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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hamburgisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 21.01.2005
Aktenzeichen: 3 Bs 375/03
Rechtsgebiete: AuslG 1990, AufenthG


Vorschriften:

AuslG 1990 § 43
AuslG 1990 § 70
AufenthG § 102
1. Greift der Ausländer einen ihn belastenden, im Ermessen der Ausländerbehörde stehenden Verwaltungsakt (hier: Widerruf der Aufenthaltserlaubnis wegen Passlosigkeit gemäß § 43 Abs. 1 Nr. 1 AuslG 1990) mit der Anfechtungsklage an, so kommt es hinsichtlich der Sach- und Rechtslage auf den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids an. Ist der Widerspruchsbescheid noch vor dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes erlassen worden, so bleiben das Ausländergesetz 1990 und die dazu erlassene Allgemeine Verwaltungsvorschrift (BAnz v. 6.10.2000) maßgeblich.

2. Weist der Ausländer entgegen seiner Mitwirkungspflicht nach § 70 Abs. 1 und 2 AuslG 1990 nicht auf einen für ihn günstigen Umstand hin, der allein seinen Lebensbereich betrifft (hier: Bemühungen um die Beschaffung eines Passes), und kann die Ausländerbehörde diesen Umstand mangels Kenntnis nicht in ihre Ermessensbetätigung einstellen, so ist die getroffene Ermessensentscheidung nicht deswegen rechtsfehlerhaft.


3 Bs 375/03

Beschluss

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Hamburgische Oberverwaltungsgericht, 3. Senat, durch die Richter Korth, Kollak und Niemeyer am 21. Januar 2005 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 15. Juli 2003 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.000,-- Euro festgesetzt.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Die mit dem Beschwerdevorbringen dargelegten Gründe, die das Beschwerdegericht nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO ausschließlich zu prüfen hat, rechtfertigen es nicht, den Beschluss des Verwaltungsgerichts nach Maßgabe des mit der Beschwerde gestellten Antrages zu ändern.

1. Der Antragsteller hat allerdings nach wie vor ein Rechtsschutzbedürfnis für die Auf-rechterhaltung der Beschwerde, da er durch den von der Antragsgegnerin verfügten Widerruf seiner unbefristeten Aufenthaltserlaubnis weiterhin belastet wird. Nach § 102 Abs. 1 Satz 1 des am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) bleiben nämlich die vor diesem Zeitpunkt getroffenen "sonstigen" ausländerrechtlichen Maßnahmen - im Gesetz sind Beispiele ("insbesondere") für belastende und begünstigende Maßnahmen genannt - wirksam. Unter den "sonstigen" Maßnahmen sind alle diejenigen zu verstehen, die nicht in der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung nach dem AuslG 1990 bestanden haben, da jene Fälle durch die Übergangsbestimmung des § 101 AufenthG erfasst werden (vgl. Funke-Kaiser in GK-AufenthG, § 102 Rdnr. 1). Dementsprechend gehört auch der Widerruf einer nach § 24 AuslG 1990 erteilten unbefristeten Aufenthaltserlaubnis zu diesen "sonstigen" Maßnahmen; dass der Widerruf einer Aufenthaltsgenehmigung in § 102 Abs. 1 AuslG nicht ausdrücklich genannt ist, steht dem nicht entgegen, da die dortige Aufzählung von Maßnahmen nicht abschließend ist ("insbesondere"; vgl. auch die Vorläufigen Anwendungshinweise zum Aufenthaltsgesetz des Bundesministeriums des Innern vom 22.12.2004, Nr. 102.1.4). Voraussetzung für die Fortgeltung der Maßnahme ist im Übrigen nicht ihre Unanfechtbarkeit, sondern lediglich ihre Wirksamkeit (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., Rdnr. 2).

