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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hamburgisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 21.07.2006
Aktenzeichen: 3 Bs 335/05
Rechtsgebiete: AufenthG


Vorschriften:

AufenthG § 15 a
Die Regelung in § 15 a Abs. 6 AufenthG ist dahin zu verstehen, dass der Ausländer (und nicht die Ausländerbehörde) die materielle Beweislast dafür trägt, dass seine Einreise in das Bundesgebiet vor dem 1. Januar 2005 erfolgt ist.
HAMBURGISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT Beschluss

3 Bs 335/05

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Hamburgische Oberverwaltungsgericht, 3. Senat, durch die Richter Korth, Niemeyer und Larsen am 21. Juli 2006 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 10. Oktober 2005 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren sowie - insoweit unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts - für das Verfahren erster Instanz auf jeweils 1.250,-- Euro festgesetzt.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Die mit dem Beschwerdevorbringen dargelegten Gründe, die das Beschwerdegericht nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO ausschließlich zu prüfen hat, rechtfertigen es nicht, den Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern.

1. a) Das Verwaltungsgericht hat den Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage (9 K 2721/05) anzuordnen, abgelehnt, da die Verteilungsentscheidung der Antragsgegnerin vom 30. August 2005 rechtmäßig sei. Es hat im Wesentlichen ausgeführt: § 15 a AufenthG sei im vorliegenden Fall anwendbar. Die Ausschlussregelung in § 15 a Abs. 6 AufenthG sei nicht einschlägig, da es keinen Nachweis dafür gebe, dass der Antragsteller vor dem 1. Januar 2005 in das Bundesgebiet eingereist sei. Die Bordkarte für den Flug Caracas - Madrid könne allenfalls das Datum seiner Einreise nach Spanien, nicht aber seiner Einreise in das Bundesgebiet belegen. Die Eidesstattliche Versicherung des Freundes vom 23. August 2005 sei ebenfalls kein Nachweis im Sinne des § 15 a Abs. 6 AufenthG; diese Erklärung unterliege Zweifeln, die sich aus dem Verhalten des Antragstellers ergäben. So sei es nicht glaubhaft, dass er am 5. Januar 2005 seines Passes und seiner Barschaft bestohlen oder beraubt worden sei, da er diesbezüglich keine Anzeige erstattet und auch nicht um Hilfe bei seiner Botschaft oder seinem Konsulat für die Ausstellung eines neuen Passes nachgesucht habe, was umso näher gelegen hätte, wenn er tatsächlich kurzfristig nach Venezuela habe zurückkehren wollen. Auch lasse die Tatsache, dass er sich erst Ende August 2005 bei der Antragsgegnerin gemeldet habe, obwohl sein behaupteter erlaubnisfreier Aufenthalt dann schon längst geendet hätte, durchgreifende Zweifel an der Wahrhaftigkeit seiner Angaben zu. Angesichts all dessen sei von einer Einreise des Antragstellers in das Bundesgebiet ab dem 1. Januar 2005 auszugehen.

Seine Einreise sei auch unerlaubt gewesen, weil er tatsächlich keinen touristischen Kurzaufenthalt im Bundesgebiet angestrebt, sondern, wie sein weiteres illegales Verbleiben im Bundesgebiet und seine Angabe in Ziff. 23 des Antragsvordrucks für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ("Beabsichtigte Dauer": "dauerhaft") bewiesen, von Anfang an einen Daueraufenthalt beabsichtigt habe.

Von seiner Verteilung nach Chemnitz sei auch nicht aus humanitären Gründen abzusehen, da seine medizinische Behandlung dort ebenso gewährleistet sei wie der Erhalt der notwendigen Medikamente.

b) Die Beschwerde trägt dagegen vor, der Antragsteller sei tatsächlich am 28. Dezember 2004 in das Bundesgebiet eingereist, wie sich aus der Eidesstattlichen Versicherung seines Freundes und aus der Bordkarte ergebe. Die Zweifel des Verwaltungsgerichts an der Einreise des Antragstellers vor dem 1. Januar 2005 seien unbegründet. In diesem Zusammenhang sei es unerheblich, ob die Angaben des Antragstellers zur Dauer seines geplanten Aufenthalts glaubwürdig seien oder nicht; die Absicht eines Daueraufenthalts erkläre nicht, weshalb die Eidesstattliche Versicherung des Herrn B. falsch sein solle. Abzustellen sei ausschließlich darauf, ob die Einreise vor dem 1. Januar 2005 nachgewiesen sei. Insoweit habe der Antragsteller objektive Nachweise vorgelegt, welche "von objektiven neutralen Stellen" stammten. Das Verwaltungsgericht versuche, durch subjektive Zweifel einen mit objektiven Beweismitteln geführten Tatsachenvortag zu widerlegen.

