsjahr absolviere" (BA S. 5), nicht zu berücksichtigen.

Dem kann nicht gefolgt werden. Das Verwaltungsgericht hat dargelegt, dass der Anspruch der Antragsteller zu 1) und zu 2) (zumindest) auf Gewährung einer Duldung offen sei. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die im Alter von 3 bzw. 2 Jahren in das Bundesgebiet eingereisten Antragsteller zu 1) und zu 2) seit fast 14 Jahren im Bundesgebiet lebten und ihre ganz überwiegende Sozialisation in Deutschland erfahren hätten (BA S. 4). Auch wenn Art. 8 EMRK die Abschiebung eines fremden Staatsangehörigen nicht allein wegen seines langjährigen Aufenthaltes verbiete, so bedürfe die im Rahmen des Art. 8 Abs. 2 EMRK vorzunehmende Abwägung vorliegend einer umfänglichen Prüfung der persönlichen, familiären, kulturellen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen zu dem Land des gegenwärtigen Aufenthalts. Ersichtlich geht das Verwaltungsgericht weiter davon aus, dass im Rahmen dieser Abwägung auch die Straffälligkeit der Antragsteller in Bezug auf ihre Integration zu berücksichtigen sei, aber auch die Ausbildung der Antragsteller zu 1) und zu 2). In diesem Zusammenhang führt das Verwaltungsgericht aus, dass die Antragstellerin zu 1) wohl ein Berufsvorbereitungsjahr absolviere, wobei diese Frage aber ggf. im Hauptsacheverfahren zu klären sei (BA S. 5).

Im Rahmen der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Folgenabwägung ist dieses Vorgehen nicht zu beanstanden. Das Verwaltungsgericht hat zunächst auf der Basis der von ihm angeführten und von der Antragsgegnerin nicht bestrittenen Tatsachen (Einreise mit 2 bzw. 3 Jahren, 14- jähriger Aufenthalt im Bundesgebiet, ganz überwiegende Sozialisation im Bundesgebiet) ausgeführt, dass eine Abschiebung der Antragsteller zu 1) und zu 2) möglicherweise gegen Art. 8 EMRK verstoße, der Ausgang des Hauptsacheverfahrens daher offen sei. Das Verwaltungsgericht hat sodann den noch ausstehenden Klärungsbedarf näher spezifiziert (BA S. 5), zu dem auch die Frage gehört, ob die Antragstellerin zu 1) ein Berufsvorbereitungsjahr absolviert. Es hat ferner diese Ermittlungen im Eilverfahren als untunlich angesehen und aus diesem Grunde im Wege der Folgenabwägung entschieden. Dieses Vorgehen entspricht den oben bezeichneten verfassungsrechtlichen Grundsätzen. Diese beinhalten für Fälle schwer wiegender Nachteile aber auch, dass der zugrunde liegende Sachverhalt nicht vollständig glaubhaft gemacht worden sein muss, vielmehr Teile noch klärungsbedürftig sind. Dies widerspricht - wie oben ausgeführt - nicht dem Gebot der Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs. Denn der Sachverhalt ist insoweit glaubhaft gemacht worden, als ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung in Betracht kommt, hierüber aber erst nach umfänglichen weiteren Sachverhaltsermittlungen entschieden werden kann.

3. Die Antragsgegnerin macht ferner unter Hinweis auf verschiedene obergerichtliche Entscheidungen geltend, der Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK umfasse nur ein Privatleben, das im Bundesgebiet aufenthaltsrechtlich fest verankert sei, was in Fällen, in denen ein Ausländer während seines gesamten Aufenthalts im Bundesgebiet ausschließlich geduldet worden sei, nicht vorläge. So sei es bei den Antragstellern zu 1) und zu 2), die zu keinem Zeitpunkt ihres Aufenthalts im Bundesgebiet ein Aufenthaltsrecht innegehabt hätten. Zugleich führt die Antragsgegnerin aus, ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK sei im Fall geduldeter Ausländer (nur) grundsätzlich nicht gegeben, komme in atypischen Fällen, wenn gewichtige Umstände die Annahme einer Verwurzelung rechtfertigen würden, jedoch in Betracht. Die Begehung der Straftaten durch die Antragsteller zu 1) und zu 2) sei indes bereits Grund genug, einen atypischen Fall in diesem Sinne zu verneinen. Die Antragsgegnerin beruft sich zudem darauf, dass die im Rahmen des Art. 8 Abs. 2 EMRK erforderliche Abwägung angesichts des illegalen Aufenthalts und der begangenen Straftaten eindeutig zuungunsten der Antragsteller zu 1) und zu 2) ausfalle, so dass das Bestehen eines Anspruchs auf Erteilung einer Duldung im Hauptsacheverfahren nicht als offen bezeichnet werden könne.