2. Maßgeblich für die Prüfung der Beschwerde und der beim Verwaltungsgericht im Hauptsacheverfahren anhängigen Klage (5 K 1793/03) sind nach wie vor das Ausländergesetz 1990 und die dazu ergangene Allgemeine Verwaltungsvorschrift (BAnz vom 6.10.2000). Soweit - wie hier in den Fällen des Widerrufs einer nach dem AuslG 1990 erteilten Aufenthaltsgenehmigung - im AufenthG keine besondere Übergangsvorschrift besteht, werden anhängige verwaltungsgerichtliche Verfahren fortgeführt, wobei sich nach Maßgabe des jeweils einschlägigen formellen und materiellen Rechts entscheidet, ob hinsichtlich der Sach- und Rechtslage auf den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides oder auf den Zeitpunkt der jeweils anstehenden gerichtlichen Entscheidung abzustellen ist (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O.). Wenn ein Ausländer, wie im vorliegenden Fall der Antragsteller, einen ihn belastenden Verwaltungsakt wie den Widerruf einer ihm zuvor erteilten Aufenthaltsgenehmigung mit der Anfechtungsklage angreift, bemisst sich die Rechtmäßigkeit des Widerrufs nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2003, BVerwGE Bd. 117 S. 380, 388; Urt. v. 28.5.1991, NVwZ 1992 S. 177), hier also des Widerspruchsbescheides vom 2. April 2003.

3. Aus den Beschwerdegründen ergibt sich nicht, dass der von der Antragsgegnerin gegenüber dem Antragsteller nach § 43 Abs. 1 Nr. 1 AuslG 1990 verfügte Widerruf nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage vom 2. April 2003 rechtswidrig wäre.

a) Soweit der Antragsteller bezweifelt, dass die Antragsgegnerin das ihr nach § 43 Abs. 1 Nr. 1 AuslG eröffnete Widerrufsermessen rechtmäßig ausgeübt habe, greift dies nicht durch.

aa) Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass der Antragsteller entgegen der Einschätzung der Antragsgegnerin doch die ihm zumutbaren Bemühungen unternommen hätte, um nach dem (am 23. Januar 1996 gemeldeten) Verlust seines letzten gambischen Passes einen neuen Pass zu erlangen.

Soweit er in diesem Zusammenhang auf die Schreiben der gambischen Botschaft (Brüssel) vom 7. Mai 2003 und vom 31. März 2003 sowie auf seine weiteren, im Laufe des vorliegenden Beschwerdeverfahrens unternommenen Bemühungen verweist, kann dies die Rechtmäßigkeit des Widerrufs nicht (mehr) berühren, da sich diese, wie oben bereits ausgeführt, nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides vom 2. April 2003 richtet, und zu jenem Zeitpunkt für die Antragsgegnerin nicht erkennbar war, dass der Antragsteller im Laufe der davor liegenden 7 Jahre überhaupt irgendwelche Versuche unternommen hätte, um wieder einen Pass zu bekommen. Nach dem Beschwerdevorbringen ist vielmehr davon auszugehen, dass der Antragsteller erstmals mit einem an die gambische Botschaft gerichteten Schreiben vom 24. März 2003 (vgl. das diesbezügliche Antwortschreiben der Botschaft vom 31.3.2003) überhaupt versucht hat, in seiner Passangelegenheit etwas zu unternehmen. Auch wenn dieser erste Versuch objektiv noch vor dem Erlass des Widerspruchsbescheides vom 2. April 2003 erfolgt sein dürfte - die später gemachten Schrit-te des Antragstellers bleiben von vornherein außer Betracht, weil sie objektiv erst nach dem 2. April 2003 stattgefunden haben können - führt auch dies nicht zu einer Fehlerhaftigkeit (etwa wegen unvollständiger Aufklärung des Sachverhalts) der von der Antragsgegnerin getroffenen Ermessensentscheidung. Dies gilt schon deshalb, weil die Antragsgegnerin davon nichts wusste, und angesichts des Verlaufs der Entwicklung ab Januar 1996 auch keine Anhaltspunkte für eine entsprechende Verhaltensänderung des Antragstellers vorlagen; das seiner Erscheinung nach abschließend begründete Widerspruchsschreiben vom 10. März 2003 enthielt insoweit ebenfalls keinen Hinweis. Weist jedoch ein Ausländer entgegen seiner Mitwirkungspflicht (vgl. § 70 Abs. 1 und 2 AuslG 1990) nicht auf einen Umstand hin, der allein seinen Lebensbereich betrifft - wie etwa die Tatsache, dass er sich nun, im Gegensatz zu den vergangenen Jahren, doch um die Beschaffung eines Passes bemühen wolle bzw. erstmals darum bemüht habe -, und kann die Ausländerbehörde diesen Umstand somit mangels Kenntnis nicht in ihre Ermessensabwägung einstellen, so ist die Ermessensent-scheidung nicht deswegen rechtsfehlerhaft (vgl. BVerwG, Beschl. v. 10.5.1985, Buchholz 402.24 § 10 AuslG 1965 Nr. 108; Funke-Kaiser in GK-AuslR, § 70 AuslG, Rdnr. 56).