Nur vorsorglich sei darauf hinzuweisen, dass der Antragsteller in Chemnitz nicht die nach dem Attest des Dr. B. vom 30. August 2005 erforderliche medizinische Versorgung durch Behandlung von Spezialisten erhalte; mangelhafte Ernährung verhindere die Einnahme der lebenserhaltenden Medikamente. Zuletzt habe sich der Zustand des Antragstellers drastisch verschlechtert, da er in Chemnitz nur Medikamente erhalten habe, die erforderlichen Untersuchungen dort aber nicht erfolgt seien, wie sich aus einem neuen Attest des Dr. B. vom 30. Juni 2006 ergebe. "Offensichtlich" stünden nur in Hamburg die erforderlichen Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Nach dem letztgenannten Attest brauche er zudem noch eine Behandlung wegen Depression, für die in Hamburg ein spanischsprechender Arzt zur Verfügung stehe.

2. Die Beschwerdegründe begründen keine durchgreifenden Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses. Angesichts dessen muss die Beschwerde ohne Erfolg bleiben, ohne dass es auf die in der Beschwerdeschrift formulierten, im Wortlaut gegenüber dem erstinstanzlich gestellten Antrag abweichenden Anträge im einzelnen ankäme. Sofern sie, wovon das Beschwerdegericht jedoch nicht ausgeht, in der Sache über das erstinstanzlich anhängig gemachte vorläufige Rechtsschutzbegehren hinausgehen würden oder auf ein anderes Rechtsschutzziel gerichtet wären, wären sie insoweit allerdings unzulässig, da eine Erweiterung oder Auswechslung des Prozessstoffs in der Beschwerdeinstanz nicht im Einklang stünde mit der vom Gesetzgeber verfolgten Zielsetzung, das Beschwerdeverfahren grundsätzlich auf die Prüfung der gegen die erstinstanzliche Entscheidung vorgebrachten Gründe zu beschränken. Dementsprechend ist eine Änderung des Streitgegenstandes im Beschwerdeverfahren jedenfalls dann nicht zulässig, wenn das Beschwerdevorbringen bezüglich des Streitgegenstandes, über den das Verwaltungsgericht entschieden hat, - wie hier - ohne Erfolg bleibt bzw. nicht zu einer umfassenden eigenen Sachprüfung durch das Beschwerdegericht führt (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 22.8.2003, NVwZ-RR 2004 S. 621).

a) Soweit die Beschwerde darlegt, entgegen den Zweifeln des Verwaltungsgerichts sei von einer nachgewiesenen Einreise des Antragstellers in das Bundesgebiet vor dem 1. Januar 2005 auszugehen, so dass § 15 a AufenthG nach der Ausschlussregelung in Absatz 6 nicht anwendbar sei, vermag sich das Beschwerdegericht dem nicht anzuschließen.

Die Regelung in § 15 a Abs. 6 AufenthG ist dahin zu verstehen, dass der Ausländer (und nicht die Ausländerbehörde) die materielle Beweislast dafür trägt, dass seine Einreise in das Bundesgebiet vor dem 1. Januar 2005 erfolgt ist. Kann dieser "Nachweis" nicht erbracht werden und bleiben somit Zweifel, ob der Ausländer - zuletzt - wirklich noch vor dem 1. Januar 2005 in das Bundesgebiet eingereist ist, so bleibt es bei der Anwendbarkeit von § 15 a Abs. 1 - 5 AufenthG. Dafür spricht nicht nur der Wortlaut des § 15 a Abs. 6 AufenthG mit der Hinzufügung und Hervorhebung des Wortes "nachweislich", sondern auch der Gesichtspunkt der Praktikabilität: Andernfalls wäre § 15 a AufenthG im Übergangszeitraum weitgehend wirkungslos, da - wie auch der vorliegende Fall zeigt - es der Ausländerbehörde nur selten möglich sein dürfte, den genauen Einreisezeitpunkt eines Ausländers nachzuweisen, der mangels Einreisedokumenten oder sonstiger Belege diesen Nachweis selbst nicht führen kann oder will.

Dass der Antragsteller den somit ihm obliegenden Nachweis der Einreise vor dem 1. Januar 2005 erbringen wird, ist nicht mit hinreichend hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Auch wenn es nicht von vornherein ausgeschlossen ist, dass das Verwaltungsgericht im Hauptsacheverfahren durch eine zeugenschaftliche Vernehmung des Herrn B. noch zu der Überzeugung gelangen könnte, dass der Antragsteller tatsächlich am 28. Dezember 2004 in Hamburg angekommen ist, so erscheint eine solche Entwicklung nach derzeit erkennbarer Sachlage doch als wenig wahrscheinlich. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass die Darstellung des Antragstellers über die Umstände seiner Einreise in das Bundesgebiet und des sich daran anschließenden Aufenthalts vor dem Hintergrund seines sonstigen Verhaltens insgesamt nicht stimmig ist und an der Wahrhaftigkeit dieser Darstellung daher erhebliche Zweifel bestehen. Die Beschwerde vermag diese Zweifel nicht mit dem Argument zu erschüttern, mögliche Bedenken hinsichtlich der Kurzfristigkeit des ursprünglich vom Antragsteller geplanten Aufenthalts ließen keinerlei Rückschlüsse zu in Bezug auf die Wahrhaftigkeit seiner Angaben zum Einreisedatum: Wenn eine Sachverhaltsdarstellung in ihrer Gesamtheit nicht überzeugt, lässt sich dies nicht dadurch "heilen", dass man die fehlende Überzeugungskraft hinsichtlich einzelner Aspekte (jedenfalls tendenziell) einräumt, aber deren Zusammenhang mit anderen entscheidungserheblichen Gesichtspunkten in Abrede stellt.