Auch mit dieser Rüge dringt die Antragsgegnerin nicht durch. Es ist zwar zutreffend, dass - sofern der geltend gemachte Anspruch aufgrund der festgestellten Tatsachen ersichtlich zu verneinen ist - für eine Folgenabwägung kein Raum ist. Die von der Antragsgegnerin vorgebrachten Gründe rechtfertigen jedoch eine solche Annahme nicht.

a. Das Beschwerdegericht entnimmt dem Stand der Rechtsprechung nicht, dass lediglich geduldete Ausländer vom Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht erfasst sind (vgl. OVG Hamburg, Urt. v. 24.3.2009, InfAuslR 2009, 279; Beschl. v. 3.3.2009, 2 Bs 22/09).

Der Schutzbereich des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK wird in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urt. v. 9.10.2003, Fall Slivenko, EuGRZ 2006, 560, 561) als das "Netz an persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen.., die das Privatleben eines jeden Menschen ausmachen" bezeichnet. Dieser Definition kann eine Beschränkung des Schutzbereichs auf Ausländer, die sich ganz oder zumindest zeitweise mit einem Aufenthaltstitel im Aufenthaltsstaat aufgehalten haben, nicht entnommen werden. Eine derartige Beschränkung ist auch nicht in der weiteren Rechtsprechung des Gerichtshofs ausgesprochen. Dieser hat vielmehr in einzelnen Entscheidungen (Urt. v. 31.1.2006, Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, EuGRZ 2006, 562; Urt. v. 16.9.2004, Fall Ghiban, NVwZ 2005, 1046) Art. 8 Abs. 1 EMRK auch auf Personen angewendet bzw. dessen Anwendbarkeit unterstellt, die über keinen zumindest vorübergehend legalen Aufenthalt verfügten. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der von der Antragsgegnerin zitierten Textstelle der Entscheidung vom 8. April 2008 (Beschwerde 21878/06). Denn darin lässt der Gerichtshof es dahinstehen, ob ein nach Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Privatleben der Beschwerdeführerin vorliegt. Damit lässt der Gerichtshof gerade offen, ob der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK betroffen ist. Die Abweisung des Antrags begründet er vielmehr damit, dass nach Abwägung aller Umstände ein Eingriff in den Schutzbereich nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt sei. Der Umstand, dass der Beschwerdeführerin jenes Verfahrens nie ein Bleiberecht im Aufenthaltsstaat erteilt wurde, ist dabei ersichtlich nur ein Umstand in der vom Gerichtshof vorgenommenen Gesamtabwägung.

Eine gefestigte Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte dahingehend, dass der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK bei einem langjährigen illegalen Aufenthalt nicht betroffen ist, besteht gleichermaßen nicht. Im Sinne der Antragsgegnerin hat sich nur der Hessische Verwaltungsgerichtshof geäußert (VGH Kassel, Urt. v. 7.7.2006, 7 UE 509/06, juris). Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (Beschl. v. 17.11.2006, 10 ME 222/06, juris) sowie der 13. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Urt. v. 18.1.2006, ZAR 2006, 142, 143) führen in den von der Antragsgegnerin genannten Entscheidungen zwar aus, dass ein unerlaubter Aufenthalt in der Regel dem Führen eines schutzwürdigen Privatlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK entgegenstehe. Dies impliziert aber Ausnahmen je nach den Umständen des Einzelfalles. Der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg hat inzwischen (entgegen der von der Antragsgegnerin angeführten früheren Entscheidung vom 10. Mai 2006) im Beschluss vom 25. Oktober 2007 (InfAuslR 2008, 29) ausgeführt, dass es im Rahmen des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 EMRK wohl nicht entscheidungserheblich darauf ankomme, "ob der Ausländer über einen zumindest vorübergehenden legalen Aufenthalt verfügte; der Schutzbereich dieses Menschenrechts dürfte vielmehr auch bei nur Geduldeten eröffnet sein." (zu der aufgeworfenen Frage insgesamt auch: Eckertz-Höfer, ZAR 2008, 41, 44; Thym, InfAuslR 2007, 133, 138).

b. Soweit die Antragsgegnerin des Weiteren geltend macht, ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK sei bei lediglich geduldeten Ausländern nur grundsätzlich nicht gegeben, d.h. es müssten gewichtige Umstände die Annahme einer Verwurzelung rechtfertigen, überzeugt dies nicht. Ein derartiges Regel-Ausnahme-Verhältnis ist weder in Art. 8 Abs. 1 EMRK angelegt noch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erkennbar. Liegt ein Eingriff in das Privatleben und somit in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK vor, so ist dieser nur unter den Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK zulässig. Insoweit sind unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sämtliche Umstände des Einzelfalles, insbesondere die Dauer und rechtliche Qualität des Aufenthalts, die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die familiäre Situation sowie die Beziehungen des Ausländers zum Staat seiner Staatsangehörigkeit (wobei die Kenntnis der Sprache des Herkunftslandes als ein bedeutsamer Umstand anzusehen ist) gegeneinander abzuwägen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 1.3.2004, NVwZ 2004, 852).