bb) Soweit der Antragsteller rügt, angesichts der o.g. Schreiben der gambischen Botschaft sei die Antragsgegnerin (in ihrem Widerspruchsbescheid, vgl. dort S. 4/5) von falschen Tatsachen ausgegangen, indem sie angenommen habe, er könne sich relativ problemlos "in der gambischen Botschaft in Brüssel einen Nationalpass beschaffen", trifft dies nicht zu. Die Antragsgegnerin hat in ihrem Widerspruchsbescheid derartiges nicht angenommen. Tatsächlich hat sie dort ausgeführt: Es sei weder vorgetragen noch erkennbar, "dass ein Bemühen ... zur Wiedererlangung seines Passes auf erhebliche Schwierigkeiten seitens der zuständigen Behörden getroffen wäre. Vielmehr wäre dies - sogar über dritte Personen in Gambia oder aber bei der Botschaft in Brüssel (s.o.) - relativ problemlos möglich gewesen, was im Übrigen durch die im Jahre 1995 erfolgte Passbeschaffung dargetan ist." Damit hat die Antragsgegnerin nicht behauptet, der Antragsteller könne - aktuell - in der gambischen Botschaft in Brüssel einen Pass "erlangen". Vielmehr hat sie angenommen, dass der Antragsteller in den bis dahin vergangenen Jahren die Möglichkeit gehabt hätte, sich - u.a. durch den Versuch, in der gambischen Botschaft in Brüssel einen Pass zu beantragen, vgl. dazu die entsprechende Mitteilung der Deutschen Botschaft in Dakar an die Antragsgegnerin vom 29. Mai 2000 - um die Erlangung eines neuen Passes zu bemühen, ohne dass vorgetragen oder erkennbar gewesen sei, dass er damit - seinerzeit - auf erhebliche Schwierigkeiten seitens der zuständigen Behörden gestoßen wäre. Die Rich-tigkeit dieser Erwägung (nach Maßgabe der am 2.4.2003 vorliegenden Sach- und Rechts-lage) wird durch die mit der Beschwerdebegründung eingereichten Schreiben der gambi-schen Botschaft vom 7. Mai 2003 und vom 31. März 2003 nicht in Frage gestellt.

cc) Soweit der Antragsteller rügt, die Antragsgegnerin habe - auch bei der Anwendung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift, Nr. 43.1.1.1 - hinsichtlich der Zumutbarkeit der von ihm zu verlangenden Bemühungen zur Beschaffung eines neuen Passes seine (für sein in der Vergangenheit nachlässiges Verhalten ursächliche) Drogenabhängigkeit nicht hinreichend berücksichtigt, greift auch dies nicht durch. Die Antragsgegnerin hatte, auch wenn sie angesichts der im Laufe der Zeit bei ihr eingegangenen Strafurteile im Prinzip von der Drogenabhängigkeit des Antragstellers gewusst haben dürfte, keine Anhaltspunkte dafür, dass dieser deswegen nicht in der Lage sein könnte, sich um die Beschaffung eines neuen Passes zu bemühen; derartiges hat der Antragsteller ihr gegenüber auch selbst nicht erklärt. Im Übrigen erschiene es auch vom rechtlichen Ansatz her als zweifelhaft, einen Ausländer im Rahmen des Widerrufsermessens wegen seiner - zudem mit entsprechenden Straftaten einhergehenden - Drogensucht in dem Sinne zu privilegieren, dass er sich um die Beschaffung eines neuen Passes überhaupt nicht mehr bemühen müsste.