Davon abgesehen erscheint die Darstellung des Antragstellers in der Anhörung vom 30. August 2005, er habe sich - offenbar mit dem Ziel Hamburg - eine Woche in Europa aufhalten wollen, und er sei zu diesem Zweck von Caracas nach Madrid geflogen, um von dort aus gleich nach seiner Ankunft am 27. Dezember 2004 etwa 24 Stunden lang mit der Bahn nach Hamburg zu reisen, nur schwerlich nachvollziehbar: Wer sich (erst recht für nur etwa 1 Woche) von Caracas nach Hamburg begeben will, wird vernünftigerweise eine Flugverbindung nach Hamburg über einen europäischen Verkehrsknotenpunkt oder eine Verbindung zu einem anderen deutschen Flughafen nutzen, anstatt nur bis zu einem Ort zu fliegen, der so weit von dem eigentlichen Ziel Hamburg entfernt ist. Im Übrigen dürfte auch seine in jener Anhörung gemachte Angabe, es sei nach seiner Ankunft in Paris "vom gleichen Bahnhof ... nach Hamburg" gegangen, nicht zutreffen: Züge aus Madrid kommen in Paris am Bahnhof Austerlitz oder Montparnasse an, Züge in Richtung Hamburg fahren dagegen vom Bahnhof Paris-Nord oder Paris-Est ab (siehe z.B. die Verbindungsauskunft unter www.bahn.de).

b) Soweit der Antragsteller geltend macht, er müsse nach Hamburg zurück und dürfe nicht in Chemnitz bleiben, weil dort die für ihn erforderliche medizinische Behandlung nicht geboten werde, führt auch dies nicht zum Erfolg der Beschwerde.

Zwar erscheint es vom rechtlichen Ansatz her gemäß § 15 a Abs. 1 Satz 6 AufenthG als möglich, dass eine schwere, nur an bestimmten Orten behandelbare Erkrankung als zwingender Grund anzusehen ist, der - sofern er vor Veranlassung der Verteilung nachgewiesen wird - einer Verteilung an einen bestimmten Ort entgegensteht und dem bei der Verteilung Rechnung zu tragen ist (vgl. Wenger in: Storr u.a., Zuwanderungsgesetz, 2005, § 15 a Rdnr. 4). Zum Zeitpunkt der Verteilungsentscheidung am 30. August 2005 gab es aber keine hinreichend gewichtigen Anhaltspunkte dafür, dass eine ausreichende Behandlung des Antragstellers in Chemnitz nicht möglich wäre. Die Atteste des Dr. B. vom 22. August 2005 und vom 30. August 2005 haben einen solchen Schluss nicht nahegelegt; soweit in dem Attest vom 30. August 2005 auf die Notwendigkeit einer regelmäßigen Einnahme der antiretroviralen Medikamente hingewiesen worden ist, hat sich daraus nicht ergeben, dass diese Medikamente nicht auch in Chemnitz eingenommen werden könnten.

Soweit der Antragsteller zuletzt unter Bezugnahme auf das neueste Attest des Dr. B. vom 30. Juni 2006 geltend gemacht hat, sein gesundheitlicher Zustand habe sich drastisch verschlechtert, weil in Chemnitz die notwendigen Untersuchungen nicht durchgeführt worden seien, führt auch dies nicht zur Rechtswidrigkeit der Verteilungsentscheidung der Antragsgegnerin vom 30. August 2005. Dieser Umstand mag allerdings Veranlassung dazu bieten, den Antragsteller innerhalb des Freistaats Sachsen an einen anderen Ort weiterzuverteilen, an dem die für ihn notwendige Behandlung besser gewährleistet ist (§ 15 a Abs. 4 Satz 4 AufenthG). Dass dies in ganz Sachsen ausgeschlossen und nur in Hamburg möglich wäre, ist weder (substantiiert) vorgetragen noch sonst ersichtlich; wäre dies doch der Fall, könnte dieser Umstand allerdings zur Grundlage eines dann neu zu stellenden Antrags nach § 15 a Abs. 5 AufenthG gemacht werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 1, 63 Abs. 3 Satz 1 GKG; angemessen ist für beide Instanzen ein Streitwert in Höhe der Hälfte des für das Hauptsacheverfahren anzusetzenden Streitwerts (vgl. dazu den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 5.9.2005 über die vorläufige Festsetzung des Streitwerts im Klagverfahren 9 K 2721/05).

Ende der Entscheidung

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