Da das Gericht bereits diesem Ausgangspunkt der Argumentation der Antragsgegnerin nicht folgt, greift auch die weitere Erwägung der Antragsgegnerin, die Straffälligkeit der Antragsteller zu 1) und zu 2) stehe bei ihnen als geduldeten Ausländern der Annahme einer Betroffenheit des Schutzbereichs entgegen, nicht durch.

c. Die Straffälligkeit eines ausschließlich geduldeten Ausländers führt auch im Rahmen der nach Art. 8 Abs. 2 EMRK vorzunehmenden Abwägung nicht automatisch zum Vorrang der Interessen des Vertragsstaates an der Einwanderungskontrolle. Vielmehr hat auch in diesen Fällen eine Abwägung der gesamten Umstände des Einzelfalles unter Beachtung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit zu erfolgen. Insoweit kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden. Eine derartige Gesamtbetrachtung der Umstände des Einzelfalles ist auch im vorliegenden Verfahren erforderlich. Hierzu bedarf es zunächst der vom Verwaltungsgericht aufgeführten weiteren Ermittlungen.

4. Schließlich macht die Antragsgegnerin geltend, die Anerkennung der Antragsteller zu 1) und zu 2) als faktische Inländer widerspreche dem Gebot der Einheit der Rechtsordnung. Denn der Gesetzgeber habe in § 104 a AufenthG für die Personengruppe der langjährig geduldeten Ausländer eine Altfallregelung getroffen, die nur in Ausnahmefällen über Art. 8 EMRK unterlaufen werden dürfe. Ein solcher Ausnahmefall läge jedoch - wie ausgeführt - nicht vor.

Diese Rüge greift nicht durch. Es kann bereits nicht festgestellt werden, dass § 104 a AufenthG eine abschließende Regelung auch für geduldete Ausländer trifft, bei denen nach Art. 8 EMRK eine sog. "Verwurzelung" gegeben ist bzw. die als sog. "faktische Inländer" anzusehen sind. Vielmehr ist § 104 a AufenthG neben und unabhängig von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK anzuwenden (im Ergebnis ebenso: OVG Hamburg, Beschl. v. 3.3.2009, 2 Bs 22/09). Hierfür spricht zunächst der Wortlaut beider Vorschriften, der keinen Anhaltspunkt für eine systematische Verknüpfung der Regelungsbereiche bietet. Auch aus den Gesetzesmaterialien ergeben sich keine entsprechenden Hinweise. Im Gesetzentwurf (BT-Drs. 16/5065, S. 201) findet sich lediglich der Hinweis, dass mit der gesetzlichen Altfallregelung des § 104 a AufenthG "dem Bedürfnis der seit Jahren im Bundesgebiet geduldeten und hier integrierten Ausländer nach einer dauerhaften Perspektive in Deutschland Rechnung getragen" werde. Eine Bezugnahme auf Art. 8 EMRK erfolgt nicht. Auch die systematische Stellung des § 104a AufenthG lässt einen derartigen Schluss nicht zu. Denn die nach § 104 a AufenthG erteilte Aufenthaltserlaubnis ist bzw. gilt als Aufenthaltserlaubnis aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen (§ 104 a Abs. 1 Sätze 2 und 3 AufenthG). Sofern durch eine Abschiebung Art. 8 EMRK verletzt würde, folgt hieraus primär das Bestehen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Erst unter den Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG kann hieraus ein Aufenthaltsrecht erwachsen. Insofern dienen § 104 a AufenthG und § 60 Abs. 5 AufenthG unterschiedlichen Zielrichtungen.

Da bereits die von der Antragsgegnerin angenommene Verknüpfung zwischen der Regelung des § 104 a AufenthG und der Feststellung eines Abschiebungsverbotes im Hinblick auf Art. 8 EMRK nicht angenommen werden kann, ist auch der Ansicht der Antragstellerin, nur in Ausnahmefällen sei hiervon abzuweichen, nicht zu folgen.

5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 3 Nr. 1, 52 Abs. 1 und 2, GKG in Verbindung mit der Empfehlung im Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2004 (NVwZ 2004, 1327 ff.), Abschnitte 1.1.3, 1.5, 8.1 und 8.3. Danach ist für ein Verfahren, in dem es um die Sicherung des Aufenthalts schon vor Erteilung eines hauptsächlich erstrebten Aufenthaltstitels geht, ein Streitwert von 5.000,-- Euro zugrunde zu legen. Dieser Betrag ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu halbieren. So liegt es hinsichtlich der Antragsteller zu 1) und zu 2), die im Verfahren 2 K 3316/08 die Erteilung eines Aufenthaltstitels anstreben. Die Antragsstellerin zu 3), die nicht Klägerin im Verfahren 2 K 3316/08 ist, begehrt hingegen lediglich die Aussetzung ihrer Abschiebung bis zum Abschluss des Verfahrens 2 K 3316/08. Insoweit ist der Streitwert mit einem Viertel des Auffangwerts und somit mit 1.250,-- Euro anzusetzen. Die so ermittelten Einzelwerte sind für die Ermittlung des (Gesamt-) Streitwerts zu addieren.

Ende der Entscheidung

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