Soweit der Antragsteller in diesem Zusammenhang noch vorträgt, die Antragsgegnerin habe auch seine "derzeitigen Bemühungen um eine Lösung aus dieser Abhängigkeit und Rehabilitation" berücksichtigen müssen, geht dieser Einwand schon deswegen fehl, weil die Antragsgegnerin bei der Abfassung ihres Widerspruchsbescheides vom 2. April 2003 seine "derzeitigen" (Beschwerdeschrift vom 29.7.2003) Bemühungen schon in zeitlicher Hinsicht nicht in ihre Entscheidung einbeziehen konnte.

dd) Der Vortrag des Antragstellers, die Antragsgegnerin habe bei ihrer Ermessensent-scheidung nicht berücksichtigt, dass er sein halbes Leben in Deutschland verbracht und dass er einen sechzehnjährigen Sohn habe, den er in den ersten acht Jahren aufgezogen habe und zu dem regelmäßiger Kontakt bestehe, während er (der Antragsteller) in Gambia keine vergleichbaren Bindungen habe, führt ebenfalls nicht weiter. Die Antragsgegnerin hat diese Umstände, soweit sie ihr bis dahin vorgetragen worden oder sonst bekannt waren, in ihrem Widerspruchsbescheid berücksichtigt und zutreffend gewürdigt (s. dort S. 5). Das Vorbringen des Antragstellers bestätigt im Übrigen gerade, dass er in den letzten acht Jahren keine familiäre Lebensgemeinschaft mit dem Sohn mehr geführt hat.

b) Soweit der Antragsteller schließlich meint, angesichts seiner persönlichen Situation bestehe hinsichtlich des Widerrufs seiner Aufenthaltserlaubnis jedenfalls kein seine Interessen überwiegendes öffentliches Sofortvollzugsinteresse, führt auch dies nicht zum Erfolg der Beschwerde. Die Antragsgegnerin hat die (im Ergebnis geringen) Integrationsleistungen des Antragstellers in dem Widerspruchsbescheid (S. 5) zutreffend gewürdigt. Der dort (S. 6) für die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Widerrufs gegebenen - den Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO genügenden und inhaltlich tragfähigen - Begründung tritt die Beschwerde nicht substantiiert entgegen.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG (a.F.). Der Beschwerdesenat hält im Interesse einer einheitlichen und vorhersehbaren Streitwertbemessung nicht länger an seiner Praxis fest, den Streitwert in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes regelmäßig nur mit einem Viertel des für die Hauptsache anzusetzenden Werts zu bemessen, wenn vorläufiger Rechtsschutz nach dem Abschluss des Widerspruchsverfahrens allein noch für das Klagverfahren begehrt wird (vgl. Beschl. v. 29.4.2002 - 3 So 69/01). Die anderen Senate des Beschwerdegerichts haben sich dieser Abstufung nicht angeschlossen, sondern setzen den Streitwert auch bei bereits beendetem Widerspruchsverfahren in der Regel mit der Hälfte des für das Hauptsacheverfahren anzunehmenden Streitwerts an. Eine solche Pauschalierung entspricht den in den Streitwertkatalogen 1996 und nunmehr 2004 erarbeiteten Empfehlungen (Abschnitte I.7 bzw. 1.5). Die jeweilige Zeitdimension des erstrebten vorläufigen Rechtsschutzes, an der der Beschwerdesenat die von ihm befürwortete Abstufung des Streitwerts ausgerichtet hatte, gibt den Maßstab für die Bemessung des Streitwerts in qualitativer und quantitativer Hinsicht nicht so eindeutig vor, dass die empfohlene Pauschalierung als zu grob angesehen werden müsste.

Ende der Entscheidung

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